ICH HABE VIELE LEBEN GELEBT

 

ERINNERUNGEN

 

 

 

INHALT

 

 

Vorbemerkung

Einleitung

Kindheit und Jugend

Studium

Lebenswende

Neue Arbeit und Begegnungen

Der erste Weltkrieg

Zusammenbruch und Neuordnung

Inflation

1933

Emigration in die Heimat

Nachkriegszeit

Der Lebensabend

 

 

 

 

VORBEMERKUNG

 

 

Wenn ich meinen Erinnerungen einige wenige Worte voraus­schicke, so geschieht es, weil ich die Lage, in der sie geschrieben worden sind, so gut wie möglich klären möchte. Als ich vom Leo Baeck Institut, New York, den Auftrag zu dieser Arbeit erhielt, ahnte ich noch nicht die Bedingungen, unter denen ich sie würde schreiben müssen. Zwar begannen damals meine Augen schon nicht mehr klar zu sehen; aber ich begriff zu jener Zeit noch nicht, was es bedeutet, fast ganz ohne Augenlicht zu schreiben; keine Seite, ja, keinen Satz überprüfen und den folgenden an­reihen zu können. Schon die erste und selbstverständliche Be­dingung, bei der Arbeit allein zu sein, wurde mir sehr bald ge­nommen, und das Diktieren war mir in meiner bisherigen Ar­beitsweise völlig fremd. Und das Vorlesen bot mir bei meiner rein visuellen Anlage eine so unvollkommene Stütze, wie es sich ein Mensch, der Augen hat, ganz unmöglich vorstellen kann. So verlor ich manche Jahre. Das Geschriebene blieb so unvollständig, daß ich die Leser bitten muß, das hier Aufgezeichnete mit Nach­sicht und als ein Fragment aufzunehmen.

           

 

EINLEITUNG

 

Ein Zeichen sind wir, deutungslos,

Schmerzlos sind wir und haben fast

Die Sprache in der Fremde verloren.

Hölderlin, Mnemosyne

 

 

In einer Welt, in der wir „ein Zeichen”, „deutungslos” geworden sind, in der jede geistige Äußerung im Leeren hängt, ist das eigene Leben schwerer noch als sonst zu fassen. Und da zeigt sich zunächst das Sonderbare, daß in unserer von Schmerzen heimgesuchten Zeit auch das Wort „schmerzlos” in einer neuen Weise wahr geworden ist. Es ist wahr als das „Erkalten der Liebe”, das durch all das Leblose und Kalte, das uns umgibt, und nach einer Abstumpfung durch Qualen ohnegleichen unser Schicksal geworden ist.

Eine Geschichte des eigenen Lebens zu schreiben ist aber auch schon darum schwer, weil sie nicht wie die eines anderen Lebens eine ruhig geschaute, sondern eine selbstgelebte ist, in der sich die Wahrheitsfrage anders und weit schwieriger stellt. Sie betrifft vor allem die Auswahl dessen, was an Selbstgelebtem und Erfah­renem den Wert des Aussagbaren hat.

Eine große Welt von Worten und Werten ist seit meiner Jugend versunken und hat nicht nur eine ganze Sprachwelt, sondern auch eine ganze Epoche mit sich gerissen. Aber gerade das Plan– und Deutungslose in meinem Leben läßt vielleicht manches von dem Ungeheuren unserer Zeit sichtbar werden. Das eine wissen wir ja alle: daß wir selbst die uns angewiesene Sphäre überschritten, den Kern unserer eigenen Substanz gesprengt haben und in den Welt­raum vorgestoßen sind. Dies wird aber erst dadurch zu einem letzten Problem, daß all dies durch Kreaturen geschehen ist, die mit einem Wort des Buches Hiob „vor einem Augenaufschlag des Ewigen vergehen“.

Es bestände darum nicht einmal die Möglichkeit, ein so kurzes, vergängliches Leben aufzuzeichnen, wenn nicht jeder Augenauf­schlag des Ewigen eine andere Stunde träfe. Denn dadurch ist die­ses kurze, flüchtige Leben in die Geschichte eingeordnet und ent­hüllt sich in all seiner Winzigkeit als ein langes, an Stürmen und Wandlungen überreiches Menschenleben. Es haben nicht nur die beiden Weltkriege, der völlige Zerfall einer hohen Kultur, son­dern auch Naturwissenschaft und Philosophie die Basis für ein völlig gewandeltes Denken gegeben. In meinem eigenen Leben sind mir diese Wandlungen alles Bisherigen nicht einfach fortlau­fend, sondern in ständigen Stößen und Erschütterungen gesche­hen, in denen der Gedanke Spinozas bestätigt wurde, daß wir mehr als einmal im Leben sterben können.

Mein ganzes Leben von Kindheit an war ein Erwachen aus einem immer erneuten Traum, und bei jedem Erwachen war die Welt und war ich selbst eine andere geworden. Doch konnte ich nie so­gleich das Ganze und die Folgen der Wandlung überschauen und nicht sogleich zu dem anderen Menschen werden, den die neue Wirklichkeit von mir forderte. Erst später, oft nur um Augen­blicke, oft auch erst um Jahre später, ist mir die jeweilige Forde­rung der Stunde aufgegangen.

Rechtzeitigkeit ist immer Gnade. Man möchte diese seltene Gnade als einen Augenblick bezeichnen, in dem die Zeit sich aus unserem Leben zurückzieht und nur die reine Gegenwart übrigläßt, und je öfter dies geschieht, um so mehr ist ein Leben ein Leben ge­wesen. Es liegt aber auch etwas Furchtbares darin, als wäre alles bisher Gelebte falsch gewesen, als hätte man das ganze bisherige Leben mißverstanden. Zugleich aber erweitert es sich dadurch auch: Ich habe nicht nur ein Leben, ich habe viele Leben gelebt.

Schon allein dies, in zwei Jahrhunderten mit ganz verschiedenen Wirklichkeiten und Welterfassungen gelebt zu haben, ist schwer verständlich zu machen. Denn im vergangenen Jahrhundert war noch der weite Sternenhimmel, der so leuchtend über meiner Ju­gend stand, der „gestirnte Himmel über mir”. Jetzt ist es ein Sturm und Wirbel von Gestirnen, in dessen Mitte mein Dasein hinein­gerissen ist. Und nicht nur hineingerissen – ich weiß heute nach den neuen Erforschungen der Natur: ich selbst bin ein Wirbel ungestümer, ständig sich wandelnder Gestirne, bin ein Teil und ein Vorgang jenes Strudels, der überhaupt das Leben ist. Während ich hier ruhig sitze, ist alles Meine in steter Bewegung, die nur von meinen Sinnen nicht wahrgenommen werden kann. Es wäre ja nichts in meinem Leben so, wie es ist und gewesen ist, wenn ich nur ein fester, in sich abgeschlossener Körper und nicht ein mit allem Leben lebendig verbundenes Wesen wäre. Aber nicht nur von außen, auch von innen gesehen ist mein Leben weit mehr ein Strudel, ist eher eine mächtige Bewegung als ein ruhiges Behar­ren, so daß das Äußere ein Abbild des Inneren ist. Es gehören wohl auch beide so zusammen, wie ich es erst spät begriff, als mir das Wesen dessen, was Gestalt ist, klargeworden war.

Dieses heutige Grundwissen vom Lebendigen ändert alles in un­serem Sein wie in unserem Erkennen. Denn was kann uns diese neue Einsicht bedeuten? Sie gleicht, wenn wir sie bis zu ihrem äußersten Ursprung verfolgen, dem Erkennen jenes frühesten Menschen, der einst vom Baum der Erkenntnis gegessen hat und seitdem nie mehr zur Ruhe gekommen ist, dessen ganze Kultur und Zivilisation auf diesem frühesten Sündenfall ruht. Erst heute erfährt der Mensch in letzter Tiefe das Schicksal, das ihm aus die­ser Erkenntnis geworden ist: auf der einen Seite durch den Ver­such, eine bis in die Sterne erweiterte Welt zu erfassen, auf der anderen durch den ihm aus seinen eigenen Erfindungen drohen­den Untergang. Und durch beides haben wir wirklich „die Sprache in der Fremde verloren”. Es ist, als müsse ein neuer Adam kom­men, um alle Dinge neu zu benennen.

Diese Einsicht ist mir schon nach dem ersten Weltkrieg aus dem frühen Roman Hemingways „A farewell to arms” gekommen, in dem mit Leidenschaft das Wort gesprochen wird, daß durch die Furchtbarkeit des Kriegsgeschehens alle bisherigen Wörter ihre Geltung verloren haben, so daß wir mit Wahrheit nur noch Eigen­namen und Straßennamen aussprechen können. Und noch dunkler und schmerzlicher spricht nach dem noch furchtbareren zweiten Weltkrieg Hermann Broch das Versagen des Wortes aus:

 

 

„Wir starren sie an, sie starren uns an:

 die Augen, die ihren, die unsern,

 vermögen noch zu blicken

 und sich vorzulügen,

 daß sie die Menschengestalt sehen.

 Wehe, wenn einer spricht.”

 

Hier ist durch das letzte Grauen nicht nur die menschliche Sprache, sondern auch das in ihr geformte Bild des Menschen verlorenge­gangen. Und wie es sich in vielen anderen neuen Werken erweist, ist der Verlust der Gestalt und der Sprache eins.

Ich gehe, um einen ersten Überblick zu gewinnen, nicht vom An­fang meines Lebens, sondern vom heutigen Augenblick aus. Ich sitze frühmorgens an meinem Schreibtisch und überdenke die Zeit, dies ewige Todesgeheimnis des Lebens. So ist sie: ein Tag nach dem andern vergeht; eben war es noch Abend, nun ist es schon wieder Morgen geworden, und ich muß ein Blatt von dem großen Kalender auf meinem Schreibtisch abreißen, und in kaum mehr als einer Minute wird es wieder Abend sein. So geht es fort, und aus all diesen Minuten spinnt sich ein langes, ein unbegreifliches Men­schenleben zusammen, ein Leben, in dem sich alle Begriffe und Werte gewandelt haben, in dem das Selbstver­ständliche unbegreif­lich und das Unbegreifliche selbstverständlich geworden ist.

Ein Flugzeug saust krachend über mein Dach, wie es jetzt unauf­hörlich geschieht, aber vielleicht ist dies gerade das Düsenflugzeug, mit dem der Freund, der mich gestern besuchte, in fünf Stunden von Zürich nach New York zurückfliegt. Für mich ein Arbeitsvormittag.

Meine Gedanken gehen weit, weit zurück. Ich gehe am Ende des vergangenen Jahrhunderts als junges Mädchen mit meinem Vater den Quai entlang; etwas Unfaßliches, Häßliches rattert plötzlich an uns vorüber: die erste Droschke ohne Pferd. Und ich höre mei­nen Vater sagen: „Dies Fahrzeug wird sich niemals durchsetzen, weil es unorganisch ist.” Dagegen war es ihm eine Gewißheit, daß die Menschen noch fliegen lernen würden. Er starb zu früh, um noch ein Flugzeug und ein richtiges Auto zu erleben und zu sehen, daß beide sich durch dieselbe, unsere ganze Welt be­herrschende Kraft zu dem, was sie heute sind, entwickelt haben. Mein gütiger Vater glaubte auch fest, daß es nie mehr Kriege ge­ben könne, weil die seit dem Siebzigerkrieg erfundenen Waffen zu furchtbar seien, als daß die Menschen sie gegeneinander verwen­den könnten.

Ich glaube, man kann an diesen knappen Worten den äußeren Umfang meines Lebens ermessen. Was ihm an innerem Gesche­hen entspricht, ist sehr viel schwerer darzustellen. Zunächst ist gewiß, daß das Verhältnis zu Raum und Zeit für einen Menschen, der in fünf Stunden von Zürich nach New York fliegen kann, und für jenen, dem die erste Droschke ohne Pferd als ein Nie-zu-Ver­wirklichendes begegnete, ein vollkommen anderes geworden ist. Noch wesentlicher als das veränderte Raum-Zeit-Gefühl ist aber sicher die innere Verschiedenheit zwischen dem Menschen, der aus selbstverständlicher Menschlichkeit an keinen Krieg mehr glauben konnte, und dem, der zwei grauenvolle Weltkriege mit all ihren Folgen miterlebt hat. Schon mein Vater ist also von der heutigen Wirklichkeit aus kaum mehr zu verstehen. Damit erhebt sich zu­gleich die Frage: Bin ich selber noch die, die ich in meiner Kindheit war, oder bin ich in dieser veränderten Welt zu einer vollkommen anderen geworden? Sicher würde mich niemand, der mich in meiner Kindheit gekannt hat, heute als dieselbe wiedererkennen. Einzig ich selbst erkenne mich in jeder meiner Lebensgestalten, wenn auch durchaus verwandelt, wieder.

 

 

KINDHEIT UND JUGEND

 

 

Ich bin in einer der schönsten Städte Deutschlands, in Hamburg, nicht lange nach dem Ende des Siebzigerkrieges geboren. Also in den sogenannten Gründerjahren, in denen Deutschland zu ständig wachsendem Reichtum aufstieg, und so zugleich zu einer Zeit, in der die gehobenen jüdischen Schichten sich bereits ganz als Deutsche empfanden und ein heute kaum mehr verständliches, deutsch­-geprägtes Leben lebten, dessen Fragwürdigkeit ich erst nach dem inneren Zusammenbruch meines kindlichen Daseins zu ahnen be­gann.

Wir waren Deutsche, sonst wäre nicht alles, was später kam, so furchtbar, so niederschmetternd gewesen. Wir sprachen die uns teure deutsche Sprache, im wahrsten Sinn die Muttersprache, in der wir alle Worte und Werte des Lebens empfangen hatten, und Sprache ist ja fast mehr als Blut. Wir kannten kein anderes Vater­land als das deutsche, und wir liebten es mit der Liebe zum Vater­land, die später so verhängnisvoll wurde.

Die seltsame Schönheit meiner Geburtsstadt ist mir immer in Er­innerung geblieben. Ich erinnere mich deutlich der Spaziergänge mit meiner Mutter oder dem Kinderfräulein durch den Harveste­huderweg: auf der einen Seite die eleganten Villen mit den ab­hängenden großen Rasenflächen und den sorgfältig gepflegten Teppichbeeten, auf der anderen Seite ein leerer Raum, von dem ich erst kürzlich erfahren habe, daß es die tiefer gelegene Alster war, die ich als Kind von der anderen Seite her nicht sehen konnte und die den Weg bis in die Stadt hinein begleitet. Hamburg – es gehört dazu auch die weite Elbe, die unmittelbar in das Meer hinausführt, der Duft und die Nähe des Meeres, das Schreien der Möwen über der Stadt.

Ich bin schon sehr früh von dort weggekommen und habe die Stadt nur einen Tag, kurz vor der Machtergreifung Hitlers, wie­dergesehen. Ich sah auch das schöne große Haus wieder, in dem ich geboren wurde und das wir – was heute kaum faßlich er­scheint – zu viert mit drei Dienstboten bewohnten. Von den Räu­men meines Elternhauses erinnere ich mich nur an die, in denen ich ein entscheidendes Erlebnis hatte. Von diesen Erlebnissen sind mir viele als ein Ausdruck ständigen Fragens und Suchens, Unver­standenes zu begreifen, in Erinnerung geblieben. Einige von ihnen möchte ich hier festhalten, weil sie für mein späteres Leben ent­scheidend gewesen sind.

Aus jener frühesten Zeit ist mir geblieben, daß ich mit vier Jah­ren mein erstes Gedicht geschrieben habe, das ein einfaches klei­nes Lied und an meine Mutter gerichtet war. Aber schon zwei Jahre darauf schrieb ich ein Gedicht, das mir in all seiner Kind­lichkeit noch heute für mein ganzes Leben bezeichnend erscheint:

 

DAS BRÖTCHEN

In einem Bäckerladen

Lag ein kleines Brot,

Daneben stand der Bäcker

Und schnitt das Brötchen tot.

Da schrie das kleine Brot

Und war in großer Not.

Allein da half kein Flehen,

Es mußte so geschehen.

 

Da nahm es einer untern Arm,

Da saß es wenigstens recht warm.

Er trug es in sein Haus hinein,

Da fing das Brötchen an zu schrei'n,

Er steckt es in den Mund,

Gleich fuhr es in den Schlund.

Nun saß es in dem Magen

Und konnte nichts mehr sagen.

 

Es erscheint mir noch heute, als läge schon ein Wissen um die Grausamkeit des Schicksals darin. Diesem Wissen entspricht ein fast gleichzeitiges Erlebnis: Ich stehe an einem der hohen Fen­ster unseres Kinderzimmers, an das mir – da ich es bald ver­lassen mußte – gewiß keine Erinnerung geblieben wäre, wenn nicht dieses frühe starke Erlebnis es für immer in mein Bewußt­sein eingegraben hätte. Ich sehe die schwarzen Vorhänge mit den großen roten Blumen, die längliche Form des hohen Zimmers, an dessen einem Fenster ich stand, und ich fühle noch heute das bit­tere Elend, das damals mein Kinderherz erfüllte. Ich hatte eben vorher in einem Streit meine Schwester mit einer Puppe an den Kopf geschlagen, und nun stand sie im Zimmer hinter mir und weinte, und meine Mutter tröstete sie zärtlich. Ich fühlte mich trostlos und verlassen, und aus diesem schmerzlichen Verlassen­sein stieg die Frage in mir auf: „Ist das, was jetzt in mir ist, wohl Mitleid?” – eine Frage, die ich – da sie nach dem Wesen einer mir nahen doch verborgenen Wahrheit fragte – vielleicht die erste philosophische Frage meines Lebens nennen möchte. Dieses Elend war natürlich nicht Mitleid, sondern Reue und das Gefühl des Ausgestoßenseins. Aber das Wort Mitleid, das ich damals noch nicht verstand, mußte mich schon oft aus Gesprächen der Erwach­senen getroffen haben, und dies ist sicher kein Zufall gewesen. Denn auch heute noch erscheint mir das Mitleid als eines der schwersten Probleme des Menschenlebens, sowohl im Einzelnen wie im Sozialen. Denn so sicher das Wort Mitleid zu unserem Leben gehört, ist es doch das Seltenste und Schwerste, weil es nur da ganz wirklich ist, wo ein Mensch ganz in das Leben eines an­deren einkehrt, während ihm doch durch sein eigenes Dasein eine unüberschreitbare Grenze gesetzt ist. Dies alles wußte ich damals noch nicht, aber durch den frühen Schmerz streifte ich an eine der Wurzeln meines Lebens, die des Mitlebens überhaupt.

Eine zweite Erinnerung stammt aus einer um wenige Jahre spä­teren Zeit. Sie führt mich in ein anderes Zimmer, das mir auch nur durch die Stärke eines Erlebnisses im Gedächtnis geblieben ist. Es war dunkel um uns; nur die große hellgedeckte Platte des Tisches war durch die Lampe über ihr aus dem Dunkel herausge­schnitten. Wir hatten eben mit unseren Eltern, wie immer nach deutschem Brauch, Weihnachten gefeiert, und nun saßen wir vor dem Abendessen mit dem Kinderfräulein, an dessen große dunkle Augen ich mich heute noch erinnere – ich weiß auch noch, daß sie Amanda hieß –, an diesem Tisch, wo sie uns Geschichten erzählte. In meinem Herzen brannte noch der hohe Christbaum mit seinen vielen hellen Lichtern, die den großen Saal durchstrahlten. Was uns das Mädchen damals erzählte, weiß ich nicht mehr, es muß eine Geschichte von Juden und Christen gewesen sein. Und da mir das Wort Christ so viel schöner erschien als das Wort Jude und mit dem ganzen Glanz dieses Abends verwoben war, rief ich leidenschaftlich aus: „Ich will nicht ein Jude sein, ich will ein Christ sein.” Und niemals habe ich die Antwort vergessen, die mir das Mädchen entgegenwarf: „Das ist unmöglich. Wir sind Christen, ihr seid Juden.” Fest, wie gemeißelt, sind diese wenigen Worte in meiner Erinnerung stehen geblieben. Ich fühlte, wie an ihnen etwas in meinem Herzen zerbrach. Und ich glaube auch jetzt noch genau zu wissen, was mich in ihnen so furchtbar traf. Es war einmal das jähe Ausgestoßensein aus jener strahlenden Welt des Christbaums, die noch eben die meine gewesen war. Denn es hatte mir damals noch niemand den glänzenden Kern gezeigt, den die dunkle Schale des Wortes Jude birgt. Ich kannte es nur aus Kindergeschichten und vor allem aus dem Gedicht von Rückert „Vom Bäumlein, das andere Blätter hat gewollt”, in dem der Jude als ein dunkler, häßlicher, böser Mann mit einem Sack auf dem krummen Rücken durch den Wald läuft und dem Bäum­lein die goldenen Blätter stiehlt. Und die ganze Schwere des unbe­griffenen Wortes Jude fiel auf mein Kinderherz herab.

Aber es war zugleich noch ein anderer Grund, der mich in den Worten des Mädchens verstörte, und vielleicht ist dieser der noch tiefere gewesen. Man hatte mich immer gelehrt, und ich hatte es vielleicht fast zu früh begriffen, daß jedes Verschulden Strafe for­dert, und ich hatte mich, wenn es auch nicht immer gelang, be­müht, ein gehorsames, braves Kind zu sein. Nun erfuhr ich plötz­lich die schwerste Strafe für eine Schuld, die ich nie begangen hatte. Mein Dasein, meine bescheidene Weltordnung selbst war mit diesem Geschehen auf den Kopf gestellt. Ich erfuhr plötzlich, daß unser Menschenleben von vornherein festgelegt ist und durch das reinste Wollen, das beste Tun nicht mehr verändert werden kann. Man kann sich die trostlose Einsamkeit kaum denken, die mit dieser Gewißheit in mich einzog, und ich konnte und wollte ja den Erwachsenen nicht sagen, daß sie mich eine falsche Ordnung gelehrt hatten.

Freilich erinnere ich mich auch deutlich eines Augenblicks, der vor diesem Geschehen lag, wo ich hinter dem Kinderfräulein, das mir fortwährend Vorschriften machte, etwas verbot oder tadelte, plötzlich mit dem Gedanken stehenblieb: „Wie müßte es sein, wenn ich auf der Welt allein wäre und niemand mir etwas zu sagen hätte?” Aber diese jähe kleine Revolution hatte mit dem Geschehen dieser Weihnacht und dem, was ihm folgte, nichts zu tun, denn ich glaubte ja im Grunde fest an die Ordnung, die meine Eltern mich gelehrt hatten.

Das nächste Kindheitserlebnis liegt in einer noch späteren Zeit. Wir waren in meinem elften Jahr von Hamburg nach Zürich ge­zogen, wo ich dann meine ganze Schulzeit verbracht habe. Ich ging damals nicht, wie in Hamburg, in eine Privatschule, sondern in eine Volksschule, die manches in meinen Anschauungen ver­änderte. Kinder aus gebildeten Häusern, gleichviel, ob reiche oder arme, wurden dort „reiche” genannt, und das Verhältnis zu den Reichen war ein anderes als zu den Armen. Dies gab mir die Vor­ahnung einer sozialen Erfahrung, die erst viel später reifen sollte.

Doch war mir auch etwas besonders Schönes in dieser meiner Schulzeit beschieden: Ich habe in all diesen Jahren in Zürich nie einen Lehrer gehabt, der nicht ein besonders gütiger und mir warm zugewandter Mensch gewesen wäre. Und wie schön war es dann wieder, jeden Tag aus der Schule nach Hause zu kommen, zu erzählen und erzählen zu hören.

Wir wohnten in einem schönen kleinen Haus im Kreis „Enge”, das noch heute unverändert steht, nur daß der wilde Wein, der es umrankte, verschwunden ist und auch die Pracht des Rosen­gartens, in dem mein Vater die seltensten Sorten zog. Hinter dem Haus lag ein großer Park; vor dem vorne gelegenen Wohnzim­merfenster zog sich die sanft gebogene Straße hin, auf der meine Hoffnungen in die Welt flogen. Hier fuhren oft die mit schön­geschmückten Pferden bespannten Wagen der jungen Hochzeits­paare vorbei, und von jedem dieser Paare glaubte ich, daß es un­endlich glücklich sei.

Und wie schön war das ganze damalige Zürich, in dem man noch ohne Angst vor dem Autoverkehr über die Straßen, auch über die lindenduftende Bahnhofstraße gehen konnte; wie wunderbar der damals noch klare, glänzende See, von dem unser Haus nicht weit entfernt lag und in dem ich sehr bald leidenschaftlich zu schwimmen begann. Dieses Schwimmen im Zürichsee war eine der schönsten Erfahrungen meiner Jugend. Mit dem Schwimmen konnte man mich erziehen, denn ein Tag, an dem ich nicht drau­ßen baden durfte, war damals für mich ein verlorener. Auch bin ich bald, und zwar ohne Begleitung, durch die ganze Breite des Sees geschwommen und kann das Glücksgefühl noch nacherleben, das ich damals empfand. Wie kann ich jene Tage schildern, in denen das Leben so selbstverständlich und voll überschwenglicher Hoffnung war. Ich müßte die zahllosen eigenen Gedichte, ich müßte auch all die fremden Gedichte hierher setzen, die ich von der Wirklichkeit kaum unterschied, um ein Bild jenes inneren Strö­mens zu geben, das in der Kindheit und frühen Jugend mein Leben war.

Gewiß maß ich – um ein Wort aus Jean Pauls „Titan” zu gebrau­chen – das Leben „mit antediluvialischen Ellen”, und auch das traf noch auf meine Jugend zu, daß ich wie der Held des Romans beim Aufstieg bis zur höchsten Terrasse eine Binde vor die Augen legte, um erst vom Gipfel aus die ganze Schönheit und Fülle der Welt zu sehen. Dadurch ist mir beim Aufstieg in der Jugend sicher vieles verlorengegangen – und auf dem Rückweg mit un­verbundenen Augen sieht alles anders als in der Frühe aus.

Aber da das Leben in mir so mächtig war, habe ich damals auch oft schon an den Tod gedacht, und wenn ich nachts in meinem Bette lag, fühlte ich deutlich das rasche Verrinnen der Zeit und mit ihm die Kürze des Menschenlebens. Und ich sagte mir: Von der Un­endlichkeit der Zeit aus gesehen, liegt zwischen meinem Heute und meinem Tode nur ein Nichts. Eigentlich sterbe ich in diesem Augenblick.

Aber dies war nur ein frühes metaphysisches Träumen; denn wie anders war es, als ich zum erstenmal die Wirklichkeit des Todes erlebte, zum erstenmal einen wirklichen Toten sah. Es war ein Kind aus unserer Schule, das in einem offenen Sarg auf dem Fried­hof aufgebahrt war. Ich trat fast ahnungslos heran und sah mit Schrecken den jungen Leichnam. Und als plötzlich jemand mit dem Fuß an den Sarg stieß und das tote, wächserne Gebilde wie ein lebloses Ding zur Seite rollte, faßte mich ein solches Entsetzen, daß ich es nie vergessen habe. Ich hatte überhaupt in meinen Träu­men an den physischen Tod nie gedacht – viel eher wäre mir denkbar gewesen, daß nach dem Tode überhaupt nichts vom Menschen zurückbliebe. Viel eher hätte ich das zu ertragen ver­mocht.

Ich ging nach Hause, im Tiefsten verstört. Ich war mit dem Tode völlig allein; denn von diesem furchtbaren Grauen konnte ich ja mit niemandem, auch mit den liebsten und nächsten Menschen nicht sprechen: sie alle waren ja Wesen, die keinen Ausweg aus diesem Schicksal finden konnten, weil sie alle sterben mußten. Tagelang, wochenlang saß ich im Zimmer, im Garten allein und suchte vergeblich eine Heilung für das zu finden, wofür es keine Heilung gibt. Der wahre, der letzte, der wirkliche Heiler war mir zu jener Zeit noch nicht lebendig geworden. Ich kannte wohl den Namen Gott, ich hatte auch immer zu Gott gebetet – aber es war ein sehr kindliches, nicht eigentlich an den wirklich geglaub­ten Gott gerichtetes Beten gewesen. Wie ich in meiner frühen Kindheit abends, wenn ich mit meiner Mutter den Schluß des Kin­dergebetes gesprochen hatte: „Vater, laß die Augen dein über meinem Bette sein”, immer die sanften, gütigen Augen meines Vaters gesehen hatte, so mischten sich auch in mein späteres Beten immer halbirdische Vorstellungen ein.

Aber der Vater sollte mir diesmal in meiner Todesbeklemmung wirklich zum Helfer werden, denn als er in jener schweren Zeit, als ich mit dem frühen Erlebnis des Todes rang, an einem hellen Morgen in mein Zimmer trat, löste sich plötzlich die Verzweif­1ung: ich sah sein teures, vertrautes Gesicht, ich schlang die Arme um seinen Hals, und ich wußte: wir dürfen, wir müssen, solange wir leben, einander lieben. Auch wenn die Liebe den Tod nicht bannen kann, im Leben ist sie die Erlösung vom Tod. So war mein Vater in jenem Augenblick mir zum Boten dessen geworden, von dem er mir nie gesprochen hatte. Denn ich war nicht religiös er­zogen. Ich nahm zwar in Zürich am christlichen Religionsunter­richt teil, und es ist schon damals manches in mein Herz gefallen, was später in ganz anderer Weise in ihm aufgegangen ist. Meinem Vater aber, einem glühenden Nachkommen der Achtundvierziger, der auch fast nur mit Gleichgesinnten verkehrte, lag das Politische und Soziale weit näher als das Religiöse. Aber ich glaube, er hat in mir schon früh eine andere Richtung bemerkt und mir kurz vor seinem frühen Tod auch davon gesprochen.

Was aber eine ursprünglich religiöse Erziehung – und gerade heute – für ein Menschenleben bedeutet, das ist mir zuerst an zwei großen Juden aufgegangen: Leo Baeck und Hermann Cohen. Aus dieser ursprünglichen Glaubensgewißheit zog Leo Baeck, der im nationalsozialistischen Deutschland eine Sonderstellung ein­nahm, mit seiner todbedrohten Gemeinde nach Theresienstadt. Aus derselben religiösen Erziehung heraus schrieb der ganz in Kant versponnene und aus dieser Lehre denkende Hermann Co­hen sein leuchtendes Spätwerk: „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums.” – Aber auch die fromme Katholikin Ida Friederike Görres zeigt nicht weniger klar die Bedeutung einer strengreligiösen Erziehung. Ihr geht das Wort „Gott” so leicht und selbstverständlich von den Lippen, als ob nie eine Welt daran gezweifelt hätte. Und zugleich sieht sie von ihm aus die gefallene Welt in all ihrer Verwirrung klar und neu. – Wie schwer habe ich mir erarbeiten müssen, was Ida Görres einfach weiß. Wie viele dunkle Wege mußte ich gehen, um das Leben, so wie es ist, Tod, Mensch und Gott einigermaßen begreifen zu lernen. Wie unbeschreiblich schön muß es sein, in einem echten Credo – gleich­viel, welcher Art – erzogen zu sein.

Ich habe mit diesen Gestalten vorgegriffen – sie sind erst viel später in mein Leben getreten. Ich habe auf sie nur hingewiesen, weil ihnen das geworden ist, was ich erst schwer und langsam suchen mußte und was in unserer Zeit kaum aufzufinden ist. Da diese einzig große Mitgift mir nicht geworden war, stürzte sich alles Meine zunächst in die Dichtung, die ich von der Wirklich­keit kaum unterschied. Und aus ihr erwuchsen mir ein übergroßes Menschenbild und ein blinder Glaube an die Menschen überhaupt. Ich habe in meiner Jugend nie glauben können, daß ein zu mir gesprochenes Wort nicht wahr sein könne. Darum ist es mir auch lange Zeit so schwer geworden, das Böse und seine Rolle im menschlichen Leben zu begreifen. Vielleicht habe ich auch die große und furchtbare Angst gefürchtet, die mit dem Wissen um das Böse unzertrennlich verbunden ist. Das Vertrauen zu den Menschen war mir unbewußt die schützende Hülle, die mir die zu dunkle Wirklichkeit verbarg. Der große idealistische, und zwar deutsch-idealistische Traum, der so lange über mein Leben gebrei­tet war, mußte wohl auf die furchtbarste Weise zerrissen werden, damit ich das wirkliche Leben erkannte.

Aus dem einfachen Beginn, in dem noch ein einfaches Wissen um Gut und Böse, Gehorsam und Liebe ein Leben trugen, das in alle Weiten hinausstrebte und das Schicksal nur aus Dichtung und Sehnsucht kannte, wurde ich in ein von geschichtlichen und per­sönlichen Katastrophen bis zum Übermaß erfülltes Leben gewor­fen, das Kunst und Erkenntnis nur leise und nur teilweise vor­bereitet hatten. Liebe und Glaube, die beiden Grundmächte mei­ner Jugend, wurden in einen Strudel hineingerissen, von dem meine still aufblühende Seele nichts ahnte. Meine Kindheit und Jugend waren nicht ohne Probleme gewesen, ich hatte nach Le­ben und Tod gefragt, aber die Antwort war immer die Liebe gewesen: Liebe zu den Eltern, zur Schwester und daneben eine ganz weltentrückte Liebe, die ihren Gegenstand erst suchte. Na­türlich hatte ich zu jener Zeit auch einen Kreis junger Menschen um mich, die aber kaum einen tieferen Einfluß auf mein Leben gewannen.

Nach Absolvierung der höheren Töchterschule ging ich zu meinem verehrten Lehrer, um ihn zu fragen, zu welchem Beruf er mir rate. Seine Antwort war eine für heutige Menschen nicht begreif­liche. Er sagte: „Hüten Sie sich, Gretchen Susman, Sie führen eine gute Feder, Sie sollen aber durchaus und zunächst Frau und Mut­ter werden.” Ich fühle noch deutlich die Enttäuschung über diese unerwarteten Worte, und doch war sie wohl nicht so groß, wie man es heute vermuten würde. Dadurch, daß ich das Leben mit einer solchen Gewalt liebte und diese Liebe sich unaufhörlich in Gedichten verströmte, erschien mir damals ein exaktes Studium nicht als das mir einzig Aufgegebene. Auch mein Vater wehrte sich gegen ein Studium. Er, der niemals starke Worte brauchte, sagte: „Solange ich nicht unter der Erde bin, wirst du nicht stu­dieren.” Sicher war das für ihn Ausschlaggebende, daß kurz vor­her eine Studentin aus unserem nächsten Bekanntenkreis nach ihrem Studium wahnsinnig geworden war. Hinzu kam, daß die ersten russischen und polnischen, meist sozialistischen Studentin­nen, die damals nur in Zürich studieren durften, den Bürgern durch ihre Lebensweise ein Schrecken waren. So mag es sein, daß die großartige Rosa Luxemburg, die ich später tief wie nur wenige Frauen verehrte, mein Studium mitvereitelt hat. Da mir nun das Studium verwehrt war, versank ich in ein seltsames Jugendleben, in dem ich neben der Hilfe, die ich im Hause leistete, unaufhör­lich las und dichtete. Ich schrieb neben den vielen lyrischen Ge­dichten oft auch lange merkwürdige Epen, in denen die Menschen so überwältigend schön waren, daß sie, wenn sie sich zum ersten­mal sahen, ohnmächtig einander zu Füßen sanken. (Ich habe die­ses Motiv übrigens viel später in indischen Legenden und in einem der schönsten Märchen aus Tausendundeiner Nacht wiedergefun­den, was mich vielleicht ein wenig entschuldigt. Denn natürlich waren diese Vorstellungen in meinem Leben etwas Übermäßiges, und übermäßig war damals alles in ihm.) Es fehlte mir zu jener Zeit anstelle des Studiums ein Mensch, ein Erzieher, der meine Eigenart erkannt, der mich durch das Chaos meines Lebens und Denkens und Dichtens geleitet, es überwacht und geordnet hätte. Es ist schwer, zumal für heutige Menschen, das Leben, das ich damals führte, auch nur annähernd zu verstehen. Es war ein Leben des träumerischen, glühenden Verhältnisses nicht nur zu den nächsten Menschen, sondern auch zur Schönheit in jeder Ge­stalt, zum Sternenhimmel, zum von silbernen Wolken umschim­merten Mond, zu jeder vollkommen schönen Rose, zum Regen­bogen in seinem gesetzhaft farbigen Leuchten. All das erlebte ich bis zur Seligkeit.

Die Welt erschien mir so unbeschreiblich schön, daß sie oft an die Grenze des Erträglichen streifte und das erst später gespro­chene Wort Rilkes „Denn das Schöne ist nichts als des Schreck­lichen Anfang” mir zu einem frühen, nur halbbewußten Erlebnis wurde. Es war aber sicher darin auch das leise in mir lebende strenge Talmudwort: „Wer den Regenbogen nur um seiner Schön­heit willen und nicht um der Offenbarung des göttlichen Gesetzes willen bewundert, der ist des Todes schuldig.” Dieses Schuldgefühl habe ich mehr als einmal in einer zu großen Hingabe an die Schön­heit erlebt. Und doch: wie herrlich war jene Zeit, wenn ich sie als Ganzes überblicke. Fast hätte ich mit Ingeborg Bachmann sagen können: „Nichts Schöneres unter der Sonne als unter der Sonne zu sein”, was aber bei ihr sicher von ganz anderen Erfah­rungen und einem viel weiteren Wissen getragen ist. Es sind die Worte einer durch eine Unendlichkeit von mir getrennten Gene­ration, einer Generation, die frei ihr eigenstes Leben leben durfte und dadurch ganz anders als ich geführt war. Sie war unter der wirklichen Sonne; darum hat auch jenes Wort solche Kraft. Und auch das Gute wie das Böse haben bei ihr schon jene Gestalt an­genommen, in der es mir so lange verschlossen blieb. Ein wirk­liches Sein unter der wirklichen Sonne hat mir die Jugend trotz allem nicht beschert. Blitz und Donner zerrissen den dunklen Traum, den ich noch heute nicht zu deuten vermag.

Wenn es mir je seltsam erschienen ist, noch am Leben zu sein, wenn ich je den Abgrund zwischen meiner Jugend und meinem Alter überwältigend klar erlebt habe, so geschah es durch die Kluft zwischen der Dichtung von Ingeborg Bachmann und der meinen. Was alles liegt an Geschehen, Veränderungen, Vernichtungen, an Grausamkeiten, an Entschleierungen und an Rissen, an einer vor­her unbekannten Wahrheit zwischen dieser Dichtung und der meinen.

Was mich an Ingeborg Bachmann, zumindest an ihrer Prosadich­tung „Undine geht”, so berührt, ist die Klarheit, mit der sie die Menschen und sich selbst sieht. Die Fülle der Erfahrung und viel­leicht das Grauen des Geschehens selbst haben den Geist dieses Urwesens geklärt. Sonderbar – das Wasser war in meiner Ju­gend auch das Element, das weithin mein Leben trug; aber so als Ursprung und als von den Menschen Verfemtes habe ich es nie gefaßt. Bisher ungesagte Worte findet Ingeborg Bachmann für das Element, das außerhalb des Menschlichen Ursprung und Zu­flucht für sie ist. Die Menschen scheuen dieses Element, das sie doch unwiderstehlich anzieht, und seine Heimlichkeit den Men­schen gegenüber (zu denen Undine sich nicht rechnet) wird ihnen zum „Verrat”.

Undine gibt ja die Liebe trotz allem nicht auf; sie will zwar nie­mals wiederkommen, aber ihr letzter Ruf ist doch: „Komm, O komm.” Der Schmerz, den die Dichterin bei alldem empfindet, mag von dem meinen nicht fern gewesen sein, und doch so anders, so erkennender.

Was alles glaubte auch ich damals bezwingen zu können durch Dichtung, durch Traum, durch Schmerz und Entsagung, zu deren Bezwingung es doch ganz anderer Kräfte bedurft hätte, und das ganz persönliche Schicksal kam hinzu.

In demselben Alter, als sie diese wunderbare Dichtung schrieb, wurde mir der liebste Mensch durch den Tod geraubt. Der Tod ist aber ein so anderer Lehrmeister als das Leben, daß er den Graben zwischen den Generationen eher noch tiefer aufgerissen hat. Es kam mir ja damals eine lange Zeit nicht mehr auf das Leben und die Menschen an, während diese Dichterin in dersel­ben Zeit Letztes aus dem Leben lernte.

Ich begann nach der Ablehnung meines Studiums neben dem Le­sen und Dichten auch zu malen. Dies erlaubte mir mein Vater, und das Zeichnen und Malen machte mir Freude, wenn es auch kaum mein Eigentliches war. Ich begann bei einem gütigen und humor­vollen Lehrer, der Geduld mit meinen Anfängen hatte, manches zu lernen.

Die Bücher, die ich zu jener Zeit las und an die ich mich noch er­innere, kreisten alle in irgendeiner Weise um die religiöse Frage. Neben dem früh verehrten Schiller (Goethe ist mir erst später wirklich begegnet) war es der damals klassische Roman “Auch Einer” von Friedrich Theodor Vischer, der mir um seiner nega­tiven, aber ethisch fundierten Glaubenshaltung willen wichtig wurde. Auch Jacobsens, durch seinen heroischen Atheismus mein Sein erschütternder „Niels Lyhne” alles Bücher, die zugleich reli­giös und atheistisch waren und dadurch nicht nur meine Jugend, sondern auch noch lange mein ferneres Leben bestimmten. Vor allem aber war es Nietzsche, die überwältigende Schönheit seines „Zarathustra”, von dem aus eine goldene Abendröte mir alles Leben überstrahlte.

Aber von welchen Inhalten auch immer mein äußeres und inneres Leben erfüllt war, gelangweilt habe ich mich nie, weil alles, auch das Allerbescheidenste für mich in irgendeinem Sinn Erschließung wurde. Gewiß, ich glaubte und liebte zuviel, doch ist das nicht, war das nicht wenigstens damals das Wesen der Jugend, wenn auch der wahre Glaube, die wirkliche Liebe erst wie ein silberner Streifen an meinem Horizont erschien? Aber es waren doch auch schon ernste Probleme damit verbunden. So hat sich mir früh schon eine Strophe der Mignonlieder eingeprägt, die mich von da an schicksalhaft durch mein ganzes Leben begleiten sollte:

 

„Und jene himmlischen Gestalten

Sie fragen nicht nach Mann und Weib,

Und keine Kleider, keine Falten

Umgeben den verklärten Leib.”

 

Denn immer ist es mir zuviel an Schicksal und Verwirrung erschie­nen, daß der eine gottgeschaffene Mensch, dessen Stellung im Kosmos schwer und rätselhaft genug ist, auch noch in zwei Hälften gespalten ist, die einander suchen und nur in den allerseltensten Fällen sich erreichen.

Gewiß war das damals nur eine Ahnung, und ich ahnte auch die ungeheure Fülle des Glücks, die aus einer echten Vereinigung bei­der Hälften stammen konnte. Aber meine Seele wich scheu und angstvoll vor ihr zurück, und das Wort Mignons war mir ein Zei­chen dafür, daß eine letzte Erlösung nur jenseits dieses Glückes möglich ist. Denn noch tiefer auf dem Grunde meines Lebens lag immer der Sinn der indischen Legende: Einst wurde auf die Schale der großen Waage des Seins die Welt gelegt, auf die andere Schale ein Lotosblatt, auf dem der Name Gottes geschrieben stand, und die Schale mit dem Lotosblatt sank.

In einer Zeit, in der die Welt so überschwer geworden war, daß ihr gegenüber der Name auf dem Lotosblatt in seiner ganz ande­ren Schwere kaum mehr aufzufinden war, erwuchs mein Leben. Das ist ja die ganze bestürzende Frage unserer Zeit, die Frage nach dem Allerletzten, die schon in dem Aufschrei Nietzsches „Gott ist tot” qualvoll vorausempfunden war.

Ein Gefühl dieses ungeheuren Problems habe ich schon von früh auf gehabt. Aber ich war von so lieben und geliebten Menschen umgeben, daß mir auch wieder zu einem vollkommenen Leben zu­weilen fast nichts zu fehlen schien. Dennoch versuchte ich immer den Namen zu beten und zu erreichen.

In meinem neunzehnten Jahr brachte mich mein Vater – statt zu einem ernsten Studium – zu entfernten Verwandten nach Wien, die mich längst eingeladen hatten. Die Erfahrungen, die ich dort machte, waren sehr ungleicher Art und mir zum Teil sehr schwer verständlich. Die Wiener Gesellschaft, wie ich sie zu jener Zeit und in jener Schicht kennenlernte, war die Welt einer voll­kommen anderen Schönheit, als sie mir bis jetzt begegnet war. Schöne Frauen, rauschende Seidenkleider, durchsichtige, blumen­geschmückte Schleier, alles wogte im Takt der Wiener Walzer; und noch heute läßt mich ein Walzer von Johann Strauß wieder etwas von der die Wahrheit verschleiernden Verführung begrei­fen, die jene Welt auf junge Menschen ausübte. Ich habe die Bälle keineswegs abgelehnt, ich tanzte sogar mit Leidenschaft, aber es gab keinen Ball, an dem mich nicht plötzlich eine Stunde unbe­greiflicher Einsamkeit, ja, Traurigkeit überfiel. Denke ich an die Zeit in Wien zurück, so fühlte ich mich etwas wie Kari Bühl in Hofmannsthals „Der Schwierige”: überall stand ich mir im Wege, weil ich das Leben nicht richtig verstand. Die wirklich schönen Stunden, die ich dort hätte erleben können, habe ich mir selbst verdorben, weil ich ihre Möglichkeiten erst viel später begriffen habe. Vielleicht wäre mein ganzes Leben durch ein richtiges Be­greifen manches mir dort Gebotenen anders geworden.

Das Verhältnis der Geschlechter war damals noch von keiner Ana­lyse berührt, von einer heute nicht mehr begreifbaren, allerdings sicher nur scheinbaren Harmlosigkeit. Leicht hätte ich in einer dieser Gesellschaften voll Tanz, Musik, Kotillons und Blumen Otto Weininger treffen können, der ja auch in dieser Gesellschaft verkehrte und sie doch so tief verwarf. Hätte ich ihn damals ken­nengelernt, so hätte ich nichts von der düsteren Tragik seines We­sens begriffen, die mir erst viel später und dann sehr schmerzlich klargeworden ist.

Das, wahrhaft Positive, das mir aus dieser Zeit geblieben ist, ist neben den zwei reizenden Töchtern die Erinnerung an den älte­sten Sohn des Hauses, der überaus musikalisch war und auf immer neue Weise versuchte, mich in die ersehnte Welt der Musik einzu­führen, und der auch sonst meinem geistigen Leben damals manches bedeutet hat.

Als ich dann wieder nach Zürich zurückkam, faßte mich doch et­was wie ein Glücksrausch, wieder mit meinen Eltern und meiner Schwester, vor allem aber mit meinem Vater zusammen zu sein. Wir verlebten noch einige schöne Frühlingswochen zusammen. Mein Vater war gütiger als je.

Sein kurz darauf erfolgter plötzlicher Tod war der erste schnei­dende Schmerz meines Lebens. Ich konnte nicht fassen, daß er nicht mehr da war. Und doch hat er mich zum zweitenmal, nun als Toter, von dem Grauen vor dem Tode erlöst. Ich trat voll Angst in das Zimmer, in dem er lag, aber nie habe ich auf einem Antlitz so leuchtend die Majestät des Todes gesehen. Mein Vater war bei all seiner Klugheit und Güte eher ein einfacher Mensch gewesen. Ein großes Wort hörte man selten von ihm. Nun, als Toter, erschien er mir als der Abgesandte einer höheren Welt. Nicht leblos wie jener kindliche Leichnam, sondern über das Leben erhoben. Und nie habe ich den Augenblick vergessen, in dem ich das Antlitz des Todes so leuchtend erblickte.

Unser äußeres Leben wurde durch den Tod meines Vaters völlig verändert. Er ließ uns mit einer zwar auch sehr geliebten, aber schwerkranken Mutter zurück. Diese Krankheit hat einen Schatten auf meine ganze spätere Jugend geworfen. Durch sie war auch mein inzwischen stark angewachsener Wunsch zu studieren für längere Zeit nicht ausführbar.

Ich war zwanzig Jahre alt, als wir mit meiner Mutter von Zürich nach Hannover zogen und eine neue, ganz andere Zeit für mich begann. Ich fing wieder an zu zeichnen und zu malen und habe mir – ein seltenes Ereignis in meinem Leben – mit Kopien und Por­zellanmalerei ein nicht unbedeutendes Taschengeld verdient. Aber wir beide, meine Schwester und ich, litten schwer unter der Krank­heit meiner Mutter, die wir keinen Augenblick allein lassen durf­ten, und niemand war da, uns abzulösen.

Meine Mutter – ihr Bild ist weit schwerer zu entwerfen als das meines Vaters. Ich möchte es am liebsten so geben, wie ich es aus meiner frühesten Kindheit in Erinnerung behalten habe: bei aller Strenge zärtlich, liebreich und voll Anmut, voll Geist und Humor, wie sie mir auch später von Verwandten und Freunden immer ge­schildert wurde. Doch lehrte sie mich schon in der frühesten Zeit in Hamburg eine so strenge Auffassung von Schuld und Verfeh­lung, wie sie ohne den Hintergrund biblischer Wahrheit für ein auf­geschlossenes, kindliches Leben schwer tragbar war, um so schwe­rer, als ich sie mit vollem Glauben in mich aufnahm und ihre Weisungen mir zu Gesetzen wurden. Durch diese dunkle Lebens­auffassung geriet ich von Anfang an in eine tiefe, innere Einsam­keit, die mir das Leben, trotz meiner Liebe zu ihm, im Grunde nicht leicht lebbar machte. Aber obwohl ich damals vor allem durch die Pflichten gegen meine Mutter streng gebunden und durch die Verhältnisse unfrei war, erinnere ich mich manches schönen Augenblicks aus jener Zeit, weil mein inneres Leben von meinem äußeren nie vollkommen abhängig war.

Schon in Zürich war etwas Seltenes geschehen: Bald nach der Er­krankung meiner Mutter – es war in meinem dreizehnten Jahr ­– trat mir gegenüber an ihre Stelle mit Autorität und Liebe meine um wenige Jahre ältere Schwester, von mir um ihrer hellen, schlan­ken Schönheit willen damals immer „der Schwan” genannt. Sie war wohl der wahrste Mensch, der mir je begegnet ist, und hat mir mit ihrer großen Liebe einen Teil meines Lebens abgenommen. Sie war streng, zuweilen allzu streng mit mir, weil sie zu sehr ihre mütterliche Verantwortung fühlte, und sie suchte, ebenso wie meine Mutter mich von meinem allzu wachen Schönheitssinn ab­zubringen. Ich gehorchte ihr immer, weil ich sie liebte und weil ich an ihre Überlegenheit glaubte. Ich erinnere mich noch des wirklichen Schmerzes, als ich eines Tages erfahren mußte, daß sie weniger begabt war als ich. Aber sie selbst nahm das mit solcher Selbstverständlichkeit hin, daß es an ihrer Vorherrschaft nichts änderte. Sie hatte ja auch so vieles vor mir voraus und wußte das Leben viel besser zu meistern als ich. Sie war ruhig, problemlos und hat meinen Eltern nie den kleinsten Kummer bereitet, wäh­rend ich durch mein Ungestüm und ein weit problematischeres Wesen auch den geliebten Vater zuweilen betrübt hatte. Mit fünf­zehn Jahren habe ich mir dann meine ursprüngliche Heftigkeit mit einer gewaltsamen Willensanstrengung und mit Hilfe einer bestimmten Methode abgewöhnt, aber immer noch war ich schwieriger als meine Schwester.

Von ihr möchte ich zwei Dinge erzählen, die ihr Wesen deutlich machen. Ich nannte sie Heidin, weil religiöse Fragen sie nicht zu berühren schienen und weil sie mich oft mit Worten neckte, von denen sie wußte, daß sie mich in meinem Empfinden verletzen müßten. Da sagte sie an einem hellen, sonnigen Morgen plötzlich das schöne Wort: „Gott muß es doch schon darum geben, damit man jemandem danken kann.”

Was sie für mein persönliches Leben bedeutet hat, wird in einem späteren Geschehnis sichtbar. Wir lebten damals schon in Han­nover, meine Schwester war bereits verheiratet. Ich hatte zu jener Zeit entdeckt, daß etwas mit meinen Augen nicht stimmte. Meine Schwester ging mit mir zum Augenarzt, der nach der Unter­suchung sagte, es sei nicht unwahrscheinlich, daß ich später er­blinden würde. Wie hätte mich dieses grausame Wort erschreckt, wenn meine Schwester nicht in einen Strom von Tränen ausge­brochen wäre, der den ganzen Tag nicht mehr versiegte. Ich blieb ganz ruhig; sie hatte mit ihren stellvertretenden Tränen mir die Angst vor der Zukunft abgenommen. Aber auch eine gewisse Weltfremdheit und Schüchternheit, die mich von früh an beglei­teten, sind sicher durch ihre Art der Erziehung lange noch mein Teil geblieben.

Mein inneres Suchen aber ging weiter. Ich ging, um endlich etwas vom Judentum kennenzulernen, zunächst zu Rabbiner Dr. Selig­mann, der für kurze Zeit in Hannover war. Aus diesen Stunden erwuchs eine Freundschaft, die bis ans Ende seines Lebens dauerte. Caesar Seligmann war eine viel universalere und stärkere Persön­lichkeit, als ich nach seiner bescheidenen Art zu jener Zeit schon ahnen konnte. Nur seine wahrhaft große Güte lernte ich kennen und die ersten Grundbegriffe jüdischen Wissens. Nun aber, seit­dem ich weiß, was wirklich jüdisches Wissen ist, weiß ich auch, daß das, was ich in so kurzer Zeit aufnehmen konnte, nur ein ganz bescheidener Anfang war, der von der Kultur, in der ich lebte, nur zu rasch verschlungen wurde. Denn kurz darauf brach Nietzsche nun zum zweitenmal in mein Leben ein, und zwar war es diesmal nicht die Schönheit der Sprache seines „Zara­thustra”, sondern das strenge „Jenseits von Gut und Böse”, das mit seiner unverschleierten Wahrheit auf mich eindrang. Nietzsche, dem aus dem Nichts die Fülle unsterblichen Lebens quoll – hier ahnte ich ein dunkles Geheimnis, das zu begreifen mir immer das Schwerste gewesen ist. Die von je gestellte Frage nach Gut und Böse erschien hier in einer neuen Gestalt. „Jenseits von Gut und Böse” – wie konnte ich das begreifen? Und hier begegnete mir nun der nobelste und sicher auch der gütigste Mensch, der das Leben jenseits von Gut und Böse als das allein Wahre verkündete und damit zugleich unter Qualen das ewige Wort „Gott” vom Horizont der Menschheit auszulöschen versuchte.

Ich ahnte wohl etwas von der Umwertung aller Werte, doch saßen damals die alten in mir noch zu fest, als daß ich ganz hätte begrei­fen können, daß hier das Böse höher gewertet wird als das Gute, weil es im Leben das Mächtigere ist. Das Jenseits von Gut und Böse war mir, der das Gute, die Güte als der höchste aller Werte erschien, zu fremd, als daß ich den ganzen gewaltigen Umsturz, das Dynamit, das in dieser Lehre lag, damals hätte fassen können. Die Geschichte, vor allem die Geschichte, hat mir dann um Jahre später einen grauenhaften Unterricht darin erteilt, so daß ich es fast als Schuld, ganz sicher als einen Mangel empfinden lernte, daß ich das Böse so schwer verstand. – Ich glaubte, daß diesem adligen Geist das Gute wie das Böse in unserer Zeit nur zu lau und zu schwach geworden wäre, und in einer Hinsicht war ich ja damit auch dem Verständnis Nietzsches nähergekommen. Aber von hier aus ist mir das Böse in neuer Weise zu einem völlig unlösbaren Problem geworden, das sich mir immer aufs neue ge­stellt hat.

So habe ich später das Böse zuerst bildlich in einer Illustration des Faust von Delacroix gesehen: Faust kehrt aus Wald und Höhle zurück – eine dunkle Erdengestalt –, neben ihm, über ihn ragend als Geistererscheinung aus einer anderen Welt, geht Mephisto. Eine Gestalt, eine Erscheinung, aber kein Mensch, ein bleicher Ge­fährte, ein Zauberer, nicht eigentlich Wirklichkeit und doch von zwingender Gewalt. Nicht wie die Schatten im Hades der Antike. Gewiß: auch er will Blut wie sie, aber er ist nicht, es fehlt ihm das Sein, das doch die Schatten des Hades haben, die zwar nicht leben, aber auch leblos noch sind. Dieser dagegen, der Böse, ist nicht leblos, aber er ist substanzlos, ohne Sein, seinsfremd; deutungslos taucht er riesenhaft neben und über den Menschen herauf. Das ist der Böse, ist das Böse, so überwältigt es den Menschen. So habe ich es auch später in letzter Tiefe begreifen gelernt.

Die fordernde Pflege meiner Mutter neben all diesen inneren Fra­gen brachte mich langsam einer Schwermut nahe, die ein Onkel von mir, der zugleich Arzt und Dichter war und mich ganz beson­ders liebte, als Gefahr erkannte. Er drang mit allem Ernst darauf, daß ich wenigstens zeitweise von Hannover fortkäme, ein ernstes Studium begänne, zunächst allerdings nur das der Malerei. Auch meine Schwester hatte darauf gedrängt, obwohl es für sie eine große Erschwerung war.

Noch von einer Jugendfreundin aus Hannover muß ich reden, eine der liebsten Freundinnen meines Lebens. Sie war ein ebenso diskret verschlossener wie maßlos leidenschaftlicher Mensch. Ihr glaube ich einen Dienst erwiesen zu haben, wie es nie in meinem sonstigen Leben geschehen ist. Ich wußte, daß sie eine große Liebe zu einem vielversprechenden Bildhauer hegte, der von Zeit zu Zeit zu seiner Mutter nach Hannover kam, aber wie die meisten damaligen Bildhauer in Brüssel lebte. Er hatte wohl keine Ahnung von der Liebe meiner Freundin, ich aber, in ihrer Nähe lebend, sah, wie dieses Leiden sich stets vertiefte, und faßte schließlich – aus meiner großen Freundschaft zu ihr heraus – den Entschluß, von Zürich, wo ich bei meinen Verwandten zu Besuch war, nach Brüssel zu reisen – eine Nacht hin und eine zurück. Ich meldete mich bei ihm als auf der Durchreise begriffen. Er erwar­tete mich, führte mich durch die Ateliers aller damals berühmten Künstler, und ich fand den ganzen Tag hindurch nicht den Mut, ihm ein Wort von meiner Freundin zu sagen. Schließlich, am Abend, saßen wir an einem kleinen Marmortisch in einem der zahlreichen Cafés von Brüssel, und es kam der Augenblick näher, wo er erfahren mußte, daß ich nicht weiter, sondern nach Zürich zurückfuhr. Ich brachte es fertig, einige Worte zu sagen – er be­griff sofort und wurde sehr blaß; ich sehe ihn noch bei meiner Abfahrt vor dem Zuge stehen und, den Kopf schüttelnd, voll Er­staunen sagen: „Ihr seltsamen Freundinnen. . .!”

Zwei Monate später war das Paar verlobt. Die Ehe war überaus glücklich. Sie war real wie seelisch reich. In Paris verkehrte ich viel bei ihnen: es war oder schien alles so selbstverständlich, als ob eine solche Ehe nicht ein Wunder wäre. Auch als das Paar von Paris nach Berlin übersiedelte, schien anfangs alles beim alten zu bleiben. Trotz unserer großen Verschiedenheit, und obwohl wir uns jetzt weniger sahen, blieben wir befreundet.

 

 

STUDIUM

 

 

Nie vergesse ich den Augenblick, in dem ich zum erstenmal ein bescheidenes, kleines Zimmer in einer mir fremden Stadt betrat, das aber mein eigenes Zimmer war. Frei! Freiheit! rief damals alles in mir. Es war ein Rausch, der mich überkam, wie er mit dem Begriff Freiheit verbunden ist.

Die fremde Stadt war Düsseldorf. Eine Reihe bunter Erinnerun­gen, schöner wie trauriger, steigt vor mir herauf. Düsseldorf soll jetzt eine der elegantesten Städte in Deutschland sein. Damals war es eine reine Künstlerstadt, die auf der einen Seite von der Aka­demie, auf der anderen von dem Versammlungsort der Künstler, dem „Malkasten”, beherrscht war. Schwermütig ist der Gedanke an die damals hochgeschätzten Künstler, deren Namen heute so ganz verklungen sind. Selbst von den Begabtesten weiß in unserer Zeit niemand mehr etwas.

Ich wohnte damals im Hause eines norwegischen Malers, den ich nie vergessen habe, weil ich in ihm eine mir neue, die skandina­vische Menschenart kennen und lieben lernte und aus seinen Ge­mälden die Fjorde seiner Heimat, nach denen mir immer eine Sehnsucht geblieben ist. Ich arbeitete im Atelier eines damals be­kannten Malers, und es war mir nicht ganz leicht, mich an die Art der Kolleginnen im gemeinsamen Atelier zu gewöhnen.

Rilke hat in seinem „Malte Laurids Brigge” wunderbar die jungen Malerinnen geschildert, die zu jener Zeit ihr Elternhaus verließen und dadurch dann heimatlos wurden. Im Grunde ist es wohl auch mir so geschehen, wenn auch das Gefühl der Freiheit mächtig in mir war. Doch sind mir einige der Kolleginnen zu wirklichen Freundinnen geworden, und die eine, die begabteste, ist mir stets in Erinnerung geblieben. Aber auch ihren Namen, Helene von Beckerath, habe ich niemals wieder gehört.

Es gab damals keine wirklich große Kunst, an der wir uns orien­tieren konnten, nur einige Ansätze und manches Beginnende. Das eigentliche künstlerische Erlebnis jener Zeit war eine Reise nach Amsterdam, die wir zu viert mit sehr knappen Mitteln unternah­men, um eine dortige Rembrandt-Ausstellung zu sehen. Es war nicht die „Nachtwache”, die mich in einer späteren Zeit überwäl­tigte, es war das Bild „David vor Saul”, das für mich ent­scheidend wurde. Und zwar erinnere ich mich deutlich, daß es nicht so sehr die hohe Gestalt des schwermütigen Königs mit der großen Träne im Auge war und nicht so sehr das kleine Stück des aus dem Dunkel hervorschimmernden Purpurs, das mich an die­sem Bild überwältigte, sondern die unfaßliche Kühnheit der Raum­einteilung, die allem, was ich bisher gesehen hatte, widersprach und mit einer ungeheuren Klarheit die Entfernung zwischen den beiden innig Verbundenen sichtbar macht. Es ist ja der Raum, über den später der Speer des am Verlust der Gnade erkrankten Königs hinwegfliegt, der den heimlich Begnadeten nicht erreicht. Dies Bild, das das Eigentümlichste der Schwermut und das Verborgen­sein der Gnade darstellt, ist mir immer das teuerste geblieben.

Wunderbar genau begleitet im übrigen die Kunst jede Epoche meines Lebens. Um die Jahrhundertwende, zur Zeit von Stefan George, war es Böcklin, der eine ganze Mythenwelt heraufbe­schwor. Schon damals aber trat auch eine ganz andere Kunst auf den Plan. Ich erinnere mich noch an die erste Landschaft Hodlers, eines Bildes vom Genfer See, in dem, wie mir schien, ein neues Auge über der Welt aufgegangen war. Und einige Jahre später in Paris überwältigte mich ein Stilleben von Cézanne, das die schlichtesten Gegenstände so darstellte, als seien sie aus einem ande­ren als nur irdischen Stoff gemacht. Vorher aber noch die aus Tüpf­chen zusammengesetzten Landschaften des Impressionismus, vor allem die Monets, die voll einer schimmernden Schönheit waren.

Dann kam van Gogh – ein wieder völlig neues Erlebnis, eine Verwandlung aller Erscheinungen, auch der alltäglichsten, in ihr rein Menschliches. Schief und krumm erschien hier zunächst alles, mit Ausnahme der Blumen, der Sonnenblumen, wohl weil man das unwahrscheinlich Menschliche in ihnen bis dahin nicht richtig gesehen hatte. Und alles in dieser Kunst ist menschlich, er­schreckend menschlich – gleichviel, ob es ein Stuhl, der Irren­hausgarten oder das berühmte Paar alter Wanderschuhe war, in denen das ganze mühselige Leben, das sie durchwandert hatten, Gestalt gewonnen hat. Welch eine Kunst! Welch ein Menschen­leben! Diese Kunst wurde mir Wirklichkeit, menschliches Erleben, durch einen der größten Künstler gesehen und gestaltet.

Ich arbeitete in Düsseldorf fleißig, ich lernte manches, und es wurde mir im Studium der Malerei doch auch ein neues An­schauen der Dinge geschenkt. Ich lernte auch manche Menschen kennen, vor allem Künstler; auch ein Dichter war darunter, dessen Werke durch ihre Unheimlichkeit zu einem Teil noch heute be­kannt sind, und der mir das Leben in mehr als einer Hinsicht er­schwerte, von dem ich aber doch eine Anzahl wirklich schöner Ge­dichte bewahrt habe: Hanns Heinz Ewers.

Und ich lernte in Düsseldorf auch den Mann kennen, dem meine erste große Liebe galt – einen ungewöhnlich schönen und begabten Menschen, der um Jahre später mein Mann geworden ist. Er war groß, sehr schlank, hatte ein schmales, vornehmes Gesicht mit gro­ßen, leuchtenden braunen Augen und in seinem Wesen etwas Stil­les, Zurückhaltendes, das mir nach der stürmischen Art von Hanns Heinz Ewers einen besonders liebenswerten Eindruck machte. Sehr schönes, dunkles, welliges Haar, durch das sich schon bei der ersten Begegnung – er war damals einundzwanzig Jahre alt – ein feiner silberner Faden zog. War es ein Zeichen? Ich war nahezu vier Jahre älter als er, und doch ist er später viel früher gealtert als ich.

Damals, als ich ihn am meisten liebte, habe ich seine Werbung ab­gewiesen, weil ich glaubte, ihn nicht zu früh binden zu dürfen. Wir sahen uns selten, meist nur in Gesellschaften, vor allem im „Malkasten”. Wir tanzten und sprachen miteinander, als ob es andere Menschen nicht gäbe, als ob wir auf dieser Welt allein wären. An das, was wir miteinander sprachen, erinnere ich mich bis auf seine kurze, scheue Werbung nicht mehr – nur daß wir zueinander gehörten und daß wir doch zugleich voneinander ge­trennt waren. Nach dem, was er war und wer er war, fragte ich damals fast so wenig, wie die Blume nach dem Falter fragt, der sich leise auf sie niederläßt. Diese unvergeßlichen Stunden gehören trotz allem zu den glücklichsten meines Lebens.

Meine ganze zurückgedrängte Liebe verströmte sich in Gedichten. Es verging kaum ein Tag ohne ein Gedicht, das ich meist ohne viel kritische Besinnung niederschrieb. Eines dieser von mir später keineswegs mehr als Kunstwerk bejahten Gedichte möchte ich trotzdem hierher setzen, weil es für mein damaliges Empfinden so besonders bezeichnend ist.

 

In das stille, ruhig verlöschende Rot, Darin die Sonne versank,

Blicke ich einsam hinüber

Von Sehnsucht krank.

Oh, wie ich schaffe und ringe,

Um zu vergessen!

Oft mein' ich wohl, daß es gelang: Denn ich denke viel fremde Dinge Stundenlang.

Und ich spreche Dich nie

Und sehe Dich kaum ­

Und es war ja alles ein Traum.

Ein Traum so traurig und bange

Wie flüsterndes Herbsteswehn ­

Und will doch nimmer vergehn

Und währt so lange.

Es lebt und atmet um mich

Im Abendschimmer.

Denk ich auch nicht an Dich,

Ich fühle Dich immer.

 

Ich glaube heute, Glück und Leid hielten sich in dieser Beziehung die Waage. Zum Bewußtsein war mir diese Liebe beim Lesen eines Verses aus dem Hohen Lied gekommen: „Und gäbe einer für die Liebe / All seinen Reichtum / Er wäre wert nur des Spottes / Denn der Liebe Flammen / Sind Flammen Gottes.” Ich löschte nach dem Lesen das Licht, und eine helle Mondnacht schien herein. Wunderbare Beglückung kam über mich, wie ja jede wirkliche Liebe – ob erfüllt oder unerfüllt – es mit sich führt, daß in ihr alle Dinge der Welt schöner und leuchtender werden. Sogar die Zeit schien stillzustehen, und kein Wort trübte die Selbstverständlichkeit einer Beziehung, die im Zusammensein reines Glück war. Natürlich, je länger diese Liebe dauerte, um so schmerzhafter wurde sie.

Vor kurzem hat mir mein Sohn meine ersten an meinen Mann gerichteten Briefe vorgelesen, die er vom ersten bis zum letzten bis zu seinem Tode aufbewahrt hatte. Sie klingen heiter, fast scherzhaft – aber nun erlebte ich wieder doch auch den Sturm, der hinter diesen heiteren Briefen wehte.

Es waren oft unsagbar schöne Stunden, ein stilles Einverständnis war zwischen uns. Ich weiß kaum, wie ich in meiner abweisenden Haltung festgeblieben bin. Noch heute begreife ich es selbst nur aus der Traumhaftigkeit und Strenge alles dessen, was mich bis dahin geformt hatte – aus jener beinahe gnostischen Haltung, die weit über meine Jugend hinaus mein Leben bestimmte. Es kam wohl zum Teil auch durch die Bücher, die ich gelesen, und die Art, in der ich sie aufgefaßt hatte; wie oft habe ich in dieser Zeit an den Hippolytos des Euripides gedacht: die Göttin Aphrodite, der er den Gruß verweigert und die ihm aus Rache den Fels aus dem Meer entgegenschleudert, hat mich kaum gnädiger behandelt.

In der Zeit dieser schmerzlichen Liebe bin ich auch den Gedichten Leopardis begegnet, dessen melancholische Weltanschauung mei­nem damaligen Leben entsprach. Denn es umgab mich ja wirklich ein Dunkel – ich sah nur mit den Augen meines Dichters, wie später mit denen der Psalmen und des Buches Hiob, die Kürze und Vergänglichkeit des Menschenlebens.

Ich entschloß mich zuletzt, Düsseldorf mit München zu vertau­schen, und verließ den mir teuersten Menschen ohne Abschied. Es war ein unvergeßlicher Augenblick, als ich nach einer langen, dunklen Eisenbahnfahrt an einem schönen Junimorgen in Mün­chen einfuhr. Ich kannte dort keinen Menschen, aber nie hat mich eine fremde Stadt so strahlend, ich möchte fast sagen, so liebevoll empfangen. Die Straßen, durch die mich der Wagen führte, sind mir leuchtend von Morgentau und Morgenfrische in Erinnerung geblieben. Auf die Gebäude, die an diesem Wege lagen, habe ich damals kaum geachtet; ich habe nichts als Gärten, Glanz und sil­bernes Licht in Erinnerung behalten.

Auch die Pension, in der ich ankam, schien mir in allem entgegen­zukommen, nicht nur die Gesichter waren freundlich, auch das Zimmer war groß und hell, wie ich es mir nach dem bescheidenen Dachzimmer in Düsseldorf kaum erträumt hätte. Und wunderbar war es, an einem Fenster zum erstenmal einen richtigen Schreib­tisch zu finden, dicht vor dem Fenster eine Linde, die dann in den ersten Julinächten erblühte. Bis tief in die Nacht hinein saß ich an diesem Schreibtisch ohne ein Gefühl der Ermüdung – dichtend, wie es das Herz mir eingab.

An dem zu jener Zeit unvermeidlichen gemeinsamen Eßtisch der Pension fand ich Menschen jeden Alters, vom Studenten bis zur Majorin, die sich angeregt miteinander unterhielten. Es war auch ein sehr junger Student darunter. Schon nach wenigen Tagen fiel mir auf, daß, wenn dieser junge Mann auch nur ein Wort in das Gespräch warf, alle anderen verstummten. Jedes seiner nicht häu­figen Worte war denen der anderen überlegen, war von einer erstaunlichen Reife. Er sprach sehr schlicht, sehr unpathetisch und oft auch mit einem souveränen Sarkasmus, wie er mir ähnlich, sehr viel später, nur bei Rosenzweig begegnet ist: Es war Erwin Kir­cher. Man konnte ihn nicht schön nennen,  aber er war anziehend für jeden, der ihm begegnete. Sein hoher Wuchs, die hohe breite Stirn, die klaren, ernsten, tiefblauen Augen, die der Ausdruck seines Wesens waren – alles an ihm war ungewöhnlich. Ich war nicht die einzige, die sich vorstellte, wie schön dieser Kopf im Alter aussehen müßte und daß er für die volle Reife des Lebens geschaffen war. Und noch heute, wenn ich sein Bild betrachte, ist mir das klar.

Mir ist ein Wort in Erinnerung geblieben, das später Karl Joël nach einer ersten Begegnung über ihn gesagt hat: „Ich sah, als er in mein Zimmer kam, einen jungen Mann, der mir zunächst kaum anders als die anderen Studenten erschien, ich sah nur, daß er aus sehr gutem Hause stammte. Als wir dann langsam ins Gespräch kamen, da war es mir, als ob sich um uns allmählich eine weite Landschaft öffnete, mit immer neuen Höhenzügen, die sich bis ins Unendliche erstreckte.” Diese unendliche Weite von Leben und Wissen war das klarste und wahrste Bild, das man von ihm geben konnte.

Eine andere Seite dieses Menschen hat mir seine Mutter nach sei­nem Tode durch eine Erzählung aus seiner frühen Kindheit er­schlossen: er hatte mit sechs Jahren mit angesehen, daß auf der Straße eine Frau überfahren wurde, und hatte darauf zu Hause an den lieben Gott einen Brief geschrieben, den er selbst in den Brief­kasten warf. Aber diese Seite seines Wesens hielt er später fast immer verborgen.

Sicher war die Beziehung zu einem Letzten immer in ihm leben­dig geblieben, so gewiß auch der Name Gott in ihm wie in allen damaligen geistig wachen Menschen als ein wahrhaft geglaubter verklungen war. Auch hätte sein allzu kurzes und ganz von Geist geprägtes Leben mit seiner strengen und übermäßigen Arbeit ihm kaum die Zeit zu einer solchen letzten Frage gelassen. Sicher war er anders als alle Menschen, die ihn umgaben.

Stefan George hat mir in einer sehr viel späteren Zeit einmal ge­sagt, daß die früh sterbenden Menschen schon von Anfang an einen anderen Rhythmus und eine andere Beziehung zum Leben in sich tragen als die, die ein langes Leben zu leben haben. Wie groß muß dann die Verschiedenheit zwischen unser beider Leben ge­wesen sein. Und wie schwer blieb es lange für mich, dies zu er­kennen, zumal ich selbst bis dahin niemals krank gewesen war.

Mit alldem war bei ihm eine Kühle verbunden, die er selbst so nannte; in Wahrheit war er ein Mensch, der die bloße Rücksicht auf andere verachtete, und zu jedem Freund, der ihm nicht mehr gemäß war, ohne Bedenken die Freundschaft abbrach. So hat er wohl manche Menschen verletzt, doch nie so, daß sie daraus nicht gelernt hätten. Er war mir sehr nah und sehr fern zugleich.

Ich möchte diesen Menschen so schildern können, wie er in Wahr­heit gewesen ist. Ein Deutscher, ein Angehöriger des Volkes, des­sen Helle und Leuchtkraft uns einst so teuer war. Und er war ja nicht ein gewöhnlicher Deutscher, er war ein Mensch, der vor sei­nem frühen Tode schon ein ganzes, geistig angespanntes Leben gelebt, die vergangene und die eigene Zeit weithin begriffen hatte. Er war wie alle diese geistigen Menschen damals völlig unpoli­tisch, doch wußte er sicher auf diesem Gebiet mehr, als er sagte, und daß er ohne jedes Vorurteil war, habe ich aus mehr als einem seiner Worte erfahren.

Eine sehr schöne Erinnerung ist mir aus dieser Zeit geblieben: der Abend, an dem mein junger Freund in einem akademischen Verein vor einer größeren Gesellschaft nach einer lebhaften Ein­leitung eine Anzahl meiner Gedichte vortrug. Er liebte meine Gedichte, er las sie schön, der Beifall war fast zu groß, und mit einer Flut von Blumen auf dem Arm geleitete er mich nach Hause zurück. Schon vor diesem Abend hatte ich auf meinem Zimmer täglich eine wunderschöne dunkle Rose gefunden.

Wenn nicht damals alle und besonders er selbst mich auf ein künst­lerisches Leben hingewiesen hätten, wenn er mich an seinen Stu­dien mehr hätte teilnehmen lassen – wie anders wäre mein Leben geworden. Es fehlte aber auch sonst etwas zwischen uns: er hatte zum Heiligen kein Verhältnis, er wies es ab – er hatte auf der anderen Seite das Leben, das ich noch nicht kannte und gegen das ich mich ja immer gewehrt hatte, das ihm aber alles, das Höchste und Tiefste bedeutete. Ein echter Schüler Goethes und Nietzsches. Die eigentliche Lebensphilosophie hat sich erst nach ihm entfaltet, obwohl er sie als einzelner bereits in all seinen Äußerungen ver­trat.

Ich studierte in München nicht mehr Malerei, sondern Kunstge­werbe, aber als Hauptinhalt meines Lebens quoll hinter allem, was ich tat, immer der schier unerschöpfliche Quell der Dichtung, Dichtung, wie ich sie damals verstand: Ergießung von letzten Emp­findungen und Gedanken in wohlklingende Reime. Man macht sich kaum einen Begriff von dieser Überfülle: sie strömte einfach aus mir hervor und entfernte mich von der gelebten Wirklichkeit.

Zuvor aber muß ich sagen, daß ich damals zwar nicht erst mit dem Studium der Philosophie begann, aber die ersten philosophi­schen Vorlesungen hörte, und zwar an der Seite meines jungen Freundes. Die Vorlesungen des unvergessenen Theodor Lipps be­deuteten mir viel – nicht die psychologischen, aber eine Vorlesung über die Ethik Kants, die mich zuletzt zu strömenden Tränen be­wegte, weil sie nicht so sehr meinen Intellekt als vielmehr meine eigenen inneren Kämpfe berührte und mich in einer Haltung be­stärkte, die mir selbst als die wahre erschien. Wie fern liegt diese Haltung und Bewegtheit aller heutigen Lebenserfassung, vor allem der der heutigen Jugend; sie lag aber kaum weniger ent­fernt von der Haltung des Menschen, der neben mir saß und der nicht nur die Gegenwart, in der wir lebten, sondern auch schon das Leben als Ganzes sehr viel besser verstand als ich.

Mein junger Freund war sehr viel reifer als ich, und doch bedeu­tete seine Jugend ein schweres Hindernis für mich. Ich glaubte damit eine große Verantwortung für uns beide zu tragen und glaube heute, nach meinem langen Leben, diese Verantwortung falsch begriffen zu haben.

Nicht lange darauf erschien auch mein erster Gedichtband „Mein Land”, der schon im gleichen Jahr die zweite Auflage erfuhr und ein eigentümliches Schicksal hatte, das meine damalige Haltung zur Dichtung bezeichnet und von dem ich später noch berichten werde.

Für das neue Semester ging Erwin Kircher nach Berlin. Ich selbst fuhr nach Hannover zurück. Er hat dann mit 21 Jahren seinen Doktor gemacht und war von der Universität Freiburg gebeten worden, sich an ihr zu habilitieren. Er schwankte, ob er es an­nehmen sollte. Er hatte so viele Möglichkeiten.

Einmal, als er in Freiburg war, fuhr ich von Hannover nach Zürich. Diese Reise ging über Freiburg, aber ich wußte ihn so tief in der Arbeit, hatte so große Scheu, ihn zu stören, daß ich, ohne ihm Nachricht zu geben, nach Zürich weiterfuhr und ihm erst von dort aus schrieb. Ich dachte später zuweilen, daß das ein Wahn­sinn war, aber nach seinem Tode erzählte mir seine Mutter, daß einmal, als er einen Tag bei seiner Familie gewesen war und sie seinen schon gepackten Koffer heimlich wieder ausgepackt hatte, er in wahrer Verzweiflung gerufen habe: „Mutter, Mutter, was hast du getan? Du hast mir einen ganzen Tag genommen.” Ich glaubte nun, damals richtig gehandelt zu haben.

In der Zeit unseres Getrenntseins hatte ich einmal einen seltsamen Traum. Ich ging einen schmalen Berggrat entlang und vor mir, in einer geringen Entfernung, sehr schnell, fast schwebend, der junge Freund. Ich eilte mich, um ihn zu erreichen – da plötzlich sah ich auf meinem Weg einen verwundeten Vogel liegen, der ängstlich mit den Flügeln schlug. Ich beugte mich nieder, um ihn aufzu­heben, da hörte ich dicht vor mir eine Stimme rufen: „Wenn du den Vogel noch errettest, ist es zu spät, ich kann nicht warten.” Ich hob verzweifelt den Vogel auf. Als ich aufblickte, war die Ge­stalt vor mir verschwunden. Ich war allein. Dieser so ganz auf ihn bezogene Traum ist doch wohl der Traum meines ganzen Lebens gewesen.

Bald darauf erreichte mich die Nachricht, daß mein Freund schwer erkrankt und in ein Sanatorium nach Arosa gebracht worden war. Dort habe ich ihn noch einmal besucht. Ich sah ihn trotz des ärzt­lichen Verbotes wieder mit Arbeit überhäuft, nicht ohne Hoffnung und erfüllt von dem leidenschaftlichen Willen zu leben. Es waren unbeschreibliche Tage – ebenso strahlend und schön wie traurig und quälend. Als wir auf einer Bank saßen und er seinen weiten Mantel um mich legte, war mir, als hülle mich das Schicksal in seinen schwarzen Mantel ein. Und ich glaube, daß sich in diesen Tagen das Ganze meines Schicksals entschieden hat. Er liebte mich und wollte mich ganz, aber zugleich fühlte ich, und er sprach es auch aus, daß er sich in diesem Augenblick vor einer großen Er­regung fürchtete. Er wollte leben, wollte gesund werden, um das, was seinen Geist erfüllte, zu gestalten. So vermehrte er sicher in mir jene ursprüngliche Scheu, die mich so oft im Leben vor dem, was ich ersehnte, zurückweichen ließ. Er wollte ja auch, sobald er wieder gesund war, zu mir kommen und bei mir bleiben. Er sprach natürlich auch von Ehe – aber abgesehen von seiner zu großen Jugend, sagte er auch die gewiß wahren Worte: Für eine Ehe sei ich nicht geschaffen, weil ich jeden Tag zum Sonntag würde machen wollen. Wie dunkel sieht dies schicksalhafte Wort neben meiner späteren, durch die Geschichte mitgeprägten Ehe aus.

Im Rückblick auf jenen strahlenden Himmel und seine strahlen­den Augen erinnere ich mich an das wilde Wort, das er wohl kei­nem anderen Menschen gesagt hätte und das wohl kaum ein an­derer Mensch so offen ausgesprochen hätte: „Ich könnte eine Roheit begehen, um am Leben zu bleiben.” Er wollte vor allem um seiner Arbeit willen leben.

Wir sprachen kaum von seiner Arbeit. Er sagte mir immer wieder und hielt daran fest, daß ich Künstlerin, nicht Wissenschaftlerin sei. Er warnte mich sogar vor wissenschaftlicher Arbeit, genau um­gekehrt wie manche späteren Freunde. Er hat mich immer mit sehr deutlichen Worten aus der Prosa in die Dichtung als den mir eigenen Bezirk verwiesen. So ist uns doch, wenn ich zurückdenke, viel Wertvolles verlorengegangen. Unser Teil war damals das Leben, rein das Leben, ohne jede Deutung.

Ich blieb nur kurz, seiner Arbeit wegen und auch, weil ein aller­letztes Verstehen zwischen uns in jenem Augenblick nicht möglich war.

Als ich dann wieder nach München zurückkehrte, empfing mich eine andere Welt. Ich lernte Gertrud Kantorowicz kennen, die dort Kunstgeschichte studierte und mit der mich bald eine sehr nahe Freundschaft verband. Ich habe ihr unendlich viel zu danken, wenn auch in dieser Freundschaft, wie fast in allen menschlichen Beziehungen, mit der Zeit manches problematisch wurde.

Gertrud Kantorowicz war es auch, die mich in das schöne große Haus von Wolfskehl einführte. Karl Wolfskehl war schon äußer­lich eine bedeutende, fremdartige Erscheinung, aber auch jedes Wort, das er sprach, war ungewöhnlich und mir neu, so daß ich mich in ihm zuerst wie in einer ganz fremden Welt zurechtfinden mußte. Fremd waren mir auch die Besucher dieses Hauses – nur mit der zarten, schönen und gütigen Frau Hannah habe ich mich von Anfang an verstanden.

In Wolfskehls Haus erlebte ich dann sehr bald auch jenen Höhe­punkt, den der Besuch und die Vorlesung der Gedichte von Stefan George bedeuteten. George las im Ton eines Kultgesanges in einem anderen, durch eine Schiebetür getrennten Zimmer eine Anzahl seiner Gedichte vor, die mir nicht alle verständlich waren, deren Großartigkeit ich aber sofort begriff. Fremd war mir nur die feierliche, esoterische Art des Vortrages und auch, daß nur wenige Hörer, nachdem die Türe geschlossen worden war, zu George vorgelassen wurden – was auch mir unerwarteterweise geschah. Ricarda Huch soll das als eine Beleidigung empfunden haben. Sie soll gesagt haben: „Wenn Herr George wünscht, die Bekanntschaft von Frau Ceconi zu machen, so möge er, wie es Höflichkeit und Sitte gebietet, sich ihr vorstellen lassen.” Mir ist es als eine Auszeichnung erschienen. Die Freundlichkeit des strengen Dichters hätte mich damals ermutigen können – er sprach sogar anerkennend von meinen Gedichten –, aber Scheu und Ehrfurcht überwogen.

Der Unterschied zwischen Ricarda Huch, Else Lasker-Schüler und mir hing mit etwas Grundlegendem zusammen: mit dem Verhält­nis zu unserer Dichtung. Diese beiden Dichterinnen fühlten sich durch ihr Dichtertum aus der Gemeinschaft der Menschen heraus­gehoben und erlebten es mit Stolz und Würde als ihre eigenste Bestimmung, ihr eigentliches Schicksal, das sie von den gewöhn­lichen Menschen trennte. Für mich war das Dichten immer etwas, das allein mich selbst anging, eine innere Befreiung, die mit mei­nem äußeren Verhalten nichts zu tun hatte, und das lag sicher nicht allein an der größeren Bedeutung jener beiden.

Ich begann von da an mich sehr ernsthaft in Georges Dichtung zu versenken und mich um ihr Verständnis zu bemühen, das ich nur schwer und langsam gewann. Zunächst war die Folge, daß ich meinen schnell verkauften Gedichtband vor der dritten Auf­lage aus dem Druck zurückzog, weil ich nun begriffen hatte, wie­viel strenger Dichtung erarbeitet werden muß. – Das Dichten war wie ein lebendiger Springbrunnen aus mir selber aufgestiegen, und ich hatte nie das Gefühl, daß zur endgültigen Fassung eines Ge­dichtes ein Führer und Meister nötig gewesen wäre. Ich habe nicht ohne zu arbeiten gedichtet, aber ich begriff erst nach dieser Begegnung, wieviel auch fremde Kunst es aufzunehmen gilt, be­vor eine vollkommene Dichtung entsteht. Eine Führung aber wäre mir bei meinem Dichten als eine Art Abirrung vom eigenen erschienen. Stefan George nachzuahmen, wie es so vielfach gesche­hen ist, war mir unmöglich, und über ihn zu schreiben, wie ich es sehr viel getan habe, war nicht dasselbe wie von ihm dichten zu lernen.

Es gibt nur einen einzigen Menschen, der mir einmal Arbeit am Dichten gezeigt hat: Karl Wolfskehl. Die kurze Korrektur, die er damals einem meiner Gedichte gegenüber anbrachte, ist mir für immer im Gedächtnis geblieben. Und wie ich bis dahin über das fremde und allumspannende Wissen, die jähen Äußerungen dieses Mannes gestaunt hatte, so lernte ich ihn nun als einen im tiefsten besonnenen, einen dichterisch großartigen Kritiker kennen.

Die Frage aber: Wer ist dieser seltsame und überraschende Mensch, der sich in der Tierwelt mit dem Elefanten verwandt fühlte und eine große symbolische Sammlung elfenbeinerner Elefanten be­saß – der breite, stämmige, hoch gewachsene Mensch mit dem immer schwankenden, wie berauschten Gang des fast Blinden, der Mann der vollkommensten, schönsten und ausgewogensten Sprache, der doch immer beim raschen Sprechen stotterte, der nicht wie andere Menschen sah und der doch mehr sah als alle anderen, die­ser fast blinde Mensch, der jede Schönheit gewahrte, dieser glü­hende Deutsche, der ein Jude war, der Übersetzer alter germani­scher Dichtung, dem die Runen eine Offenbarung waren, der in seiner Sprache ein großer Germanist, äußerlich und innerlich dem Gott Wotan ähnlich war und der erstaunliche jüdische Kenntnisse hatte –, diese Frage hat sich mir erst sehr viel später in einer an­deren Weltstunde beantwortet.

Ich hatte damals, wenn auch erst im Keim, schon etwas wie eine eigene Welt und auch, Menschen, die zu ihr gehörten, so daß diese neue Welt, die ich nun betreten hatte, für mich sehr schwer auf­zunehmen war. Während ich meine eigenen Gedichte aus der Offentlichkeit verbannte und mich um die von Stefan George be­mühte, während ich die eigentümliche Großartigkeit Karl Wolfs­kehls ganz in mich aufnahm, zog ich mich doch in meinem Leben aus dem George-Kreis zurück und habe auch Wolfskehl fast ein Leben lang nicht wieder gesehen, ja ich bin ihm, obwohl er mir immer seine Bücher sandte, ein Leben lang ausgewichen, bis ich ihm dann nach vielen Jahren in der Emigration in Zürich wieder begegnete.

Aber immer stand auch hinter diesem mir fremdartigen Kreis, in dem ich auch die fragwürdigen Gestalten Klages und Schuler ken­nenlernte, die durch ihre – zwar verschiedenartigen – Anschau­ungen an dem späteren Heraufkommen Hitlers wohl eine große Mitschuld trugen, die stille, ganz anders geartete Gestalt des Ju­gendfreundes Erwin Kircher, dem ich innerlich und äußerlich die Treue wahrte. Sein vollkommener Mangel an Feierlichkeit, sein wahrhaftiges Wesen, sein Scherz und Sarkasmus, seine nie be­tonte und doch immer gegenwärtige, stille Überlegenheit schienen mir allen diesen Menschen so fremd zu sein und waren mir doch so tief ins Herz geschrieben, daß ich trotz meiner Bewunderung in jenem Kreis nicht heimisch werden konnte. Denn alles, was mich an einem solchen Leben hinderte, in das doch nur eine große, wahre Leidenschaft mich hätte hineinziehen können, faßte sich in der klaren und stillen Gestalt des Jugendfreundes zusammen, an die mich nicht eine Leidenschaft, sondern eine Schicksalsfügung band.

Es war auch noch ein anderes, was mich von diesem Kreis zurück­hielt. Es war ein Gewaltsames, Dämonisches, das ich zwar noch nicht begriff, aber doch gespürt haben muß. Von den wilden aus­schweifenden Festen im Hause von Wolfskehl habe ich erst viel später erfahren. Gewiß hatte auch Heinrich Simon recht, wenn er sagte, daß ich selbst das Dionysische meines Wesens nicht gelebt hätte. Aber ich glaube noch heute: in der Form jenes Kreises wäre es mir unmöglich gewesen, eben weil dort das Dionysische ins grausam Dämonische, sogar in Verrat, den uralten germanischen Verrat, überging. – Ich habe mich oft gefragt, worin sich der ger­manische Verrat von dem des Judas unterscheidet, und bin zu der Überzeugung gekommen, daß in der germanischen Überlieferung von der Edda über das Nibelungenlied und Kleists „Hermanns­schlacht” bis hin zum Nationalsozialismus der Verrat nicht nur gebilligt, sondern gefeiert wird, während Judas nach seinem Ver­rat sich das Leben nimmt.

Gestalten wie Schuler und Klages haben das später vollkommen bestätigt, während Wolfskehl, sonst wohl einer der treulosesten Menschen, dem Meister bis zuletzt die Treue wahrte. Sich von diesem Kreis fernzuhalten war ein bedeutsamerer Lebensent­schluß, als ich zu jener Zeit noch ahnte. Vieles war damit verbun­den, was entscheidende Folgen für mein Leben und für meine Dichtung hatte.

Am Anfang dieses Jahrhunderts ging ich von München nach Ber­lin. Dort lernte ich, wieder durch Gertrud Kantorowicz, Georg Simmel kennen, nachdem ich einen Winter lang bei ihm eine Vor­lesung gehört hatte, die mich wie ein leiser Trost über den schwe­ren Winter geleitete. Die beiden Denker, die mich damals am tiefsten rührten und deren Bücher ich immer wieder zur Hand nahm, waren Platon und Spinoza. Mich hatte schon lange an dem Denken Spinozas ein Doppeltes angezogen: die Durchleuchtung der Leidenschaften durch die Vernunft (die ich dann später bei Rahel und noch später bei Freud in ganz anderer Weise wieder­fand) und dann die Vielzahl der Attribute Gottes, die uns, die wir ihn als vergängliche Seinsweisen nur allein aus Raum und Den­ken kennen, in das Unendliche hinausführen.

Mein größter und unvergeßlichster Eindruck aber war Platon. Ich erinnere mich, wie mir, als ich zum erstenmal las, daß alles Wahre, Gute und Schöne nur die Wiedererinnerung an ein einst in einer höheren Welt Geschautes sei, vor Schrecken das aufgeschlagene Buch aus den Händen fiel. Über Spinoza habe ich dann später meine erste, rein philosophische Arbeit, „Spinoza und das jüdi­sche Weltgefühl”, geschrieben.

Simmels Vorlesungen waren außerordentlich: er sprach lebhaft, völlig frei und so, als würde jeder Gedanke erst in dem Augen­blick, in dem er ihn aussprach, geboren. Sein ganzer Körper be­wegte sich mit in dieser geistigen Geburt. – Als ich ihm am Ende des Semesters mein Testatheft reichte, blickte er auf, und ich sah zum erstenmal seine scharfen, sinnenden und gütigen Augen.

Kurz darauf, als ich zum erstenmal sein Haus betrat, fühlte ich mich von einer Atmosphäre umgeben, die ich bis dahin nicht ge­kannt hatte und so auch niemals wieder gefunden habe. Der Ein­druck seiner Vorlesungen wie der seiner Persönlichkeit war groß gewesen. Nun lernte ich eine ganz neue Art des Lebens kennen: die einer höchst verfeinerten Kultur, die in allem, was Simmel war, und in allem, was ihn umgab, sich äußerte. Es war die Kultur am Anfang des Jahrhunderts, die Simmel wie wenige und in einer nur ihm eigenen Weise verkörperte und die schon ein Jahrzehnt später im ersten Weltkrieg zusammenbrechen sollte. Das große hohe Arbeitszimmer zu ebener Erde, mit dem Blick in den Garten, war mit kostbaren, alten Perserteppichen belegt. Bilder großer Meister, viele eigenhändige Zeichnungen von Rodin, hingen an den Wänden. Überall, in Vitrinen und offen, standen Vasen und Schalen fernöstlicher Kunst, auserlesene Buddhafiguren, von denen die eine noch heute in meinem Zimmer steht. Damals fühlte ich mich fremdartig, aber wunderbar berührt.

              Seine Frau, eine große, blonde Thusnelda-Gestalt mit hellen, freundlichen und strengen Augen, war von so anderer Art als er, daß sie kaum zu ihm zu passen schien. Doch war beim näheren Kennenlernen die Ehe ungewöhnlich harmonisch. Der Geist der Kultur im Sinne Simmels als der Weg der Seele über die Sachwelt zu ihrer Entfaltung war das diesen sehr ungleichen Menschen Gemeinsame. Gertrud Simmel, die ich wie kaum eine andere Frau verehrt habe, war eine bedeutende, in ihrer Weise großartige Erscheinung, die sich mit allen wesentlichen Fragen des Lebens in einer selbständigen Weise auseinandersetzte und auch vier be­deutende Bücher unter dem Namen Marie Louise Enckendorf veröffentlicht hat.

Die Empfänge des Hauses Simmel, die wöchentlichen „Jours”, waren ganz im gemeinsamen Geist ihrer Kultur gestaltet. Sie waren eine soziologische Schöpfung im Kleinen: die einer Geselligkeit, deren Sinn die Pflege des höchst Individuellen war. Das Gespräch hatte dort eine Form, in die kein Mensch sich selbst mit seinen Eigenarten, Problemen und Nöten mitbringen durfte, die, losgelöst von aller Schwere, in einer Atmosphäre von Geistigkeit, Liebenswürdigkeit und Takt schwebte. Sicher hat Simmel das meisterhafte Kapitel seiner „Kleinen Soziologie” über „Das Ge­spräch” der Erfahrung dieser erlesenen Gesellschaft entnommen und ihr zugleich schon aufgeprägt. Nur seltene, durch Geist aus­gezeichnete Menschen hatten an diesen Gesellschaften teil. Zu diesen „Jours” erschien selbstverständlich auch immer Gertrud Kantorowicz.

Gertrud Kantorowicz, ein Name, der mit dem Leben Simmels, aber auch mit meinem eigenen tief verbunden ist, war eines der seltsamsten Wesen, die mir im Leben begegnet sind. Nicht nur ihre große und eigenartige Intelligenz und ihre dichterische Be­gabung, auch ihre elementare Dämonie, die stark im Guten wie im Bösen war, schienen sie gewissermaßen aus dem Kreis des nur Menschlichen zu entrücken. In unserer Jugend nannte ich sie das „Wesen”, weil sie rein Natur und Geist, mir nicht ganz der menschlichen Wirklichkeit anzugehören schien. – Erst später er­fuhr ich, in wie viele Menschenleben sie tätig und helfend, zu­weilen aber auch zerstörend eingegriffen hat. Es war stets nicht eigentlich ein menschlicher Eingriff, sondern der Eingriff einer Gewalt. Obwohl sie stark war und sich immer durchzusetzen wußte, konnte sie doch völlig hingegeben sein, und sie brauchte bei aller Stärke, und obwohl sie oft Halt für andere war, selbst einen Halt. Nach Simmels Tode hat sie sich dann ganz Stefan George angeschlossen. Doch ist Simmel wohl der einzige Mensch gewesen, dem ihre überstarke Natur sich in jedem Augenblick gebeugt hat.

Simmel hatte von seiner Frau einen einzigen, sehr geliebten und begabten Sohn, der als Arzt früh eine hohe Stellung einnahm. Daß Simmel später auch von Gertrud Kantorowicz ein Kind, eine ebenso begabte und charakterstarke Tochter hatte, ist sicher nicht ohne die Tatsache zu verstehen, daß seine Frau ihn aus bestimmten Gründen freigegeben hatte. Simmel hat sich, da er seine Frau bis zuletzt liebte, nie erlaubt, dies Kind zu sehen. Doch hat dieses unausgesprochene und immer geahnte Geheimnis langsam die schöne Ehe getrübt.

Die lebenssichere Intelligenz, die auch – wie alles an Gertrud Kantorowicz – der eines Naturwesens ähnlich war, zeigte ihr trotz alles Schweren, das ihr dieses Schicksal brachte, immer den Weg, den sie Simmel zuliebe gehen mußte. Sie verstand über­haupt alles, auch das Böse, zum Guten zu wenden, und es war auch dieses vollkommen Unproblematische ihres Wesens, das ihn an­gezogen hat. Sie hat ihm wirklich alles Schwere leicht gemacht. Sie hat ihn auch niemals fühlen lassen, wie schwer es ihr wurde, daß er das Kind nicht sehen wollte, und daß sie, solange er lebte, es nicht zu sich nehmen durfte. Sie verstand es, sowohl ihrer Mut­ter wie ihren nächsten Freunden und Freundinnen, selbst mir ge­genüber, bis nach Simmels Tod das Dasein dieses Kindes zu ver­bergen, so daß es ein Geheimnis zwischen beiden blieb. Ich hätte das sogar unter den gegebenen Umständen verstanden, wenn sie es mir nur verheimlicht und sich nicht mir gegenüber in ein Schwanengewand unwirklicher Jungfräulichkeit gehüllt hätte, das ich, ihr unbedingt vertrauend, für die Wirklichkeit ihres Lebens hielt, vor der mein eigenes Leben mir fast verächtlich erschien. Nach Simmels Tod, kurz vor dem Ende des ersten Weltkrieges, kam sie dann sofort zu mir, um mir ihr Geheimnis mitzuteilen. Ich hätte sie wohl liebend in die Arme nehmen und mich über ihr doch von Liebe gesegnetes Leben freuen sollen. Aber die Lüge in der besonderen Form, in der sie so lange mit mir gelebt hatte, war doch ein allzu schmerzlicher Schrecken.

Als ich sie an einem feuchten, nebligen Abend wieder zum Bahn­hof begleitet hatte, sah ich auf einem Plakat an einer Litfaßsäule die Worte geschrieben: „Menschen, die durchs Leben irren.” Ich dachte, das sind sie. Ich wußte nicht, wie sehr dieses Wort im Grund auch auf mich selbst zutraf. In der Nacht erschien mir Sim­mels Gesicht von Tränen überströmt, er sagte schluchzend: „Ver­zeih mir die Lüge.” Ich weiß heute, wo ich Psychologie besser kenne, daß dies meine eigenen Tränen waren, die über das teure Antlitz strömten.

Simmel hatte mir die Welt Bergsons, die ja so weithin die meine war, erschlossen, und von Gertrud und mir je eine Übersetzung eines von dessen Werken gefordert. Gertrud hat mit seiner Hilfe die großartige „Schöpferische Entwicklung”, ich habe die bescheidenere, aber doch zentrale „Einführung in die Metaphy­sik” übersetzt. Für mich war Bergson ein Grunderlebnis, weil sein Hauptproblem, das der Zeit, auch mein eigenes war. Einen noch stärkeren Ausdruck fand Bergsons Wissen um die Zeit in dem letzten Werk „Les deux sources de la morale et de la religion”, bedeutsam durch die tiefe religiöse Überzeugung, der es ent­stammt. Denn diesem Lebensphilosophen ist der Absturz in das Nichts eben durch seine Erfassung der Zeit erspart geblieben. Man glaubte im zweiten Weltkriege lange, daß er, einem Zug des französischen Denkens – dem er mit seinem Wissen um die Zeit eng verbunden war – folgend, zum Katholizismus übergetre­ten sei. Aber dann erfuhr man, daß er statt dessen alle ihm, dem um Frankreich Hochverdienten, angebotenen Ausnahmen von den Judengesetzen im besetzten und schon fast besiegten Frankreich abgelehnt, den gelben Stern auf der Brust getragen und als Einundachtzigjähriger, krank und einsam, nur die eine Bitte gehabt hatte, daß ein katholischer Freund an seinem Grabe sprechen möge, was dann durch Maritain geschah.

Ich las zu jener Zeit in Berlin, trotz Simmels Nähe und Einfluß und auch eines gewissen Widerstandes von seiner Seite, doch viel in dem Buch, das mir erst so spät zum Buch der Bücher wurde. Ich las in beiden Testamenten, und plötzlich wurde mir eine jähe Erleuchtung durch das unsterbliche Lied des Paulus von der Liebe. Es traf die Wurzeln meines Lebens. Ich las das Kapitel immer wieder, um es in seiner Fülle zu begreifen. Sicher ist in allen Lie­dern und Erzählungen von der Liebe etwas Erotisches und Subjektives, etwas von der Mignon-Sphäre; dies Lied ist die reine Liebe vor Gott, es ist die Liebe, die nimmer aufhört, von keiner menschlichen Beziehung verwirrt. Ich saß lange mit dem Buch allein, wie losgebunden von der Welt.

Ich schrieb an Erwin Kircher über dieses große Erlebnis. Er schrieb mir darauf aus Badenweiler, wohin er vor kurzem gebracht wor­den war, die über mein Schicksal entscheidenden Worte: „Ich kann Dich jetzt nicht in dem Sinne lieben, in dem Du dies Wort verstehst. Dennoch bist Du der einzige Mensch, an dem ich hänge. Du bist für mich immer das Leben gewesen. Aber das Leben zieht jetzt wie ein großes fernes Schiff an meinem Horizont vorüber, und ich kann es nicht erreichen.” Ein Wiedersehen war von nun an ausgeschlossen. Ich fuhr abermals an ihm, diesmal an Baden­weiler, vorüber nach den italienischen Städten, von wo ich ihm die gewünschten langen Briefe über die Kunst Italiens schrieb und unzählige Reproduktionen der von mir am meisten geliebten Werke schickte. Er antwortete mit wenigen Zeilen.

Ich lernte zuerst in Florenz, dann in Rom und auch in den übrigen Städten nicht nur große alte Kunst, ich lernte auch manche Men­schen kennen, mit denen ich gern zusammen war. Aber mein eigentliches Leben war in den Briefen und in den Werken, deren Bilder ich ihm sandte. Noch heute bewahre ich diese Aufnahmen in einem besonderen Schrank auf, und sie zeigen mir, daß ich ihm, wenn auch ohne systematische Folge, von den herrlichsten Kunst­werken gekündet habe. So reiste der Freund immer mit mir – ein treuer, schmerzlicher Begleiter. Eine geisterhaftere Reise zu zweit ist wohl nie unternommen worden. Und doch war ich damals nicht ohne Hoffnung – wie hätte ich sonst die Reise machen kön­nen. Die Schönheit, die ich sah, überwältigte mich, und es gabStunden, vor allem unter dem tiefblauen römischen Himmel, die fast heiter waren.

Mein Aufenthalt in Rom wurde durch einen jähen Schlag been­det. Ich hatte eines Nachts einen schweren Traum. Ich sah zwei Frauen in Trauerkleidern um die Ecke eines Hauses biegen. Ich wußte, obwohl ich sie damals noch nicht kannte, es waren Mutter und Schwester meines Freundes. Die langen Trauerschleier, die man damals trug, schienen mir, als ich erwachte, wie ein schweres und deutliches Zeichen; sie wehten mir in den Tag hinein nach. Eine Stunde später kam ein Brief aus Badenweiler, mit einer mir unbekannten Schrift. Ich weiß von diesem Brief nichts mehr als den einen unvergeßlichen Satz: „Seine letzte Freude war ein Brief von Ihnen, und er starb mit Ihren Blumen in der Hand.“

Was war geschehen? Nicht ein lebendiges Leben, eine Anzahl spär­licher, mühsam geschriebener Briefe war aus meinem Leben ver­schwunden, und nun war das Leben kein Leben mehr. Es war mir damals vollkommen unmöglich, wie ich es früher stets getan hatte, nach dem Tod als einem Ganzen und seinem Sinn zu fragen. Der Tod als Ganzes war mir entschwunden. Ich sah nur diesen einen furchtbaren Tod eines Menschen, der um jeden Preis leben und schaffen wollte, einen Tod, der auch mein eigenes Leben zer­störte.

Einige Tage blieb ich noch in Rom. Ich sah niemanden von den Menschen mehr, die mir dort kurze Zeit zu Freunden geworden waren. Ich blieb in meinem Zimmer eingeschlossen und weiß nur, daß die wenigen, von denen noch etwas zu mir drang, von einer hilfreichen Güte waren. Ich erinnere mich noch, mit wel­chem Schrecken ich nach Tagen in das erste Brötchen biß; es war schon im Zug, der mich von Rom entführte, und ich erschrak noch mehr, als es mir schmeckte. Lange blieb ich ganz und in fast sinn­loser Weise vom Leben abgewandt. Ich kehrte nach Berlin zurück, wohnte wieder in Westend, zusammen mit Gertrud Kantorowicz. Was ich damals an Arbeit leistete, ist mir heute völlig entfallen. Wesentliches kann es nicht gewesen sein. Etwas mehr als ein hal­bes Jahr später baten mich Simmel und Karl Joël, mit ihnen eine Reise durch Italien zu machen. Ich wies diesen schönen Vorschlag ab, durch den ich so viel hätte lernen können. Ich wußte um die Neigung beider zu mir und wollte dem Freund und dem Schmerz die Treue wahren. Ich hatte schon bei meinem ersten Aufenthalt in Italien immer den Gedanken gehabt, ein Buch über die Engel in der dortigen bildenden Kunst zu schreiben, was nun durch meine Absage völlig vereitelt wurde. Und immer, wenn ich an Simmels tiefe Bekenntnisworte angesichts der Todesmosaiken von Ravenna denke, die er gerade Joël gegenüber äußerte, befällt mich eine große Reue, sie durch diese Ablehnung nie gesehen zu haben. Gewiß, es sind nach Kirchers frühem Tod noch viele Menschen in mein Leben getreten, aber jedes spätere Schicksal scheint mir noch heute von diesem frühen mitbestimmt. So ist mir auch ein Mensch aus seiner nächsten Nähe, seine ganz anders geartete, aber kluge, die Menschen und Dinge verstehende jüngere Schwester bis heute nahe geblieben. Damals ein reizendes junges Mädchen, hatte sie so sehr an ihren beiden Brüdern gehangen, daß sie, nach meiner Überzeugung, durch ihre Beziehung zu ihnen unverhei­ratet geblieben ist.

Im Jahre 1902 erschien eines Tages Heinrich Simon bei mir, der ein naher Freund von Erwin Kircher gewesen war. Ich sehe ihn noch, wie er in Westend zum erstenmal mein Zimmer betrat, wie aus seinen warmen blauen Augen ein ganzer Strom von Sympathie mir entgegenflutete. Er kam als der Abgesandte meines verstor­benen Freundes, dem er viel Gutes erwiesen, dem er auch durch sein meisterhaftes Klavierspiel manche schwere Stunde erleichtert hatte. Auch zwischen uns entstand bald eine Freundschaft, die uns ein Leben lang verbinden sollte, wie verschieden auch alles in un­ser beider Leben war. Er war damals ein von allen äußeren Um­ständen unabhängiger und sehr geistvoller junger Mensch. Er hatte die vorbehaltlose Noblesse eines reichen jungen Mannes und keinerlei soziale Hemmung. Er sprühte vor Geist und Le­bensfreude – es war unmöglich, ihm nicht gut zu sein. Es lag ihm nun vor allem daran, Erwin Kirchers hinterlassenes Buch über die Romantik mit mir gemeinsam herauszugeben. Ich zögerte an­fangs, weil Kircher sein Buch für durchaus unvollendet gehalten und darum die Veröffentlichung nicht gewünscht, ja, geradezu ver­boten hatte. Es fand sich dann aber so viel kostbares Material, daß ich es als Pflicht empfand, all dies nicht verlorengehen zu lassen. Leider war das Buch aber dann doch zu fragmentarisch, als daß es in der Geschichte der Literatur den ihm gebührenden Platz hätte einnehmen können. Und doch haben mir im Laufe der Jahre manche, besonders junge Menschen von der Wirkung erzählt, die es auf sie ausübe.

Vor kurzem las ich darin zum erstenmal seit seinem Erscheinen den Aufsatz über Schelling, der deutlich Kirchers eigene Haltung spiegelt, und dann den Aufsatz über Schelling in Lukács’ vor kur­zem geschriebenen Buch „Die Zerstörung der Vernunft”. Der ganze Abgrund zwischen den beiden WeIten, durch die ich selbst gegangen bin, ist darin ausgedrückt. Kircher lebte noch in einer größeren Nähe zur Romantik, wobei er unter Romantik aller­dings etwas nur ihm Eigenes, fast Nüchtern-Unsentimentales, aber tief vom Leben und Geist Geprägtes, sehr Lichtes und Kühles, weil Distanz zum Leben Wahrendes verstand.

Bald nachdem Simmel aus Italien zurückgekehrt war, lernte ich an einem Abend bei ihm seinen Lieblingsschüler Bernhard Groethuysen kennen. Ich fand an dem, was er an jenem Abend sagte, nichts eigentlich Ungewöhnliches, ich erinnere mich aber, daß er von sozialen Umständen sprach, was in diesem Hause nicht üblich war; etwas Fremdartiges schimmerte hindurch. Er saß mir beim Abendessen gegenüber, und obwohl mir Ähnliches nicht unge­wohnt war, kann ich mich doch kaum erinnern, daß je vorher mich ein Mensch in so ganz besonderer Weise unablässig, ohne je den Blick von mir zu wenden, angesehen hat. Es lag in diesem Blick nichts Unbescheidenes, wohl aber eine stumme Frage. Ich weiß nicht, ob ich sie je ganz beantwortet habe. Eine gewisse Antwort darauf gibt vielleicht ein viel späterer Brief von Groethuysen, den ich darum hier einfügen möchte:

 

„Liebe Freundin,

 

Es ist mir immer, als verstände ich durch Sie die Welt besser. Ich meine das so: Sie heben irgendwie die Weltnegation auf, die in jeder Erkennt­nis liegt, durch ein merkwürdiges ,Es ist da'. Ein Dasein der Präsenz und der Gründe.

Als Wanderer möchte ich das nicht anerkennen. Aber Sie sind wie je­mand, der aus der Stadt gebürtig ist und dort wohnt. Es geht einem manchmal auf Reisen so. Man ist in einer Stadt angekommen und sieht sich um, weiß auch manches von dieser Stadt zu sagen. Aber da sind Menschen, die in der Stadt wohnen. Sie leben in der Präsenz dieser Häu­ser, und sie gehen diese Straße entlang und nicht jene andere, und alles hat seinen Grund: zeitlich und räumlich und für jeden verschieden. Ich möchte alle Gründe zusammenfassen in einen Grund, und dieser Grund soll die Begründung sein. Aber die Häuser stehen da. Auch bleiben die Stunden des Tages. Und jede hat etwas zu sagen. Da begegnete ich Ihnen, und nun verstehe ich vieles. Nicht alles. Ich werde noch vieles zu fragen haben. Die Angst aber vor den Menschen und ihren Häusern wird mir wohl immer bleiben. – Darum eben suche ich eine Lösung im Geiste. Aber das ist doch nicht alles. Ein ,Ich-sein-Können' ohne Gott: vielleicht ist das das eigentliche Problem. Es wäre ein Mensch ganz allein in der Welt, der letzte Mensch. Könnte er noch Ich sagen? Die Pflanze, die Tiere, die Berge, die Sterne würden ihm sagen: sei unser, laß dein Ich fahren. Er aber würde ausrufen: Du weißt doch, daß ich Ich bin. Aber keiner wäre da, ihm Antwort zu geben. So würde er nur mit sich allein reden: ein letzter Monolog in einer einsamen Welt. – Da begegnete ich Ihnen, und nun verstehe ich vieles, nicht alles. – Reden wir dann wieder miteinander, liebe Freundin, wie so oft schon die Jahre entlang an weit voneinander abgelegenen Orten. Manchmal glaube ich, es wäre dasselbe Gespräch – nur unterbrochen durch Schweigen.

 

Ihr treuer B. Groethuysen.”

 

Ich weiß nicht, ob er mich in diesem Brief so gesehen hat, wie ich wirklich war und bin. Auf jeden Fall war unsere Beziehung durch diese Äußerung gekennzeichnet.

Ich lebte damals so in meinem Schmerz dahin, bis ich endlich ­etwa im Jahre 1903 – den Entschluß faßte, in einem großen Pari­ser Atelier wieder Malerei zu studieren. Meine bedeutsamste Er­innerung knüpft sich hier daran, daß ich mit Braque zusammen studierte und die Anfänge seiner Entwicklung miterlebte. Ich er­innere mich, wie uns einmal ein Stück eines Aktes von ihm als Vorbild gezeigt wurde. Es enthielt alle Farben und erschien doch ganz hell und eins. Es war noch keine Spur von dem darin zu sehen, was später aus Braques Kunst geworden ist. Und so ist es mir mit vielen Künstlern gegangen, zunächst mit Picasso, der mit der zartesten Menschendarstellung begann und sich dann der Ent­wicklung einer ganz anderen Stilrichtung einfügte. Ich denke da­bei vor allem an ein ergreifendes Frauengesicht von Picasso, durch das eine kleine Eisenbahn hin durchfährt und aus dessen Augen Tränen hervorströmen. Es spiegelt eine erschütternde Mischung von Menschlichkeit und Technik. Aber auch viele andere moderne Maler sind ja in dieser Zeit zu einer ganz anderen Lebensdeutung als der ihres Anfangs übergegangen. Ich habe mich öfter gefragt, wie vieles davon unbewußte Notwendigkeit oder bewußte Wand­lung war. – Doch sind ja auch alle anderen Künste: die Musik, die Dichtkunst in unserer veränderten Welt zu neuen Darstellungs­weisen übergegangen, und wir fühlen ja auch, daß eine Kunst wie die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr unser heutiges Leben ausdrücken kann. Schon damals, als ich in Paris studierte, ent­stand eine ganz neue, alle anderen Künste übergreifende Kunst­form: der Expressionismus. Was ist mit diesem Wort gesagt, was alles hat in ihm Gestalt gewonnen! In einem Meer von schwel­genden Farben, wirren und verzerrten Gestalten ist hier ein Letz­tes ausgesagt. Es sind die entgegengesetztesten Erscheinungen, und vielleicht ist ihnen allen nur eines gemeinsam: der Schmerz und die glühende Pracht der Farben. Es ist wie ein einziger gro­ßer Schrei, der nicht mehr wie bei Stefan George „durch güldne Harfe sausen” muß, sondern unverwandelt aus der Tiefe des Lebens und Leidens emporsteigt.

Mit dieser Kunst bricht ein neues Leben, ein neues und stärkeres Lebensgefühl in das menschliche Dasein ein, das schwer mit dem „ennui”, der tödlichen Langeweile, die auch um die Jahrhundert­wende die Welt beherrschte, zu vereinen ist. Dieser „ennui” war das Gefühl des Nichts, des „néant”, der tödlichen Leere, die ge­rade durch die größten Geister ihre stärkste Aussage erfuhr. Noch vor den entsetzlichen Schicksalen, die unsere Welt verwü­stet haben, ist hier ein Unaussprechliches ausgesprochen. Warum gerade diese Welt auf einmal so in Farben aufloht, in Farben, wie keine frühere Kunst sie kennt, und in denen vor allem das Blau als die durchsichtigste, transparenteste Farbe, die alles verschweigt und alles ahnen läßt, aber auch Purpur und Gold sich ans Licht drängen, und auch ein gespenstisches Weiß daneben webt, das ist wohl, weil Leben und Tod in einem Übermaß farbiger Symbole hier ihren Ausdruck gewinnen wollen. Ein seltsames Wesen und Unwesen treibt hier sein Werk. Es ist hier nichts Verschlossenes wie in der späteren, die Welt und die Wahrheit verschweigenden oder in ihrer Leere offenbarenden Kunst, in der wir mit dem Wort Hölderlins „Zeichen - deutungslos” geworden sind.

            Aber dies erscheint mir als die Größe und Bedeutung dieser gan­zen Kunstepoche, daß in ihr Verzerrung und Elend der Welt schon flammend vorempfunden sind. Die idealistische wie positivistische Weltdeutung sind in ihr nicht nur erschüttert, sie haben keine Geltung mehr, und die Worte: Reinheit und Schuld, wie ein Trakl sie ausruft, haben in der modernen Welt wenigstens nie einen sol­chen Ausdruck gefunden. Wenn wir aber auch die Musik beden­ken, steigt bereits im vergangenen Jahrhundert das Bild eines übergewaltigen Menschen auf, der, wie immer man ihn beurteilen mag, aus dem Nichts Schopenhauers eine ganze Götter- und Men­schenwelt heraufbeschworen hat: Richard Wagner. Das stürzende Feuer der Wagnerschen Musik in Dichtung und Klang ist so sehr Zeugnis gewaltiger Größe, daß man sie fast als Vorläufer schwer­ster deutscher Erfahrungen sehen kann. Seine Götter- und Men­schengestalten prägten die deutsche Wirklichkeit in zweifacher übermächtiger Weise, die ich in meiner Jugend nur erst ahnend begriff. In dieser Dichtung und in dieser Musik lodert etwas aus der Tiefe germanischen Wesens auf. Irgendwie waren wir wohl alle diesem dämonischen Wesen verfallen, dessen Verrats-Charak­ter wir erst in einer sehr viel späteren Zeit erkannten. Sieht man in Wagners großartigen, auch menschlich einzigartigen Briefen seine schmerzliche Ablehnung der Kunst, der er doch verfallen war – Äußerungen eines Menschen, der als Letztes nicht das Schaffen, sondern das menschliche Leben sucht, der vollends wie Tristan in der Liebe nicht die Tiefe des Lebens, sondern die des Todes ausgelotet hat –, so fühlt man die mächtige Doppelspurig­keit und Zwiespältigkeit dieses Geistes, wie sie vor allem im „Tann­häuser” in gewaltiger Weise verkörpert ist. Sein großes Wort über den Anarchismus, zum Teil aus der Freundschaft mit Bakunin stammend, spiegelt den ganzen gewaltigen Umfang seines Wesens wider. „Kein einzelner kann glücklich sein, ehe wir es nicht alle sind, wie kein einzelner frei sein kann, ehe wir nicht alle frei sind.” Wer könnte glauben, daß dies ganz dem Leben zugewandte Wort von demselben Wagner gesprochen ist, der dann doch mit seiner ganzen Schwere im Venusberg der Kunst versank. Und doch, dieser Mensch, der Götter und Heroen schaffen konnte und dabei nichts anderes wollte als ein Menschendasein leben, der wie Michelangelo in seinen Sonetten die Kunst als irdische Versuchung von sich zu werfen strebte, um ein wahrhaftiges Le­ben zu leben, und der die Kunst als Schuld gegen das ihm wahr­haft Aufgegebene empfand – wie ganz ist er als großer Künst­ler in der Kunst untergegangen.

Es ist ja sicher eine letzte Wahrheit, daß dem Allerhöchsten gegen­über nur das gelebte Leben zählt, und das Verbot von Bild und Gleichnis gilt nicht nur für das Alte Testament – es gilt für alles Menschenleben. Und das unendliche Leiden des großen Künstlers entspringt daraus, daß er es seiner Art nach nicht erfüllen kann, obwohl er es vor allen anderen weiß. Es ist ja auch ein ungeheures Geheimnis, daß gerade die allergrößten Menschen fast immer nur geschaffen haben, statt zu leben. Wahrhaft zu leben vermögen nur die Heiligen. Und gerade darum wohl die Sehnsucht der größten Künstler, die wie Richard Wagner lieber sterben als leben wollen. So hat mir die Kunst und der Künstler ganze Strecken des Lebens erschlossen – in der bildenden Kunst, in der Musik, in der Dich­tung.

Meine erste vereinzelte Begegnung mit Tolstoi war die mit „Anna Karenina” gewesen – noch früher als die mit Rembrandts „David vor Saul”, und ich hatte an ihr ein verwandtes Erlebnis einer ganz neuen Gestaltung. Wie bei Rembrandt der Raum, so schien mir hier die Zeit auf eine nie erlebte Weise umgestaltet. Daß der betrogene Gatte, nachdem er auf dem Sterbebett den beiden Schuldigen verziehen hat, wider alles Erwarten ins Leben zurück­kehrt, schafft hier ein völlig neues Problem.

Ich habe dann später in Paris vieles gesehen und gelernt, aber auch diese Zeit war drückend. Ich war trotz mancher, sogar naher Freunde im Grunde immer allein und nur halb den Men­schen zugewandt. Und doch erinnere ich mich meiner eigentüm­lichen Rückkehr ins Leben ganz deutlich: Ich lag in meinem schmalen Pensionsbett, mir schräg gegenüber der Kamin, in dem die aufgehäuften Eierbriketts ruhig brannten. Eine große Ruhe kam über mich, und ich fühlte, daß diese Ruhe Leben war – Le­ben, das mir so lange verschlossen gewesen war. Welch seltsames Gefühl, sich wieder lebend zu empfinden. Ohne bestimmten Le­bensgehalt, ohne Leidenschaft, einfach zu leben, leben zu können.

Ich erhielt dann auch bald viele Besuche, die mich in ein wacheres Leben hineinführten. Zunächst kam Simmel, dann Heinrich Si­mon. Heinrich Simon fesselte mich dadurch, daß ihm, wie kaum einem anderen Menschen, immer etwas Neues einfiel, und durch die freie Art seines Lebens, die ihm sein großer Reichtum ermög­lichte und durch die er mich über Gebühr verwöhnte.

Eines Tages in dieser Zeit bat mich Simmel, mit ihm Groethuysen von der Bahn abzuholen. Als ich ihn sah, erschien es mir, als hätte ich dies Gesicht nie vorher gesehen. Es war das Gesicht eines be­deutenden, ja, eines genialen Menschen, das einen fast wilden Ausdruck hatte, der nur durch die hellen, durchsichtigen Denker­augen wie gezähmt erschien. Mit diesem Ausdruck hängt sein Ju­gendbild noch heute in meinem Arbeitszimmer. Er, der Lieblingsschüler der beiden philosophischen Antipoden Simmel und Dilthey, hatte von beiden etwas in sich aufgenommen und doch beides auf seine eigene Weise verarbeitet, jedem ein eigenes Lebendiges ent­gegengesetzt. Denn er war zwar nicht, wie jene beiden, ein Lebens­philosoph, sondern ein aller Wirklichkeit mit einer seltenen Le­bendigkeit gegenüberstehender Denker.

Im Eigensten war er ein leidenschaftlich unbürgerlicher Mensch, den ich damals hierin noch nicht ganz verstand. In seinem Denken hatte im Grunde Dilthey über Simmel gesiegt, indem er ihn von seiner urmetaphysischen Anlage in die Erforschung der Geschichte verwies, wo freilich auch seine Entdeckungen wesentlich meta­physische waren. In Frankreich durchforschte er alle nur erreich­baren Archive, um Zeugnisse aus der vorrevolutionären Zeit auf­zufinden, wobei ihm die Äußerungen der Menschen aus einfach­stem Stande nicht weniger wichtig waren als die der Fürsten und Philosophen. Die ganze französische Philosophie und in ihr vor allem die Lehre der Jansenisten haben seine Forschung bestimmt. Indem er die Entstehung des Bürgertums auf dem Hintergrund der machtvollen mittelalterlichen Kirche in Frankreich schilderte, brachte er zugleich die Entstehung einer völlig veränderten Welt und einer neuen, unendlich geringeren Moral zum Ausdruck, die wirksam wurde durch den Zerfall des Ewigen, könnte man sagen, dem nun ein Zeitliches, rein auf irdische Güter Gerichtetes ge­genübertrat, jedes Verlangen nach einer höheren Warte dagegen erloschen war, „in der die Bilanzen der Geschäftsbücher” an die Stelle des Glaubens an eine höhere Welt und des Glaubens an ein gottgebundenes Leben und Denken traten.

Nirgends wohl ist das Bürgertum, der Bourgeois im Gegensatz zum Citoyen in seiner Bejahung des nackten Lebens, in seiner gan­zen Erbärmlichkeit so überzeugend dargestellt wie in den zwei Bänden seines Werkes „Der Bürger in Frankreich”, das nur ein durchaus heutiger Mensch, in dem jedoch ein Religiöses noch tief verborgen lebt, schreiben konnte. Bereits in dieser sehr stillen, das religiöse Wissen verschweigenden Darstellungsweise ist etwas von jenem „understatement” spürbar, zu dem aus ganz anderen und doch auch verwandten Gründen in einer weit tiefer verdüsterten Zeit die heutige Sprache wieder gelangt ist.

Unser persönliches Verhältnis war von ganz besonderer Art: Auf langen nächtlichen Spaziergängen war für Groethuysen in allen unseren Gesprächen die Liebe fast das einzige Problem, doch sah er in ihr eine gespenstische Macht, die nicht in der Wirklichkeit einzufangen war. Ich wußte damals sein tiefes Erröten bei jeder unserer Begegnungen schwer mit dieser Haltung in Einklang zu bringen, aber wie immer glaubte ich dem Wort als der stärkeren Offenbarung. Und immer war bei Groethuysen das Wort, vor allem das mündliche, von solcher Überzeugungskraft, daß Worte von ihm auch später noch wie Messer in mein Leben eingeschnit­ten oder es wie ein jäher Blitz erleuchtet haben. Durch seine ge­spenstische Auffassung der Liebe hat er mich aber damals sicher noch tiefer in ein Bündnis hineingetrieben, das mir Leben und wirkliche Liebe an Stelle einer schattenhaften, wirklichkeitsfrem­den Beziehung verhieß.

 

 

LEBENSWENDE

 

 

Eben zu jener Zeit geschah es, daß ich eines Tages in den Champs­-Elysées, nicht weit von der Etoile, mit einigen jungen Leuten aus einem Hause trat, in dem ich zum erstenmal nach all den Jahren Eduard von Bendemann wieder begegnet war: und plötzlich sah ich, daß alle Bäume nach einem langen Winter mit einem zarten Grün bedeckt waren. „Es ist ja Frühling geworden”, sagte ich. Er hat mir dies Wort später oft wiederholt. Es erschien ihm offen­bar wie ein Zeichen.

Und dann kam bald der Abend in der Closerie des Lilas. Ich traf ihn dort an einem schönen Frühlingsabend. Wir sprachen persön­licher als gewöhnlich. Er sagte mir, wie er damals in Düsseldorf in mich verliebt gewesen sei. Ich erwiderte: „Sie denken wohl, ich sei auch in Sie verliebt gewesen?” Er sagte: „Vielleicht, ein biß­chen.” – Dies Wort traf mich als ein so völliges Mißverständnis, daß mir nach dem langen, eigentlich unnatürlichen Schweigen un­willkürlich die Wahrheit entfuhr: „Sie irren sich, ich war nicht in Sie verliebt, ich habe Sie geliebt.”

Von da an war alles zwischen uns verändert. Dies Wort hatte ihn wie ein Blitzstrahl getroffen und eine Liebe in ihm entzündet, die über alles Dunkel hinweg ein Leben lang währen sollte. Die Wir­kung dieses Wortes war nicht mehr rückgängig zu machen; er war ein vollkommen verwandelter Mensch, und ich selbst war von die­ser Wandlung so betroffen, daß mich die Vergangenheit mit ihren mächtigen Flügeln streifte.

Am Morgen, nachdem dies Gespräch stattgefunden hatte, war ich in einem Bach-Konzert. Ich saß hinter einer breiten Säule, und während die Töne mich überströmten, strömten unaufhörlich die Tränen über mein Gesicht. Ich wußte nicht, warum ich weinte, es löste sich etwas in meinem Innern, das war das einzige, was ich erkannte. Glück war es nicht, aber ein Strom von Erinnerungen, aufgetautes, hinschmelzendes Leid, Leid langer, schmerzvoll ver­lorener Jahre. Zum Mittag hatten wir uns an der Rue de Rivoli verabredet, und als er auf mich zukam, sah ich, daß auch er lange und wie erlösend geweint hatte. Dies hat wohl endgültig über mein Schicksal entschieden. Es kam aber dann auch noch das andere hinzu, daß er, als wir uns näher traten, mein Erlebnis mit Erwin Kircher auf eine wunderbare Weise verstand. Wir blieben noch einige Monate in Paris.

In all dem erblickte ich damals mein Leben neu, und ich fühlte die halb schmerzliche Beglückung, daß ein Traum, eine Sehnsucht, die nie erfüllt gewesen, plötzlich Wirklichkeit geworden war, ver­stärkt noch dadurch, daß ich erlebte, wie ein im Grunde kühler Mensch plötzlich zu einer wahren Liebe erwachte. Ich fragte mich damals kaum, wer der Mann war, der so plötzlich wieder in mein Leben trat, obwohl ich ihn doch an bedeutenderen Geistern mes­sen konnte. Er war einfach die Liebe meiner Jugend. Noch wäh­rend des Pariser Aufenthaltes verlobten wir uns. Ich fuhr damals wieder nach Berlin. Er folgte mir wenige Wochen später nach.

Als ich Heinrich Simon dann in Berlin von unserer Verlobung er­zählte, erblaßte er, und es traten ihm Tränen in die Augen. Und es kam mir einen Augenblick die Frage, ob ich nicht mehr zu ihm, der aus der Welt meines Freundes stammte, als zu meinem Ver­lobten gehörte. Aber ich hatte dem Traum meiner Jugend nach langen Jahren mein Wort gegeben, und erst sehr viel später wurde mir der Traumcharakter dieser Liebe klar. Heinrich Simon aber blieb mir auch damals ein treuer Freund; wir arbeiteten während meiner Verlobungszeit an dem Buch von Kircher weiter. Er folgte mir auch später auf der Hochzeitsreise nach Florenz, und wir arbeiteten auch dort an dem reichen Material des Buches. Mir erschien dies selbstverständlich, und bei der Eigenart dieser Be­ziehung hat sich sicher auch mein Mann – dem ich gesagt hatte, daß ich meine Freunde ebensowenig wie meine Arbeit aufgeben werde – ohne weiteres darein gefunden. Ich frage mich jetzt oft, wie ich mit Heinrich Simon, einem Menschen, von dessen Leben ich doch keine Ahnung hatte, so friedlich vorbehaltlos verkehren konnte. Aber eben darum hat er mir wohl auch um Jahre später noch geschrieben, ich könne keine wahre Freundin sein, weil ich das Böse nicht verstehe. Ich weiß jetzt, daß dies wirklich eine Schranke meines Lebens und Begreifens war; sie bewirkte nicht, daß ich das Böse an anderen, mir teuren Menschen verwarf, son­dern daß ich – was sicher für diese viel sinnloser war – das Böse an ihnen gar nicht erkannte. Es hat sich aber trotzdem die Freund­schaft mit diesem vielspältigen Menschen bis an das Ende seines Lebens erhalten. Der nicht lange nach seiner Auswanderung nach Amerika plötzlich erfolgte Tod hat mir einen tiefen und lange andauernden Schmerz bereitet, so, als ob ein Glied in meinem Leben fehlte.

Doch ich kehre in jene frühere Zeit zurück. Nach einigen Mona­ten in Berlin fühlte ich, daß ich das spät geknüpfte Band meiner Verlobung trotz aller inneren Einwendungen dennoch wieder lösen müßte. Dies mündlich zu tun war mir unmöglich. Ich be­schloß, zu meiner Schwester nach Hannover zu reisen und Eduard von Bendemann von dort aus einen Brief zu schreiben. Und hier fiel nun die letzte Entscheidung ganz anders, als ich sie mir ge­dacht hatte. Er brachte mich an den Schnellzug nach Hannover. Im letzten Augenblick vor der Abfahrt sprang er mir nach in den Zug, ohne Mantel, ohne Gepäck, und das hieß, da der Zug nir­gends anhielt, daß er bis Hannover mitfuhr, um damit meine von ihm sicher geahnte Absicht zu vereiteln.

Nun war ich mit meinen Kräften zu Ende. Er war den ganzen Tag bei meiner Schwester, und ich hoffte immer noch, daß das Schick­sal irgendeinen Ausweg finden würde. Ich wußte nicht oder konnte nicht bis zum Ende begreifen, wie sehr wir selbst unser Schicksal sind. Aber es wurde dann auch noch in einer anderen Hinsicht für mich ganz unmöglich, mich von ihm zu lösen, denn es gab noch einen anderen Grund, weshalb ich meinen Verlobten nicht verlassen hätte: die Atmosphäre seines Elternhauses. Ich war, nachdem er meiner Mutter den üblichen Besuch gemacht hatte, zu seinen Eltern nach Wilhelmshaven eingeladen worden. Vor allem zwischen der schönen Mutter meines Verlobten und seiner jüngsten Schwester und mir entspann sich sogleich eine starke Beziehung. Auch sein Vater machte einen starken Eindruck auf mich. Aber erst sehr viel später habe ich begriffen, warum in den Monaten in Paris mein Verlobter so viel und oft verbittert von seinem Vater gesprochen hatte, und erst nach Jahren wurde mir klar, wie sehr dieser Admiral mit der unversöhnlichen Strenge eines preußischen Offiziers das Leben seines Sohnes bedrückt und gebrochen hatte. Und als ich später zur Vertrauten meiner Schwie­gereltern wurde, erfuhr ich von meiner Schwiegermutter, sie habe ihren Mann so sehr geliebt, daß sie gegen ihre sechs Kinder zu kühl gewesen sei. Ich erkannte aber schon bei meinem ersten Be­such in Wilhelmshaven, daß mein Verlobter in seinem Elternhaus nicht heimisch war, ich ihm darum um so mehr Liebe geben müsse, daß er mir gleichsam anvertraut war. Wieder lag ein verwundeter Vogel auf meinem Weg, und wieder war ich gezwun­gen, ihn aufzuheben.

Nun kam noch eine andere Entscheidung. Meine Schwiegereltern wünschten dringend, daß ich mich taufen ließe. Mein Verlobter hatte keinen Anteil daran. Es waren nur seine Eltern, die meine Taufe wünschten. Und sie bedrängten mich mit dieser Frage sehr, und da mir zu dieser Zeit durch vielerlei theologische Lektüre das Christentum fast näher war als das Judentum (von dem ich ja viel zuwenig wußte), willigte ich ein, bei einem Pfarrer in Hannover den üblichen Unterricht zu nehmen. Vergleiche ich heute diese Stunden mit denen bei Dr.Seligmann, so wird mir der ganze Unterschied, nicht nur zwischen den beiden Religionen und beiden Lehrern, sondern auch der der religiösen Substanz mei­nes Lebens sichtbar. Aber ich lebte in der Zeit meiner Verlobung in einem seltsamen Zwischenreich von Traum und Wirklichkeit, in dem ich alles symbolisch erfaßte und so auch die Grundlehre des Christentums von Tod, Erlösung und Auferstehung.

Der Tag der Taufe war schon festgesetzt. Am Abend vorher er­griff mich plötzlich die Gewißheit der vollkommenen Unmöglich­keit, die Grundlagen meines Lebens auszulöschen. Ich sandte dem Pfarrer ein Telegramm, daß mir die Taufe unmöglich sei. – So war dies Kapitel abgeschlossen zum Kummer meiner Schwiegereltern, die mir aber trotzdem immer nah verbunden blieben. Unsere Hochzeit fand dann im Hause meiner Schwester statt. Ich habe über unsere Ehe auch zu den vertrautesten Menschen nie ein Wort gesprochen, weil mir dies als eine Art Untreue erschienen wäre; so möchte ich auch jetzt nichts von ihr erzählen. Ich kann nur sagen, es war eine gute Ehe, in der trotz der Verschiedenheit der Naturen nie ein böses Wort gefallen ist. Doch weiß ich heute, daß ich mit dieser Ehe den Fehler begangen habe, den Goethe in den Wahlverwandtschaften rügt: daß ich auf einer späteren Stufe eine Verbindung eingegangen bin, die auf einer früheren angelegt und nicht gelebt worden war. Auch hier das Problem der Rechtzeitig­keit, das in meinem Leben eine so große Rolle gespielt hat. Eine Schranke aber gegen eine vollkommen gelebte Ehe lag aber auch darin, daß mit meinem Mann über persönliche Dinge zu reden ganz unmöglich war. Er, der sich objektiv wissenschaftlich über fast alles äußern konnte, verstummte und geriet in Verzweiflung, wenn ein Persönliches, das ihm nahe ging, irgendwie angerührt wurde.

Wir hatten vor unserer Reise nach Florenz nicht weit von Simmels eine schöne kleine Wohnung gefunden, in die wir nun bei der Rückkehr einzogen. Kaum ein Jahr nach unserer Heirat wurde unser Sohn geboren. Es war eine sehr schwere Geburt, vor allem wohl darum, weil ich vor der Verantwortung zurückschreckte, ein neues, mit Schicksal und Tod beladenes Leben in diese mir fremde Welt zu setzen. Das kleine, anfangs häßliche Geschöpf wuchs bald zu einem sehr schönen und seltsam begabten Kind heran, das ge­rade in seinen frühen Jahren die tiefsten und eigentümlichsten Gedanken aussprach. Mit vier Jahren stellte er mir beim Frühstück die erste philosophische Frage: „Sieht man eigentlich die Sachen richtig?” Und als ich ihn fragte, wie er das meine, antwortete er nicht weniger philosophisch, aber etwas anschaulicher und gröber: „Ist mein Butterbrot keine Eisenbahn?” Er suchte von da an in allem, was er sah, zunächst die Wahrheit zu begreifen und traute dem Schein der Dinge nicht. Stets stellte er aus sich selbst diese Fragen, ich habe ihn nie darauf hingewiesen und ebensowenig darin bestärkt.

Und während er später, noch mit zehn, elf Jahren, in der Schule die primitivsten Aufsätze über die einfachsten Dinge schrieb, schrieb er zu Hause die tiefsinnigsten Gedanken über Raum, Zeit und Ewigkeit, die uns immer wieder verblüfften, und er schrieb sie im reinen philosophischen Stil. Er selbst begriff es so wenig wie ich, woher ihm diese Erschließungen kamen, aber sie brachen stets neu aus ihm hervor. Auch ihm war, wie mir, das Äußere fremd, es war ihm noch mehr als mir ein Traum. „Liegen wir nicht eigentlich im Grabe und träumen nur das Leben?” – das war eine seiner fast bestürzenden Fragen. Und nur der großen Schönheit und Richtigkeit wegen möchte ich noch eine Frage hier­her setzen, die er mir mit fünf Jahren stellte: „Wenn etwas brennt, was nicht soll – nennt man's dann Feuer? Und wenn etwas brennt, was soll – nennt man's dann Licht?”

Meine Mutter hat ihren Enkel als sehr kleines Kind noch gese­hen – aber wohl kaum mit vollem Bewußtsein. Ihr Tod, der nicht lange darauf erfolgte (wir hatten sie in den letzten Jahren, da sie die Aufnahme jeder Nahrung verweigerte, in einer Anstalt unter­bringen müssen), war dem meines Vaters genau entgegengesetzt. Mein Vater war an einem strahlenden Frühlingsabend, plötzlich von einem Schlaganfall betroffen, kaum anders als ein gefällter Baum, ohne ein Wort umgesunken. Meine arme Mutter war, nach­dem sie schon lange vorher das innere Band des Lebens, das Ge­dächtnis, verloren und dadurch kaum mehr Anteil am Leben ge­nommen hatte, nach einer langen Zeit des Leidens schwer und mühsam dahingegangen.

 

 

NEUE ARBEIT UND BEGEGNUNGEN

 

 

Heinrich Simon war, als wir in Westend lebten, etwa im Jahre 1910, eines Tages zu mir gekommen, um mir zu sagen, es sei ihm als Erben seines Großvaters die Herausgabe und Chefredaktion der „Frankfurter Zeitung” angeboten worden. Er erbat sich mei­nen Rat dazu. Er hätte sich an keinen Menschen wenden können, der weniger davon verstand als ich, die nichts vom Zeitungswesen ahnte und ebensowenig von der Macht, die damit in seine Hände gelegt war, und von den ungeheuren Gefahren dieser Macht. Ich sah nur, daß seinem unruhig schweifenden Leben damit eine Fe­stigkeit gegeben wurde, daß er zu einer großen Leistung berufen war, und riet ihm unbedenklich zu.

Wenn man ihn dann später öffentlich von der Bühne herunter den König von Frankfurt nannte, so war damit, was die Macht über Menschen und über die städtischen Verhältnisse betrifft, nicht zu­viel gesagt. Ich habe das mehr als einmal erfahren und sah, wie sich sein Charakter durch die Macht in einer mir zuweilen schmerz­lichen Weise veränderte. Doch ist er mir immer ein treuer Freund geblieben. Er führte ein großes Haus, in dem ich oft eingeladen war. Die schönsten Stunden aber waren die, in denen er mir allein wunderbar auf seinem Flügel vorspielte; dann fielen alle Macht und all das Ungute, was ihr anhaftet, von ihm ab.

Heinrich Simon hat als Herausgeber der „Frankfurter Zeitung” wirklich fruchtbare Arbeit geleistet. „Arbeit am Tage”, wie er eine sein Wirken zusammenfassende Schrift genannt hat, war wirk­lich sein Werk. Später, als er die Leitung der Zeitung zu Beginn der Hitlerregierung niederlegen mußte, setzte er den Bruder von Erwin Kircher, dem ich einst eine Stellung an der Zeitung ver­schafft hatte, an seine Stelle. Dieser, Rudolf Kircher, hatte zwar nicht die Größe seines frühverstorbenen Bruders, aber auch er war ein bedeutender Mensch. Alle durch Hitler zerrütteten Exi­stenzen in Deutschland, auch diese, waren für uns aus der Ferne, in der wir lebten, nicht wirklich zu durchschauen. Es war für uns alle damals erschütternd, daß er, der alles Wesentliche seines Lebens Juden verdankte, nun so selbstverständlich in die Bahn Hitlers einschwenkte. Doch erfuhr ich später von seiner Frau, die mich nach dem Kriege immer wieder beharrlich aufsuchte, daß sich das nicht so einfach und selbstverständlich vollzog, wie es von außen den Anschein hatte, ja, wenn ich ihren Worten glau­ben darf, so war sie es selbst, die ihn als Mutter von vier uner­wachsenen Kindern in diesen Entschluß hineingetrieben hatte. Daß Rudolf Kircher, der kühle, verschlossene Mensch, beim Aus­bruch des zweiten Weltkrieges in Tränen ausbrach, ist mir von mehr als einer Seite bezeugt worden.

Einige Jahre vorher erhielt ich eines Tages einen Brief von Gustav Landauer, der uns zu einem Abend in Hermsdorf einlud. Er hatte mein neues Buch „Vom Sinn der Liebe” gelesen und später sehr schön darüber geschrieben. Gustav Landauer war schon äußerlich eine schöne und edle Erscheinung, dazu ein Mensch von reichem Wissen, der eine strenge mitmenschliche Verantwortung fühlte und sich in seinem „Aufruf zum Sozialismus” an die Men­schen wandte, „die es nicht aushalten wie ich”. Er wurde uns bei­den bald zum nahen Freund, dessen Gesinnung uns zum Vorbild wurde: zu einem Vorbild, dessen ganze Forderung und Opfer­kraft wir freilich erst in einer späteren Zeit verstehen lernten, als er sie durch die Hingabe seines Lebens bewährte.

Todbereit und todgeweiht war er allem Lebendigen aufgetan. Auch sein praktischer Gedanke an Siedlungen einander naheste­hender Menschen leuchtete uns beiden, besonders meinem Manne ein. Landauers zahlreiche Schriften voll ernster Weisheit, sein Unglaube und sein Glaube an die Menschen, ordneten ihn in die anarchistische Bewegung ein, der so viele große Geister wie Proudhon, Bakunin, Kropotkin und seltsamerweise auch der junge Richard Wagner angehört hatten. In seinem literarischen Werk beschäftigte sich Landauer mit fast allem, was in Vergangenheit und Gegenwart Bedeutung hatte.

Erst später, unmittelbar nach dem Ende des ersten Weltkrieges, haben wir diesen Menschen ganz begriffen, als er versuchte, in seiner übermächtigen Liebe das Werk, zu dem er die Menschen aufgerufen hatte, selbst zu beginnen, obwohl er sah und wußte, daß die Stunde dafür noch nicht gekommen war. Aber wann hätte ein wahrer Revolutionär je auf seine Stunde gewartet? Das Men­schenleben ist so kurz; was getan werden muß, muß bald getan werden.

Er hatte mir kurz vor dem Ausbruch der Münchner Revolution brieflich das Versprechen gegeben, mich sogleich nach München zu rufen, wenn die Stunde gekommen sei. Das Schicksal hat es anders gewollt, denn der Tod kam schneller, als er dachte. Die aus dem Krieg zurückkehrenden „weißen Garden”, die in der großen Mehrzahl waren, rasten gegen diesen Mann. Er wurde von ihren Militärstiefeln buchstäblich totgetrampelt.        

So ist Gustav Landauer seinen eigenen Tod gestorben – nicht ei­nen sanften, nicht einen allmählichen, nicht einen passiven Tod, sondern den aktiven, bitteren, jähen, häßlichen Tod des Revolu­tionärs, der zugleich der lichtumstrahlte Opfertod ist. „Jetzt geht's in den Tod, nun muß man den Kopf hochhalten” – das sind die letzten Worte, die uns von ihm überliefert sind.

Wenige Monate darauf war es die grausame Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die uns aufs furchtbarste er­schütterte und eine nahe schreckliche deutsche Zukunft voraus­ahnen ließ. Und doch ging das Leben im Privaten, wenn auch be­reits in der Tiefe aufgestört, seinen gewohnten Gang weiter.

Im Jahre 1912 wechselten wir unseren Wohnort, wir zogen nach Rüschlikon an den Zürichsee, wodurch ich die Nähe all meiner Freunde verlor. Aber mein Mann hatte eine Vorliebe für Zürich und seine Umgebung, und ich hatte es mir zur Pflicht gemacht, da ich ihm durch meine Arbeit, meine Freunde und meinen klei­nen Sohn nicht immer, zur Verfügung stand, ihm allein alle Wünsche und Anordnungen des äußeren Lebens zu überlassen.

Wir zogen in ein schönes kleines Haus über dem See, dem ein großes Atelier angebaut wurde. Ich hatte ein schön gelegenes Arbeitszimmer, und der kleine Sohn stellte weiter seine über­raschenden, nicht immer leicht zu beantwortenden Fragen. Als wir einmal auf dem Bahnhof Stefan George begegneten und eine längere Unterhaltung mit ihm hatten, sah der Knirps mit seinen großen dunklen Augen unablässig zu George auf, und da dies schließlich nicht unbemerkt bleiben konnte, sagte ich: „Du weißt doch, wer der Herr ist? Er hat dir doch einmal in Westend eine Tafel Schokolade geschenkt.” Er zögerte einen Augenblick, sah noch einmal zu George auf und sagte: „Goethe.” Er wußte natür­lich nicht, wer Goethe war, aber er mußte die Sphäre begriffen haben, in der er uns von ihm sprechen hörte, und in diese trat ihm nun das Bild Georges ein.

Auch hier in Rüschlikon hatten wir wieder einen wunderbaren Rosengarten; mein Mann liebte die Rosen, wie mein Vater sie ge­liebt hatte. Auch eine ganz reale Erfahrung, die ich damals in un­serem Garten machte, hat mir in völlig anderer Weise eine letzte Lebensweisheit vermittelt. Ich erinnere mich der Überwindung meines fast gnostischen Abscheus vor dem Allzukörperlichen und Unsauberen, als eines Abends der Bauer, der unser Nachbar war, die hochstämmigen Rosen in unserem Garten düngte, und ich sah, wie aus dem Verworfensten und Schmutzigsten das schönste irdi­sche Gebilde erwächst. Es war ein beglückendes Gefühl, plötzlich die eigentümliche Weisheit im Kreislauf des Lebens so nahe zu erfahren.

Schön war fast alles in Rüschlikon. Das Leben ging so friedlich weiter wie bisher. Meine Liebe zur Dichtung äußerte sich nun auch in der Kritik: ich besprach für die „Frankfurter Zeitung” einige Jahre alle in Deutschland erscheinenden Gedichtbände. Dies wäre ein großer Zeitverlust gewesen, wenn ich dabei nicht Rilke, zunächst „Das Stunden-Buch”, mit Bestürzung und Bewunderung kennen gelernt hätte und wenn nicht aus dieser Arbeit auch ein kleines Buch „Das Wesen der modernen deutschen Lyrik” her­vorgegangen wäre, dessen Wirkungen ich noch jetzt zuweilen er­fahre. Auch mein erster rein philosophischer Aufsatz über „Spinoza und das jüdische Weltgefühl” erschien in dieser Zeit in dem von Hans Kohn herausgegebenen Bar-Kochba-Buch „Vom Judentum”.

In Rüschlikon brachte mir eines Tages mein Mann einen fremden Gast, Fritz Medicus, dessen philosophische Vorlesungen er ge­hört und von dem er mir dann gesagt hatte, daß er ihm schon allein um seines Lächelns willen lieb geworden sei. Von da an besuchte er uns immer wieder, oft bis spät in die Nacht hinein. Er war es, der mich, in einer ganz anderen Weise als Groethuysen und als alle philosophischen Lehrbücher, mit großer Intensität in die Welt des spezifisch deutschen Idealismus, vor allem Fichtes, eingeführt hat. Es war eine wunderschöne Beziehung, und ich hatte für ihn auch eine Gegengabe in einem Stück chinesischer Weisheit, die er mit so großer Ergriffenheit aufnahm, daß sie sein ganzes Leben veränderte. Noch sehr viel später, kurz vor seinem Tode, hat er mir für diesen „Glücksfall” in seinem Leben ge­dankt.

In einem Privatseminar Simmels hatte ich viel früher schon Mar­tin Buber kennen gelernt. Martin Buber – ihn kennt die Welt; ich habe ihn aber zu einer Zeit gekannt, als er noch nicht berühmt, sondern ein äußerst empfänglicher junger Mensch war. Mein erster Eindruck beim Anblick dieses zarten, schmächtigen Men­schen war: das ist kein Mensch, das ist reiner Geist. Und was alles hat Martin Buber uns seit jener frühen Zeit erschlossen: ganze Welten sind durch ihn unser eigen geworden. Nicht nur die Welt des Chassidismus, auch eine neue Deutung des heu­tigen Denkens, dann wieder sein Wirken in Israel. Dazu kommt noch ein Stück der tiefen Weisheit Chinas in Tao und Tschuang Tse, seine Übersetzung chinesischer Märchen, und zuletzt seine geistesmächtige Übersetzung der Schrift, anfangs mit Rosenzweig und dann ganz für sich. Auch auf die schwere Frage nach dem Bösen hat Buber die entscheidende Antwort gegeben, in seinem Buch „Bilder von Gut und Böse”, in dem ähnlich wie nur noch in Byrons „Kain” die Geschichte des Guten und Bösen vom Para­diese an gestaltet ist.

Eine ernste Freundschaft mit Martin Buber verband uns schon in Westend. Ich durfte nach langen Jahren der Trennung bei einem Wiedersehen mit ihm in Zürich erfahren, daß auch er mir Freund geblieben war. Und nun, bei einem noch viel späteren Wieder­sehen, erlebte ich die ganze geisterfüllte Weisheit, die zu erwerben und auszudrücken ein langes, im Letzten gegründetes Leben er­fordert hatte. Auch zu seinem eigenen, so vom Ruhm umgebenen Leben nahm er Stellung in unserem Gespräch, warf den Ruhm einfach wie einen fremden goldenen Mantel von sich ab. Seine besondere Stellung zu Tod und Leben ebenso wie die zum Bösen, dies alles wurde in den Stunden unseres letzten Zusammenseins klar.

Im gleichen Privatseminar Simmels hatte ich damals auch einen völlig andersartigen Menschen, Ernst Bloch, kennengelernt, der mir sogleich einen starken Eindruck machte. Nachdem wir uns längere Zeit unterhalten hatten, sagte er: „Darf ich morgen zu Ihnen kommen?” Ich verneinte. Er sagte: „Welchen Tag dieser Woche?” Ich wies ihn abermals zurück, setzte dann aber einen ferner liegenden Tag fest. Von nun an besuchte er mich oft. Wir hatten wahrlich genug zu reden, doch war mir damals seine Art zu fremd, und obwohl ich Simmels erstes Wort über ihn, „der hat den Eros”, in seinem Denken ganz verwirklicht fand, versuchte ich anfangs ihn fernzuhalten. Ich habe ihn damals kaum verstan­den. Ich begriff nur, daß er ein höchst ungewöhnlicher Mensch und Denker war, der vom Leben ganz andere Begriffe hatte als ich. Das war zwar auch mit Groethuysen so, aber dieser wußte lange und mit großer Anmut seine Gedanken dem deutschen Idealismus und damit auch meinem eigenen Leben einzuordnen. Groethuysen besaß eine Art zarter Rücksicht, die sich erst lange nach dem ersten Weltkrieg verlor. Bloch dagegen wollte bewußt die gewohnten Lebensformen durchbrechen und erwartete das­selbe auch von jedem Menschen, den er als verwandt erkannte. Es mag sein, daß sein späteres, negatives Verhältnis zu Simmel, den er doch so gern aufgesucht hatte, mit aus der ungleichen Hal­tung beider dem gesellschaftlichen Leben gegenüber stammte. Denn was Simmel, der ältere und verheiratete, unter den damals gewohnten Formen der Gesellschaft verbarg, das trat bei Bloch, dem jüngeren und freien, als ein Selbstverständliches offen zu­tage. Zugleich aber hütete er ein tiefes, schwer erkennbares Le­bensgeheimnis, wie es später vor allem in seinem seltsamen Werk „Spuren” als ein höchst Eigentümliches sichtbar wurde. Es sind geheimnisvolle Spuren eines Lebens, das wir in Wahrheit nicht verstehen: Erlebnisse, Erzählungen aus einer unbekannten Welt, die in jedem Augenblick in unser gewohntes Leben einbrechen und uns das nur Halbwirkliche unseres Lebens enthüllen können. So sprach er oft eine schwerverständliche Sprache. Doch mußte er schon damals eine starke Gemeinschaft zwischen uns gefühlt haben, die sich mir erst viel später enthüllte. Wie seltsam das Schicksal mit dem Menschen spielt, wie viel es ihm lange verborgen hält, welche geheimen Orte es dem Menschen verschleiert, deren Dasein wir erst durch einen wirren Zufall jäh erkennen – so wie es auch mir in dieser Beziehung widerfahren ist –, das hat Bloch in jenem Parabelbuch, dem Buch vom Geheimnis des Denkens und Seins wunderbar zwingend dargestellt. Auch pflegte er in seinem eige­nen Leben das Alltägliche so mit dem Geheimnisvollen, ja, Numi­nosen zu vermischen, daß es schwer zu entwirren war. Ein an das Groteske streifender Humor vollendete dieses wundersame, gei­sterhaft faszinierende Bild.

Nachdem wir dann in Rüschlikon wohnten und schon viele Briefe gewechselt hatten, schrieb er mir eines Tages: „Wenn Sie mich jetzt nicht einladen, komme ich einfach und reiße so lange an Ihrer Klingel, bis sie zerbricht.” Er kam wirklich, und wir ver­lebten lebendige Tage, wenn er mir auch damals noch nicht ganz verständlich war. Ich sah ihn erst um Jahre später wieder, als schon der erste Weltkrieg alle Verhältnisse verändert hatte.

 

 

DER ERSTE WELTKRIEG

 

 

Man könnte von der Zeit in Rüschlikon sagen: es war eine schöne Zeit. Aber man hörte hinter ihr doch schon ein fernes Grollen, das uns immer näher rückte. Als wir, mein kleiner Sohn und ich, an einem schönen Sommertag von einer Fahrt auf dem See heim­kehrten, trat in dem Augenblick, an dem ich meinen Fuß ans Ufer setzte, mein Mann auf uns zu und sagte: „Es ist Krieg!” Mit die­sem Augenblick war eine Welt zu Ende. Ich begriff das sicher nicht sofort, obwohl ich noch deutlich die Erdvertiefung fühle, in die ich bei diesen Worten trat – ein äußerer Vorgang, der sym­bolisch für einen inneren stand. Krieg – was war das? Ich suchte verzweifelt und fassungslos das düstere Wort zu begreifen. Wäh­rend ich immer mehr in dem Choral „O Haupt voll Blut und Wun­den” das Menschheitsantlitz erkannte, suchte ich zugleich in Fich­tes Staatslehre, die ich gerade in jener Zeit immer mit mir führte, Sinn und Wirklichkeit des Wortes „Krieg” zu erfassen. Vielleicht wäre er mir in Deutschland, wo überall der Schritt der ins Feld ziehenden Soldaten durch die Straßen hallte, faßlicher gewesen; hier war es weit schwerer – so unberührt lag die schöne Land­schaft um uns her: strahlendere Tage als die nach diesem Kriegs­ausbruch habe ich nie erlebt. Jeden Morgen stand eine leuchtende Sonne am Himmel, nachts spannte sich der Sternenhimmel so klar und gesetzhaft, als wollte er die aus ihrer Bahn gerissene Erde durch seine Herrlichkeit bekehren. Trotzdem war mir im ersten Augenblick klar, es war etwas Furchtbares geschehen: ein Riß ging plötzlich durch die Welt, zwei Zeiten brachen ausein­ander und waren nie mehr zusammenzufügen. Ich wußte damals so wenig vom Krieg, ich kannte ihn nur aus den deutschen und schweizerischen Geschichtsbüchern mit der Verklärung ihrer Kriege und Heldengestalten. Krieg war damals fast zu einer Sage geworden für die Menschen, die wie ich und die meisten geistigen Menschen völlig unpolitisch lebten. Nur ein Gefühl des Grauens ging davon aus und ein Gefühl des Aufgerufenseins zu einem un­bekannten Leben. In Fichtes großartiger Staatslehre fand ich die sicher wahre, aber für mich nutzlose Antwort: „Das zeitliche Le­ben hat darum selbst nur Wert, inwiefern es frei ist, durchaus keinen, sondern ist ein Übel und eine Qual, wenn es nicht frei sein kann... Dann hat der Mensch kein Vaterland auf der Erde, son­dern sein Bürgerrecht im Himmel, in der unsichtbaren, geistigen Welt...” Daraus stieg mir die neue Frage auf, die ich mir nie vorher gestellt hatte: Ist Deutschland frei oder ist es nicht frei?

Die erste vorläufige Aufklärung über den Krieg gab mir mein kleiner Sohn. Auch ihn beschäftigte die plötzliche Wandlung und das Schwere, das er in ihr ahnte, sehr. Ich sehe ihn noch am Fen­ster stehen, traurig auf den geliebten See blicken und sagen: „Die Welt ist so schön, aber es geht so traurig in ihr vor.” Dann bat er mich, ihm zu erzählen, wie es zu diesem Krieg gekommen sei. Ich erzählte es ihm, wie ich es damals verstand, auf treudeutsche Weise, ohne Hintergedanken. Die nachdenkliche Antwort des Sechsjährigen war: „Ja, aber glaubst du nicht, daß eine russische Mutter ihrem Kind das umgekehrt erzählt?” Diese Antwort führte mich tatsächlich zu einer veränderten Auffassung vom Krieg.

Die ganze Bedeutung und Unmenschlichkeit des Krieges zu er­kennen, war mir aber zu jener Zeit noch nicht möglich. Ich begriff zunächst nur, daß er für jeden Menschen, auch für mich, eine Aufgabe war. Ich versuchte von da an, zu retten, zu helfen, wo ich nur konnte. Ich versuchte zunächst, Deutsche aus den französischen Gefangenenlagern zu befreien, und bei manchen, zum Bei­spiel bei Groethuysen, ist es mir durch eine langwierige Korre­spondenz mit französischen Geistlichen und Regierungsstellen auch wirklich gelungen. Ich las von da an Zeitungen und politische Bücher aller Länder, um die Veränderung einer Menschheit zu begreifen, die ich bis dahin ganz anders gesehen hatte. Vor allem mußte ich immer wieder an die jungen deutschen Offiziere den­ken, die ich bei meinen Schwiegereltern kennengelernt hatte und die alle so liebenswürdig und voller Idealismus waren. Ich konnte sie mir in den ungeheuren Lügen, die das Kriegsgeschehen mit sich brachte, überhaupt nicht vorstellen. Die wirklichen Ursachen die­ses Krieges habe ich erst viel später mit großem Entsetzen erfaßt. Bei Kriegsausbruch bestürzte mich der einzige politische Bericht, den ich mit vollem Bewußtsein gelesen hatte. Danach hatte wenige Wochen zuvor im Gürzenich, dem größten Saal in Köln, eine Versammlung von viertausend Sozialdemokraten stattgefunden, in der der Beschluß gefaßt, ich glaube sogar, beschworen worden war, in einen etwaigen Krieg nicht mitzuziehen. Nun wurde der erste Sozialdemokrat, der doch in den Krieg vorangezogen war, als Retter des Vaterlandes begrüßt. Der Ausspruch Wilhelms II.: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche”, hatte damals jede freie Gesinnung überrannt.

Liest man heute den verzweifelten Brief WiIhelms II., kurz vor dem Ausbruch des ersten Weltkrieges, in dem er die Worte schrieb: „Da wir den Krieg verlieren werden, soll wenigstens England auch Indien verlieren!”, so wird einem der ganze Wahnsinn dieses Krieges und überhaupt aller Kriege klar.

In den ersten Wochen des Krieges ließ sich plötzlich durch einen Fremden ein hoher Gast bei uns ankündigen. Eine Stunde später erschien Stefan George. Veranlassung war wohl das erst kürzlich von mir erschienene Buch „Das Wesen der modernen deutschen Lyrik”, in dem ein großer Teil ihm gewidmet ist. Ich war erstaunt über die Schlichtheit seines Auftretens und die Großartigkeit sei­nes Gesichtes, das mir den ganzen Raum zu erfüllen schien. Schlicht war auch seine Sprache und sein ganzes Wesen, wenn er nicht im Kreise seiner Jünger war. Einen Zug vom Bösen oder Kalten, den man ihm später – vielleicht auch schon damals – nach­gesagt hat, habe ich in seinen Zügen, seinen stillen leuchtenden Augen nicht gesehen. Ich erinnere mich noch an die meisten unse­rer Gespräche und auch daran, daß ich ihm zum Schluß den ersten reifen Pfirsich von unserem Spalier in die Hand drückte.

Sehr bald griff dann der Krieg auch in unser ganz persönliches Leben ein. Mein Mann, der das in der Schweiz gut hätte vermei­den können, zumal er schon vorher vom Militärdienst seiner kör­perlichen Zartheit wegen befreit worden war, rückte als Sohn eines hohen Offiziers, der er ja schicksalsmäßig war, sogar frei­willig in den deutschen Militärdienst ein. Nachdem er beim ersten Marsch physisch zusammengebrochen war, wurde er zum kaiser­lichen Pressedienst in Frankfurt eingezogen. Damit war eine Epoche seines wie meines Lebens abgelaufen, denn er hat sich nie mehr von der Einsicht in die Schrecken und Verlogenheiten des Krieges, die er dort allzugut kennenlernte, erholt. Im November 1915 ließ er mich mit unserem Sohn nach Frankfurt nachkommen. Ich nahm das provisorische Leben, das sich daraus ergab, wie alles Äußere, auch das Hungern infolge der Blockade durch die Alli­ierten, willig hin. Im Januar 1917 erkrankte ich schwer und lag für Monate im Spital. Meine Schmerzen waren wohl nicht gerin­ger als die eines schwerverwundeten Soldaten; das hat mich da­mals fast getröstet, weil es mich selbst mehr noch als das Hungern in den Krieg mit einbezog. Ich hatte damals nicht die geringste Angst vor dem Tode, obgleich ich fühlte, daß er mir sehr nahe war. War es, weil ich dunkel ahnte, wie schwer das Leben sein würde, das noch vor mir lag?

Noch nicht völlig geheilt, kehrte ich im April desselben Jahres auf den dringenden Wunsch des Arztes mit meinem Jungen nach Rüschlikon zurück, wo ich den Verkauf unseres schönen kleinen Hauses abzuschließen hatte. Von dort ging ich, wieder auf den Rat des Arztes, mit meinem Sohn in die Berge, und zwar zuerst nach Rosenlaui, das immer seine Liebe und auch die meine gewesen war. Schön, wunderbar schön war das damalige Rosenlaui mit seinen weiten duftenden Wäldern. – Ich unterrichtete dort meinen etwa zehnjährigen Sohn so gut wie möglich, schrieb Be­sprechungen, gewann auch Freunde für eine kurze Frist, und mit meiner wachsenden Genesung erwachte wieder eine Liebe zum Leben in mir, die mich bald große Wege auf höhere Berge steigen ließ. Es gab gewiß keinen Tag, wo ich nicht an die Schrecken des Krieges dachte, aber ich habe es später oft als Schuld empfunden, daß dies in meinem neu erwachenden Leben doch viel zuwenig geschah. Weit schneller als Arzt und Schwestern vorausgesagt hat­ten, gewann ich Gesundheit und Lebenskraft wieder.

Im August 1917 zogen wir von Rosenlaui zu meiner Freundin Emmy von Egidy nach Steffisburg bei Thun. Bei Freunden in Bern sah ich nach längerer Zeit zum erstenmal wieder Ernst Bloch, der mir nach einem langen Gespräch sagte, daß er nach Thun übersiedeln würde, um in meiner Nähe zu sein. Ich erschrak und fürchtete, er werde mich bei meiner Arbeit stören und mir kaum noch ein Alleinsein gönnen. Er fand dann sofort eine kleine Woh­nung für sich und seine Frauer hatte sich inzwischen mit einer Baltin, die das rührende Wesen der Balten hatte, verheiratet. Und nun kam er wirklich Tag für Tag, und bei der Art meiner Woh­nung – ich wohnte in einem kleinen Hinterhaus im Hof, das tagsüber unverschlossen war war es unmöglich, ihn abzuweisen. So vergingen die Wochen. An ernsten Gesprächen fehlte es nie, auch politische waren oft darunter, meist aber war es eine Darlegung seiner großartigen metaphysischen Gedanken, und von Zeit­verlust konnte ich nur in bezug auf meine Arbeit im allerengsten Sinne sprechen. Sein Wesen war kaum zu definieren: Nichts Üb­liches berührte ihn, aber alles, in dem er Geheimnis und Fremd­heit spürte. Die Gegenwart sah er nur in diesem Dunkel und in diesem Lichte, wodurch alles Irdische seltsam und geheimnisvoll wurde, nicht zuletzt sein eigenes Wesen. Seine Sphäre war eine von der Zukunft wunderbar erleuchtete Gegenwart. So erschien er mir mehr und weniger als ein Mensch, dem die Zukunft wie ein großes Licht auf der Stirne brannte. Zu jener Zeit noch nicht Marxist, entwarf er aus dem Traum seines Inneren ein großes Zukunftsbild in seinem Buch „Geist der Utopie”, aus dem er mir während dessen Entstehen vorlas. Es war ein Buch voll Zauber, Geheimnis und Musik. Seine Sehnsucht ging nicht so sehr nach Gott wie nach der echten Heimat des Menschen: nach dem wahren ewigen Menschengesicht. Der Advent, die Zeit des heraufkom­menden Lichtes, des Sterns der Zukunft und der Hoffnung, war seine eigentliche Sphäre. Er war ein gegen alles Bürgerliche ge­waltsam sich auflehnender Mensch. Ich erinnere mich, daß mir damals aus seinem Wort, den großen Genies der Juden gegenüber seien alle anderen Genies der Geschichte nur bürgerliche Genies, zuerst der Begriff „bürgerlich”, den ich längst durch Groethuysen und Landauer hätte begreifen können, in seiner vollen Bedeutung als Gesinnung einer Epoche klar wurde und daß ich erst damals die Empörung dagegen voll verstand.

Aber obwohl ich ihn immer mehr bewundern lernte, erschienen mir seine Besuche noch lange als eine Störung, wenn ich auch vieles durch sie empfing. Da hatte ich eines Nachts einen Traum: er war bei mir, ich hielt ein schweres, irdenes Gefäß in der Hand, und plötzlich warf ich es mit aller Gewalt nach ihm, um ihm zu zeigen, daß seine Gegenwart mir lästig sei, und es traf ihn so, daß er laut aufschrie. Im selben Augenblick fühlte ich einen heftigen Schmerz, als ob ich mich selbst getroffen hätte, und von da an war meine Beziehung zu ihm von Grund auf verändert. Da, wo noch eben eine starke Zurückhaltung gewesen war, stieg jäh die hohe Flamme einer Identität empor, die ebenso schmerzhaft wie be­glückend war. Ich wußte nichts mehr von einer Störung, ich wußte nur, daß er mich bei jedem Besuch durch die Fülle seines Geistes mit Gold, Perlen und Edelsteinen überschüttete.

            Und nun begann auch wieder das Dichten sich zu einer neuen Blüte zu entfalten. Es entstand der kleine Band „Lieder von Tod und Erlösung”; denn seltsamerweise mischte sich mit dieser Liebe der Tod, ein Wissen und Erleben des Todes. Es war, als wären wir ihm beide nahe. Zuweilen las ich ihm eines der Gedichte vor; aber die Lyrik war ihm, wie er sagte, ein fremdes Gebiet. Den­noch hat er mir in sein Buch „Geist der Utopie” als Widmung einen Vers von mir geschrieben:

 

„Kehr heim mit mir, die Götter überflügelnd,

In unserer Heimat namenloses Licht.“

 

Und es ergriff mich fast ein Schrecken, als er mir jetzt, nach über vierzig langen Trennungsjahren, die Worte schrieb: „Auch in mir höre ich oft schon die Flügel brausen, ja, ich habe das schon zu hören geglaubt, als ich recht jung war und bei Dir saß, vorlaut wie Liebe und Trompetenblasen und verschlossen wie ein Brahmsscher Akkord.” Das Todeserlebnis muß also im Grunde genommen ein gemeinsames gewesen sein.

Wieder hatte mir ein Traum, wie so oft schon, eine Gewißheit über ein fremdes Leben und zugleich über mein eigenes Leben geschenkt. Er blieb meist bis spät in die Nacht hinein, und er gab mir damals die schönsten Namen. „Leilah”, das hebräische Wort für Nacht, war schon vorher seine Anrede an mich gewesen. Nun kam die „Räuberbraut” hinzu und dann auch der Name der Fee „Paribanu”, der aus einem der schönsten Märchen aus Tausend­undeine Nacht stammt: drei prinzliche Brüder werben um eine Prinzessin, und derjenige soll sie zu eigen erhalten, dessen Pfeil am weitesten fliegt. Der Pfeil des ersten fliegt so weit, daß er nur mit Mühe wiedergefunden werden kann. Der Pfeil des zweiten fliegt noch ein großes Stück weiter, der Pfeil des dritten fliegt über die Welt hinaus, in die Zauberhöhle der Fee Paribanu, mit der nun der jüngste Prinz ein glückseliges Leben führt, in dem die irdische Prinzessin vergessen ist.

Dieses Außerhalb der irdischen Welt traf, damals und vielleicht überhaupt, wenn auch in verschiedener Weise, auf unser beider Leben zu. Ich habe damals von Bloch nicht nur schöne Namen bekommen, nicht nur eine neue Metaphysik, ich habe auch ein neues politisches Verstehen von ihm gelernt, das zu jener Zeit ein reines Bestreben nach Frieden war. Wie könnte aber ein Mensch mit so gewaltiger Phantasie und so mächtiger Tatkraft die gesellschaftliche Ordnung oder Unordnung, so wie er sie fand, einfach hinnehmen und nicht eine andere verwirklichen wollen? – Das Soziale, an das er sich später ganz hingab, war ihm kaum ferner als seine Metaphysik und die Musik.

Ein ganzer Kreis von Friedensfreunden bildete sich zu jeher Zeit in Thun, und es war schön, an ihren Bestrebungen teilzunehmen. Damals fiel mir auch ein Buch des Vaters von Emmy von Egidy in die Hände, der, obgleich hoher Offizier, aus evangelischer Über­zeugung Friedenskämpfer geworden war und um dieses Kampfes willen trotz seiner nahen Freundschaft mit dem König von Sach­sen seine Uniform abgelegt hatte. Seine Tochter Emmy war leider ganz anderer Gesinnung, und das hat schließlich trotz der nahen Verbindung unsere Freundschaft zerstört.

In Steffisburg erkrankte mein Sohn sehr schwer. Als die Krank­heit dann doch überstanden war, gingen wir zu seiner Erholung nach Adelboden. Dort, bereits gegen Ende des Krieges, erinnere ich mich eines Erlebnisses im Juni 1918, das mir die Menschen, auch die äußerlich kriegerischen, ganz anders und wieder wie einst zeigte. Es war dort eine große Anzahl französischer Soldaten in­terniert; man begegnete ihnen auf den Weiden und an den Zäu­nen, und die armen, ihrer Heimat und Arbeit beraubten Men­schen sahen rauh und verbittert aus. Da, eines Tages, als ich gerade einem größeren Trupp dieser Soldaten begegnete, wurden von oben zwei ganz junge, zarte, schneeweiße Zicklein herabgeführt; ich sah die Soldaten an: da war keiner, auf dessen Antlitz nicht ein leises, gerührtes Lächeln erschienen wäre. Sie alle waren von dem Anblick dieser anderen, schuldlosen Wirklichkeit ge­troffen, und man sah, wie der Krieg, dem sie dienen mußten, gar nicht ihrem eigentlichen Wesen entsprach. In Adelboden erlebte ich aber auch den Ausbruch der schrecklichen Krankheit, die da­mals den unheimlichen Namen „Spanische Grippe” trug, aber durchaus pestartigen Charakter hatte und in der Schweiz, vor allem in Bern, die kräftigsten jungen Menschen in einem oder zwei Tagen dahinraffte, so daß in den Straßen wie in früheren Pest­zeiten fast nur noch Leichenwagen zu sehen waren – ein furcht­barer Eingriff des Todes in das Land, das von dem Krieg ver­schont geblieben war.

Es war am Ende des ersten Weltkrieges, daß mich mein Mann zu sich zurückholte. Ich hatte ihm immer von meiner Freundschaft mit Bloch geschrieben, sein Vertrauen zu mir war unbegrenzt, und eine sehr sichere Haltung gab ihm sofort seine Stellung zurück. Unseren Sohn mußten wir auf dringende Weisung des Arztes in der Schweiz zurücklassen, und zwar blieb er bei der Familie Reichstein, einem Ehepaar mit fünf Söhnen. Der Aufent­halt bei dieser schon Anfang des Jahrhunderts aus Rußland ein­gewanderten Familie ist ein Markstein im Leben meines Sohnes und auch in dem meinen geworden. Nach dem Tod des Vaters blieb die Witwe mit ihren Söhnen zurück, von denen der älteste, Tadeus, später für seine großen chemischen Entdeckungen aus­gezeichnet wurde und heute dabei ist, das Wachstumsprinzip der Pflanzen zu erforschen. Die Mutter hat in meinem Leben bei aller Verschiedenheit unserer Überzeugungen eine sehr große Rolle gespielt und ist mir zu einer nahen Freundin ge­worden; sie ist stark, fast gewalttätig, hält fest an einem ein­mal Ergriffenen – war dann später der einzige Mensch, der mir in meinen schwersten Stunden zur Seite stand, ja, überhaupt um diese wußte. Im Alter ist sie zu einer einzigartigen Weisen ge­worden.

 

 

ZUSAMMENBRUCH UND NEUORDNUNG

 

 

Im September 1918 kehrten mein Mann und ich zunächst in un­sere schöne, mir liebe Wohnung in Frankfurt zurück, in der wir im Krieg schon manchen Fliegerangriff erlebt und viele Stunden im Keller verbracht hatten. Wie harmlos erscheinen, von heute aus gesehen, diese Bombenabwürfe: eine Bombe, die dicht neben uns zerplatzte, riß nur das Straßenpflaster auf.

Nun begann sich langsam die deutsche Wirklichkeit zu wandeln: aus der vom Krieg geschaffenen Lage heraus wurden Vereine, Gremien gegründet, in denen nach dem Zusammenbruch ganz neue Formen des Lebens gesucht wurden. Auch wir beide, mein Mann und ich, wurden zur Teilnahme an einer solchen Vereini­gung aufgefordert. Und wir hatten ja wirklich im Krieg und noch in der Nachkriegszeit so manches uns bis dahin Fremde erfahren, viel gelernt und aufgenommen, was uns eine Neuordnung als not­wendig erscheinen ließ. Ich weiß noch, mit welchem Entsetzen ich manche Veränderungen in der Sprache, wie etwa das Wort „um­legen” und manche ihm verwandte neue Wörter, betrachtete, und doch kamen alle diese Erkenntnisse nur langsam an mich heran.

Noch mitten in der Auseinandersetzung mit den alten und neuen Wahrheiten wurde ich eines Tages aufgefordert, im großen Saal­bau in Frankfurt vor zweitausend Menschen einen Vortrag über ein zeitgemäßes Thema zu halten. Es wußte wahrscheinlich nie­mand von denen, die mich aufgefordert hatten, daß das der erste Vortrag meines Lebens war. Was tun? Das Thema hatte ich sofort – aber ich mußte es ja nicht nur gestalten, ich mußte es auch im Sprechen beherrschen. Ich beschloß schließlich, den ganzen Vor­trag von Anfang bis zum Ende aufzuschreiben und Wort für Wort auswendig zu lernen, und der Vortrag ist mir dann auch ohne Stocken und mit voller Ausdruckskraft gelungen, da mich der Gegenstand wirklich ergriff. Ich sprach über das, was wir Le­benden den im Krieg Gefallenen schuldig seien.

Dieser Vortrag hat dann in meinem Leben eine Reihe von Folgen gehabt, die ich hier nicht alle aufzählen kann. So wurde ich neben manchen anderen um einen Vortrag in Heidelberg gebeten. Als ich auf dem überfüllten Bahnhof ausstieg, kam mir ein fremder, hochgewachsener Mann entgegen. Er ging ohne Zaudern auf mich zu und begrüßte mich mit meinem Namen. Es war der damalige Staatsanwalt Hugo Marx. Als ich ihn erstaunt fragte, wie er mich sogleich erkannt habe, sagte er: „Ich habe doch Ihre Schrift ge­sehen.” – Daß er in der Tat ein sehr bedeutender Graphologe war, habe ich am selben Abend erfahren: Wir waren nach meinem Vor­trag noch in einer kleinen Gesellschaft zusammen, und es wurden ihm einige Handschriften vorgelegt, die er mit großem grapholo­gischem Wissen deutete. Ich begriff bald, daß die ungeheure An­strengung, die man ihm bei einigen Analysen ansah, eine Über­forderung war – um so mehr, als seine große Verschlossenheit, fast eine Gehemmtheit, mir schon bei diesem ersten Mal klar wurde.

Hugo Marx hatte schon Jahre vor der Hitlerherrschaft eine Bro­schüre über das Schicksal der deutschen Juden geschrieben, in der er nahezu alles voraussah, was später furchtbare Wirklichkeit wurde.

Eine andere Folge meines Vortrages war: er hat mir eine neue Freundschaft gebracht. Der bedeutendste Mensch jenes Kreises in Frankfurt war ein bekannter Wissenschaftler: Kurt Goldstein.

Vielleicht auch auf meinen Vortrag hin wurden Kurt Goldstein und ich als Delegierte zu einem Friedenskongreß nach Bern ge­schickt. Wir waren sicher nicht die Richtigen, verstanden damals kaum etwas von Kongressen, und man hatte uns auch keinerlei Weisung mitgegeben. Aber es waren schöne Tage, und zwischen uns beiden entstand eine Freundschaft, die trotz der räumlichen Entfernung bis zum heutigen Tage nicht abgerissen ist.

Von Bern aus fuhr ich an die französische Grenze, um Groethuy­sen, der endlich seine Freiheit wiedererlangt hatte, auf die Bitte seiner erkrankten Mutter vorerst in die Schweiz zurückzuholen. Nach seiner Befreiung aus dem Lager war er nach der kleinen Stadt Châteauroux gebracht worden, wo ihn, als Deutschen, die auf­geregte Menge mehr als einmal mit dem Tode bedrohte. Kaum ist mir je eine solche Veränderung eines Menschen begegnet. Er, der immer gut Angezogene, kam mit einem völlig zerfetzten Anzug zurück und war von einer solchen Angst vor allem und jedem ge­peinigt, daß ihm alles Neue als fremd und feindlich erschien. Die Bedrohung, unter der er in Frankreich gelitten hatte, verstärkte wohl nur die Grundanlage seines Wesens, die der Angst. Er über­häufte mich mit Fragen, die ich, so gut es ging, beantwortete. Das wirklich Schöne an dieser Begegnung war, daß wir von ganz ver­schiedenen Seiten her zu derselben politischen und sozialen Über­zeugung gelangt waren.

Von Genf nach Hause zurückgekehrt, erfaßte mich eine solche Unruhe um ihn, daß ich noch einmal zu ihm zurückfuhr und war­tete, bis er sich langsam erholte. Aber er konnte die vollkommene Veränderung Deutschlands auch später nicht verstehen. Er spot­tete nicht nur unermüdlich über den Versailler Vertrag, er begriff nicht, warum alle bisher in freien Berufen stehenden Menschen auf einmal Stellungen und immer „mit Pension” suchten, er ver­stand nichts von dem Zerfall aller Verhältnisse durch die Inflation, und nur mit einem war er einverstanden – was doch der Krieg in allen Ländern, am durchdringendsten wohl aber in Deutschland bewirkt hatte – : der vollkommenen Freiheit im Leben der Ge­schlechter. Das war nun für mich eine große und schwere Über­raschung. Ich erlebte einen ungeheuren Schrecken, etwas wie eine innere Zerstörung, als er, nachdem ich ihm das durch einen dop­pelten Ehebruch verwirrte Schicksal einer mir befreundeten Fa­milie erzählt hatte und von ihm eine starke Reaktion erwartete, plötzlich in der ihm eigenen Ausdrucksweise sagte: „Wenn ich Gott auf dem Acker meines Nachbarn schauen kann, soll ich dann darauf verzichten?”

Als ich von dieser Begegnung zurückreiste, geschah es in einer an Schwermut grenzenden Trauer. Er hatte nie zuvor ein solches, meine eigene Lebensanschauung negierendes Wort gesprochen, das auch dem widersprach, was ich in einem von ihm veranlaßten Mißverständnis auch für die seine gehalten hatte. Für mich schien alles zu Ende, da Groethuysen mit einem so ungeheuren Wort das mir Fremdeste sanktionierte. Und immer waren ja Groethuy­sens Worte von einer solchen Überzeugungskraft, daß von ihnen eine unwiderrufliche Gewißheit ausstrahlte. So sprach ich einmal von dem sehr glücklichen Schicksal eines mir nahen Menschen und erhielt darauf die mich bestürzende Antwort: „Ja, von 3000 Mark Jahreseinkommen an ist das möglich.“

Und doch war es eine jener Erfahrungen, aus denen ich – so schien es mir damals – nicht mehr lernen konnte, da ich mein Leben schon abgeschlossen glaubte. Ich erinnere mich aber auch noch deutlich des großen Schreckens, als zu dieser Zeit, in der es in Deutschland weit mehr Frauen als Männer gab, plötzlich ganz un­persönlich das Wort ausgesprochen wurde, man solle die Poly­gamie einführen. Mir war dies der fremdeste Gedanke, ich hatte zu lange an die Ehe als eine sakrale Wirklichkeit geglaubt, als daß mich das nicht aufs schwerste betroffen hätte.

Als wir dann wieder in unserer stillen Wohnung waren, erin­nere ich mich, wie ich eines Morgens auf meinen Kleiderschrank und auf die schöne Tapete blickte und mir sagte: endlich steht etwas in meinem Leben, wenigstens die Möbel in unserer Woh­nung, fest. Am selben Tag kam ein Telegramm von meinem Mann, der sich auf einer Reise befand, er habe ein Haus auf dem Lande in Säckingen gekauft, das letzte, das für uns in Frage kam und das wir schon bald beziehen müßten. Ich hatte Besuch und erbleichte so sehr, daß die Freunde glaubten, mich stützen zu müssen. Und doch ahnte ich das vor mir Liegende noch nicht. Er hatte dieses Haus, ohne mich zu fragen, gekauft, und nicht nur, weil es das letzte war, sondern auch, weil wir oft darüber gespro­chen hatten, daß wir unseren Sohn nicht in der Frankfurter Nach­kriegsverwirrung aufwachsen lassen wollten. Wir ahnten noch nicht, daß das ganze Land von dieser Verwirrung befallen war. Auch dachte er an eine Siedlung im Sinne Landauers und glaubte – da ja in vielen Vereinigungen und Gesellschaften von einer neuen Lebensform gesprochen wurde –, daß viele Freunde uns folgen würden.

Es folgte uns aber niemand nach, weil keiner seine Stellung auf­geben wollte. Und Gertrud Kantorowicz, die uns seit Ende des Krieges immer wieder von einem Haus am Bodensee gesprochen hatte, das wir gemeinsam bewohnen sollten und in dem mir alle Last der Tagesarbeit abgenommen worden wäre, führte schließ­lich ganz andere Pläne durch.

Ich erschrak, als ich das Haus zuerst erblickte. Es war ein Bauern­haus mit acht Zimmern, das keinerlei Erleichterung für die täg­liche Arbeit gewährte. Und doch: es wurde mir wieder froh zu­mute, als ich dann aus dem Haus trat und um mich her eine weite grüne Wiese fand. Denn immer, wenn ich auf einer solchen fri­schen grünen Wiese stand, war mir, als hätte mich Gott in diesem Augenblick erschaffen. Und die vielen Obstbäume rings um das Haus ließen die Wiese noch schöner und reicher erscheinen. So sah ich damals vor allem die wunderschöne Landschaft, die meine Liebe zum Leben bestärkte.

Zwei Erinnerungen an die Schönheit von Säckingen sind mir be­sonders deutlich geblieben: die Fülle der blühenden Bäume, die sich vor dem Fenster meines kleinen Arbeitszimmers über eine große Wiese bis fast zum Rhein hinunter erstreckten, und dann, in einer späteren Zeit, ein herrlicher Maimorgen: ich sah früh vom Bett aus das maihelle Grün, das über die weite Landschaft ausge­breitet war, und von drüben, über dem Rhein, aus der damals unerreichbaren Schweiz, klang in regelmäßigen Abständen der helle Ruf eines Kuckucks herüber. Ich habe seine Rufe damals nicht gezählt, die ja die Reihe der Jahre bedeuten sollen, die man noch vor sich hat. Hätte ich es getan und wäre die Prophezeiung des Kuckucks richtig gewesen, ich hätte ihm entweder nicht ge­glaubt oder wäre zu Tode erschrocken, denn eine so lange Le­bensdauer erwartete und ersehnte ich nicht.

Einer der ersten Briefe, die ich in Säckingen empfing, war von Groethuysen. Er war außer sich, daß ich mich aus der Gemein­schaft der Menschen zurückgezogen hatte und meine Wirkung damit zu Ende zu sein schien. Ich begriff nicht sogleich, wie sehr er recht hatte, und daß er die Zeit und ihre Verhältnisse trotz allem nun sehr viel besser begriff als ich. Er besuchte uns dann aber trotzdem oft in Säckingen und freute sich auch mit uns an der Schönheit der Landschaft.

Aber die Jahre, die nun folgten, waren in jeder Hinsicht schwer. Mein Mann leistete unermüdlich die ganze Arbeit in Hof und Garten, die aber nicht die seine und viel zu anstrengend für ihn war, und auf meine Schultern sank für acht Jahre die Arbeit für ein großes Haus mit allem, was dazu gehört: Reinemachen, Wa­schen, Bügeln, Kochen für drei Personen und viele Gäste. Denn Hilfskräfte waren zu jener Zeit schwer zu bekommen; es war ja die Zeit der wachsenden Inflation, deren Ausmaß wir beide un­möglich vorausahnen konnten und die alle tätigen Menschen in die Schweiz oder in die wie Pilze aufschießenden Fabriken zog, da Privatleute in Deutschland immer weniger zahlen konnten. So kam es, daß mein Mann zu meinem Kummer seine beiden eigentlichen Berufe, das Malen und Abfassen kunstgeschichtlicher Schriften, nur noch sehr wenig ausüben konnte. Und alle schönen Bilder, die er damals malte und auch schon vorher gemalt hatte, sind durch das Schicksal der Inflation verlorengegangen.

Mir blieben damals einzig die Nächte zum Lesen, und in ihnen eröffnete sich mir trotz allem eine Welt. Hier bin ich zum ersten­mal dem wirklichen Dostojewski und erstaunlicherweise sogar dem wirklichen Goethe begegnet, und beide haben in mir vieles umgestaltet.

Und was soll ich nun von Dostojewski sagen, in dessen großen Werken „Schuld und Sühne” (Raskolnikow), „Die Brüder Kara­masow”, „Der Jüngling” und vor allem „Der Idiot” mir alles neu und überwältigend war. Die großen russischen Romane, beson­ders „Die Dämonen”, die sich dann später auch im geschichtlichen Leben meiner Zeit mit voller Gewalt verwirklicht haben, habe ich erst sehr viel später als die Wahrheit gerade auch meiner Zeit begriffen. Das große Erlösungswerk Dostojewskis, Himmel und Hölle, Sünde und Buße, offenbarte sich mir darin, und ich er­kannte, daß auch über dieser Hölle, nur noch erschreckender als bei Dantes Hölle, das Wort steht: „Auch mich schuf die ewige Liebe.”

Als ich dieses unerhörte Werk zum erstenmal las, ist es mir fern von der Wirklichkeit erschienen, und ich ahnte noch nicht, wie brennend nah unserer Wirklichkeit das Problem des Urbösen lag, wie es schon unsere Welt zu gestalten begonnen hatte. Die Zeit in Säckingen hätte es mich lehren müssen. Aber die Größe von Dostojewskis dichterischen Gestalten schloß wohl in meiner da­mals vom Alltag geprägten Wirklichkeit eine solche Erkenntnis aus. Und doch gibt es ja kein Wort und keine Gestalt Dosto­jewskis, die nicht von der Wirklichkeit bestätigt worden wären.

Wenn gerade in unserer Zeit in den größten Werken so leiden­schaftlich die Frage nach Schuld und Sühne und damit die Frage nach dem Heil gestellt wird, so zeigt das, daß ein Rückweg ge­sucht wird und daß die Zeit aus dem Nichts herausstrebt.

Ein mächtiges Dreigespann rast durch die Welt Dostojewskis. Der Staretz, der nicht vor dem leidenschaftlichen Gottsucher Iwan – ­der um der Träne eines einzigen schuldlosen Kindes willen die Karte zur Weltharmonie zurückgibt und doch auch mit dem bösen Geist selbst verhandelt, also durch alle Höhen und Tiefen des Lebens geht – und nicht vor dem fast heiligen Jüngling Aljoscha, sondern vor dem wilden, vom tiefsten Leid vorgeprägten Dimitri niederfällt, reißt doch Schuld und Buße in seine Anbetung mit; das Leid ist hier nur der Schlüssel zu beiden – die Kraft von Leid, Schuld und Buße, der Schuß auf die Hostie, die ganze Unheimlich­keit der Krankheit, die Darstellung des Heiligen in einer unheili­gen Welt und die daraus erwachsende Tiefe der Buße, die doch wieder das Heilige zur Auferstehung zwingt, ja, es in einer wahn­sinnsnahen Tiefe wieder erweckt. Ich begriff an dem Werk Dosto­jewskis zugleich das Wort des gewaltigen Augustinus von dem Kranksein der ganzen Menschheit. Die Beichte Stawrogins, die Dostojewski ihrer Furchtbarkeit wegen nicht in den Roman auf­genommen hat, ist mir durch einen Zufall in die Hände gekom­men; nirgends fand ich das Dämonische – zugleich in Liebe und Schuld – mit solcher Gewalt dargestellt. Daß in der Liebe etwas Dämonisches und im Dämonischen ein Strahl von Liebe liegen kann, ist mir wohl in keiner Dichtung so klargeworden wie in dieser selbstmörderischen Beichte des Unheiligsten vor dem Heili­gen, in der die beiden entgegengesetzten Gestalten einander plötz­lich lieben.

Nur eben ein Genius von der Gewalt und doch auch seligen und furchtbaren Krankhaftigkeit Dostojewskis konnte dieses Äußerste Gestalt werden lassen. Mag das auch an meinem Leben nichts ge­ändert haben, in mein Verstehen brach es wie ein Sturmwind ein.

Ich frage mich, wie ich überhaupt diese ungeheure Kunst in mein Leben aufgenommen habe. Einem Fürsten Myschkin gegenüber war das eher möglich als hier bei einem der Brüder Karamasow oder gar beim furchtbarsten von allen, dem Stawrogin aus den „Dämonen”: diese einzige Schönheit und Eiseskälte, diese Sphäre des Verbrechens, und das alles an einem Menschen, der von je­dem, der ihm begegnet, geliebt wird. Wie unverständlich war aber auch das ganz persönliche Leben Dostojewskis, der, Revolutionär von Anbeginn und bereits zum Tode verurteilt, sich doch ganz der Zarenherrschaft ergab, der sich selbst zum tiefsten und furcht­barsten, weil durch das ganze „Fegefeuer des Zweifels” gegange­nen Atheismus bekannte und mit den Sakramenten der Kirche versehen starb – gleichzeitig aber seinen Kindern ein Testament hinterließ, in dem die Möglichkeit eines Verbrechens von ihrer Seite mitaufgenommen ist: „Sollte es euch sogar geschehen, einmal ein Verbrechen zu begehen, so verzagt nicht! Christus lebt!” Ein stärkeres, so dicht am Rande des Abgrunds lebendes Bekenntnis zu Christus ist wohl nirgends in der Welt zu finden. Im Hinter­grund sehen wir hier den anderen großen Russen erscheinen, der, um einen frommen Tod zu sterben, aus der Gemeinschaft auch der teuersten Menschen in Nacht und Finsternis entfloh.

Daneben wandte ich mich nun ganz Goethe und seiner Deutung zu. Meine erste erschütternde Begegnung mit Goethe, die mit Tasso, war mir freilich schon Jahre vorher geschehen und hatte mich völlig mitgerissen. Das Verhältnis zur Liebe wie das zur Welt hat mir zugleich ein ganz neues und tragisches Verhältnis der Welt zum dichterischen Menschen erschlossen. Bald darauf war es etwas ganz anderes: die unglaubliche Richtigkeit von Goethes Maximen und Reflexionen, die mir als ein wahres Wunder erschienen. Hier konnte ich von einer Verwandtschaft auch im entferntesten Sinn nicht sprechen, denn gerade diese, wenn auch noch so entfernte Klarheit und Sicherheit des Blickes war mir schon allein durch meinen rein innerlichen Idealismus verstellt, und ich habe sie erst später schwer und mühsam erringen müssen.

Das dritte aber, was mich an Goethe überwältigte, war mir in schier unfaßlicher Weise verwandt und wurde mir doch erst in dieser letzten Zeit wirklich klar: seine unerhörte Liebe zur Schön­heit in jeder Gestalt.

Was mich dann in einem späteren Zeitpunkt zu meinem Buch über Goethe zwang, war das glühende und ernste Leben in seinen Brie­fen an Charlotte von Stein, der er nicht nur seine Liebe, sondern alles Seine vom Wissen um die Steine, Pflanzen bis in das Innerste seines Herzens anvertraute. Um dieser Briefe, das heißt, um sei­netwillen habe ich mich bemüht, diese Frau zu erfassen, der er eine so gewaltige Liebe und eine so bittere Enttäuschung brachte und die mir, während sie mir anfangs schwer verständlich war, erst mit ihrer schmerzlichen Grabschrift die Art ihrer Liebe nahe­brachte:

 

„Sie konnte nicht begreifen.

Die hier im Grunde liegt;

Nun hat sie wohl begriffen,

Da sie sich so vertieft.“

 

Es ruhte aber zu jener Zeit, in der ich ein mühseliges Leben führte, auch meine übrige Arbeit nicht völlig. Die frühesten Morgen­stunden gehörten ihr, und einige meiner besten Arbeiten sind trotz allem in Säckingen entstanden. So ein kleiner Aufsatz „An der Grenze”, in dem nicht nur das Land an der Grenze, sondern das ganze damalige Deutschland in seinem furchtbaren Abstand von der Schweiz dargestellt ist. Ferner erschien damals ein Auf­satz über die von Ph. Witkop herausgegebenen „Kriegsbriefe deut­scher Studenten”, in denen der ganze verinnerlichte Idealismus, die Traumseligkeit der deutschen Jugend der Vorkriegszeit ausge­sagt ist. Dann eine weitere Arbeit über den „Exodus aus der Philosophie”, aus der noch jetzt manches für das damalige Den­ken zu entnehmen ist. Auch zwei Gedichtbände sind von Säckin­gen aus erschienen. Und ich habe von dort aus eine ganze Anzahl von Vorträgen, vor allem in Basel und Frankfurt, gehalten.

            Unser Sohn wuchs neben uns heran. In Säckingen wurde auch für ihn das Leben schwer. Er hat mir erst viel später gestanden, wie schwer auch er in mancher Hinsicht von der Inflation betroffen war. Dazu kam, daß sein Vater, der ihm zuerst wunderbar bei seinen Schulaufgaben geholfen hatte, wegen eigener Überlastung und Ermüdung diese Hilfe nicht mehr leisten konnte, und mein Sohn meine Hilfe – ich weiß noch jetzt nicht genau, aus welchem Grunde – nur mit größtem Widerstreben annahm. Dazu kamen noch alle anderen Erscheinungen dieser Zeit: eine höchst mangel­hafte Ernährung und ein viel zu weiter Schulweg nach Waldshut, wo das nächste Gymnasium war. Das weitaus Schlimmste war aber, daß er in Säckingen jedes Jahr von einer Kinderkrankheit in ihrer allerschwersten Form befallen wurde, in der ich ihn, der, vor allem von einer sehr schweren Diphtherie und den darauf­folgenden Lähmungen heimgesucht, sehr einer Schwester und eines Wärters bedurft hätte, ganz allein pflegte. Dies war wieder­um für seinen Vater schwer erträglich, weil ich dadurch nicht nur für alle eigene Arbeit, sondern auch für ihn selbst kaum Zeit mehr übrig hatte.

Mein Sohn selbst hat übrigens, eben erwachsen, genau erkannt, daß diese vielen Krankheiten – natürlich ihm unbewußt – ein Mittel waren, mich ganz an ihn zu binden. Ich selbst stand völlig unwissend all diesem Geschehen gegenüber, ich ahnte noch nichts von dem großen Wissen der Analyse, das wenigstens zum Teil unsere ganze schwere Lage erleuchtet und begreiflich gemacht hätte.

Zur selben Zeit zeigte sich plötzlich bei meinem Sohn ein ganz ungewöhnliches Talent zum Malen; mit Staunen sah ich noch vor kurzem seine ersten nur eben hingeworfenen Bilder, Illustratio­nen zur Divina Commedia. Daß ich diese große Begabung in den Schrecknissen der Inflation und auch der religiösen Wirren seiner Konfirmationsjahre völlig untergehen ließ, habe ich mir nie ver­ziehen.

Mein Mann hatte seine glänzende Stellung in Frankfurt um eines neuen Lebens und, wie er glaubte, um meiner Arbeit willen auf­gegeben. Er arbeitete zu jener Zeit immer noch schriftstellerisch, daneben kopierte er in Basel in vollendeter Weise Rembrandt und Holbein. Er hatte vorher in Basel Kunstgeschichte studiert und wohl mir zuliebe seinen Doktor gemacht. Aber das alles zusam­men mit den Arbeiten in Hof und Garten, die seinen zarten Körper überlasteten, brachte ihn dem Zusammenbruch nahe. Die rein geistige Arbeit hätte er bewältigt, aber die körperliche war für ihn zu schwer. Die wachsende Inflation trug dann das Ihre zu einer vollkommenen Desorientierung und Verzweiflung bei. Mir war es überaus schmerzlich zu sehen, wie er zuletzt sogar seine wunderbaren und von ihm so geliebten Rosen vernachlässigte. Ich ahnte wohl und nur von ferne, wie sehr das mit seiner inneren Zerrüttung zusammenhing. Oft kam auch Gertrud Kantorowicz zu uns, die immer hilfreich, immer schenkend, immer gutmei­nend, aber viel zu tief in unser persönliches Leben eingriff und unsere Ehe auf ihre Weise zu zerstören begann. Ich glaube heute, ihre Absicht, mir dadurch das Leben zu erleichtern, in ihrer Hal­tung zu verstehen, und dennoch war dieses Eingreifen alles an­dere als eine Lösung.

Zwei der wichtigsten Begegnungen meines Lebens hatte ich ne­ben den häufigen Besuchen von Groethuysen aber auch in Säckin­gen. Ein noch junger Mann, Eugen Rosenstock, meldete sich etwa im Jahre 1921 bei uns. Ich erkannte schon beim erstenmal seine außergewöhnliche Begabung. Und dann wurde er mir zu einem der Repräsentanten jenes „Exodus aus der Philosophie”, der sich in so vielen Formen nach dem Krieg in Deutschland vollzog und eine ganz neue Weise des Denkens heraufführte. Ich will daneben nicht vergessen, wie er mir die so teuer gewordene Familie Hüssy, mit der er verschwägert ist, so nahe brachte, daß diese Freund­schaft, besonders mit seiner jüngsten Schwägerin, mir bis heute lieb geblieben ist. Er besuchte uns von da an täglich, und ich er­innere mich vieler unserer Gespräche. Diese Begegnung wurde mir unvergeßlich, weil er, der eben aus dem Krieg zurückge­kehrt war, zum erstenmal das in meinem Leben durch alles Ge­lebte, Gelesene und Gedachte hindurch verschollene Wort „Gott” als ein Selbstverständliches wieder aussprach. Selbst die Bibel hatte ich zum großen Teil nicht auf mein Leben bezogen und jedenfalls das Letzte in ihr kaum noch als auf das Heutige anwendbar gesehen. Alle großen Denker und Dichter, die mir in diesem Jahr­hundert begegnet waren, und gerade die größten unter ihnen, die großen Gottsucher jener Zeit, hatten den Namen entweder durch Denken und Erfahrung ausgelöscht oder nur noch den Na­men als längst verklungenen oder wie Goethe als „Schall und Rauch, umnebelnd Himmelsglut” empfunden oder ihn noch weit selbstverständlicher, über Nietzsche bis hin zu Simmel, schmerz­haft, dann schmerzlos fortgewischt. Und dieser deutsche Offizier – freilich in seinem Ursprung Jude –, aus allen Quellen deut­schen und christlichen Denkens genährt, sprach wieder unbefan­gen und selbstverständlich von Gott. Es war also möglich, daß er wiedergefunden, wieder als letzte Wahrheit ausgesprochen wurde, und sogar von einem Menschen, der alles andere als ein weltent­rückter Heiliger war, der sogar, wie ich bald bemerkte, ein ganz von allen Werten des Idealismus losgelöstes Leben führte.

Wenn nach dem ersten Weltkrieg der bereits durch den verzwei­felten Aufschrei Nietzsches totgesagte Gott wieder auf die Lippen der Menschen trat, so war es, weil sie erfahren hatten, daß ohne Gott zu leben und zu sterben für den suchenden Menschen un­möglich ist. Wie nach dem Dreißigjährigen Krieg die große, un­ter dem Aufschrei zu Gott entstandene Barockkunst, so hoben nun die Werke einzelner den ewigen Namen in Denken und Kunst wieder aus dem Dunkel empor. Sie glaubten, weil sie leben und lieben wollten und eine letzte Möglichkeit dazu suchten.

Dies erfuhr ich zuerst durch Eugen Rosenstock, und es war eine Erfahrung, die mich überwältigte. Gewiß hing sie mit dem Gan­zen der Weltentwicklung zusammen, aber das machte sie nur um so wahrer. Rosenstock war der erste, der mir dieses Wort leben­dig brachte, und zwar so, daß es durchaus bejahend und mit einer lebendigen Arbeit verbunden war, der Arbeit an einer neuen Ju­gend, die er mit Liebe und Begeisterung leistete. Er hatte schon vorher in Deutschland wesentliche Dinge gewirkt und nach dem Krieg Entscheidendes für die deutsche Jugend geleistet und wurde nicht nur ein ungewöhnlich geistvoller Professor für Rechtsge­schichte in Breslau, sondern er hatte auch ein Arbeitslager für junge Menschen gegründet. Sein Wort war stark und überzeugend. Das Simmelsche wie das Diltheysche Denken war ihm fremd ge­worden. Denken im bisherigen Sinne war dies überhaupt nicht mehr, sondern nur ein stark verwandeltes, das letzthin aber doch auf der Philosophie von vier in ganz verschiedener Weise bedeu­tenden Denkern des vergangenen Jahrhunderts ruhte: Marx, Kierkegaard, Nietzsche und Husserl; Marx, der den Sieg der Ge­meinschaft über den einzelnen, Kierkegaard, der der letzten Tiefe des einzelnen den Sinn der menschlichen Existenz entnahm. Sie haben bereits in sehr ungleicher Weise vorausgesehen, daß in un­serem Jahrhundert die Tiefe des Nichts der menschlichen Existenz alles verdrängt hat. Was nach dem ersten Weltkrieg als furcht­bare Wirklichkeit sichtbar wurde, alles bisherige Denken zugleich lähmte und überstieg, wurde von den Nachkriegsdenkern in völlig neue Denkmethoden einbezogen. Ein neues Heilssuchen nach der unheilvollen Zeit war wieder in dieser Haltung lebendig. Nietzsche hatte einst geglaubt, aus dem Menschen ohne Gott den höheren Menschen entwickeln zu können. Schon im ersten Welt­krieg war dieses Menschenbild in entsetzlicher Weise zusammen­gebrochen. So flammte überall in der Welt, in den verschiedenen Ländern in verschiedener Weise, vor allem aber in Deutschland, ein Suchen nach dem verlorenen Wege zum Heil auf. Schon bei Husserl verbarg sich hinter einer strengen und klaren Logik ein tiefreligiöser Geist, der nicht nur durch das Leiden des Krieges zu einer neuen Gestaltung des Denkens gelangte, die unermeß­liche Wirkungen ausgelöst und sich über ganz Europa aus der Phä­nomenologie als Existenzphilosophie verbreitet hat. So war die ganze neue Philosophie doch auch zum Teil eine Theologie, eine Soziologie und Heilsgeschichte, und zwar eben auf dem Grunde der Phänomenologie. Hätte Husserls Phänomenologie nicht ihr Wort gesprochen, so wäre das Denken dieser Epoche ein voll­kommen anderes gewesen. Husserl hat, wie in ganz anderer Weise schon Hegel, die Denker an die wahre Tiefe der Phänomene ge­wiesen.

Die lange Zeit, in der ich gelebt habe, war zunächst vom Idealis­mus in seiner deutschen Form, dann von der Lebensphilosophie und zuletzt, Bloch eingeschlossen, von der Phänomenologie be­herrscht. Die ganze abendländische Philosophie von Parmenides bis Hegel wurde damals von mehr als einem Denker verworfen, und wenn es auch früher Kriege und immer wieder Kriege ge­geben hatte, der totale Abbruch aus einer hohen, von einem lan­gen Frieden ermöglichten Kultur wie der eben vergangenen und die totale Zerrüttung aller Lebensverhältnisse, die bereits nach dem ersten Weltkrieg einsetzte, die gräßlichen Geschehnisse des Krieges selbst und dann Inflation und Arbeitslosigkeit hatten das damalige Deutschland so sehr in der Wurzel beschädigt und alle Werte des wirklichen Lebens derart zerstört, daß eine totale Um­kehrung auch allen Denkens zwangsläufig erfolgen mußte.

So brachte das Denken von Rosenstock und bald darauf das sei­nes Freundes Rosenzweig etwas völlig Neues in mein Dasein. Ein Zeugnis dieses neuen Lebensgefühls war neben dem Wort Rosen­stocks vor allem „Der Stern der Erlösung” von Rosenzweig, den er mir kurz vor dem Besuch seines Freundes gesandt hatte.

Natürlich war nach der gewaltigen Säkularisierung unserer Welt und neben der Machtentfaltung der Technik, in der so viel gedacht und entdeckt worden ist, der schlichte Glaube, das Wiederan­knüpfen an das Vergangene, unendlich schwer. Dafür hat Franz Rosenzweig nach langem schmerzlichen eigenen Ringen den ent­scheidenden Ausdruck gefunden: „Nur wer Gott mit dem dop­pelten Gebet des Gläubigen und des Ungläubigen anruft, dem wird er sich nicht versagen.” Er hat also das Beten mitten in seine geschichtliche Zeit hineingestellt. Er strebte „ungläubiges Welt­kind und gläubiges Gotteskind in einem” zu sein. Die Verwirk­lichung dieses Gebetes war von kaum vorstellbarer Schwere. Rosenzweig hat dies gefühlt und darum den ungeheuerlichen Ver­such gewagt, die Verbindung mit Gott durch die uralten ewigen Gesetze neu zu stiften. Er hat das inmitten der deutschen Wirk­lichkeit getan, die damals schon dem Hitlertum entgegentrieb, und er hat seinen Plan in seinem kurzen Leben verwirklicht. Denn diesem Leben war die Gnade der Rechtzeitigkeit in jedem seiner Schritte bis in den Tod hinein gewährt.

Monatelang, mehr als ein halbes Jahr, habe ich mich damals neben der drängenden häuslichen Arbeit um Rosenzweigs „Stern der Erlösung” bemüht. Und bevor ich meine Eindrücke in der Zeit­schrift Bubers „Der Jude” niederschrieb, kam Rosenzweig selbst eines Tages zu mir. Ganz anders als sein – Christ gewordener ­Freund Rosenstock wirkte er auf mich – nicht weniger klug und ideenreich, aber zurückhaltender und ruhiger, fast weniger sicher, möchte ich sagen, und ein Brief, den er mir unmittelbar darauf schrieb, der von allen seinen veröffentlichten Briefen abweicht und den ich hier als Offenbarung einer ganz anderen Seite seines Wesens einfügen möchte, bestärkte und verstärkte diesen Ein­druck:

                                                                                                                            

Montag früh

„Hochverehrte, liebe Frau v. Bendemann,

 

nach durchfahrener Nacht sitze ich im Mannheimer Wartesaal und muß Ihnen schreiben. Ich weiß noch nicht, ob es recht war, daß ich gestern davonfuhr und nicht noch einen Tag blieb. Nun trage ich den gestrigen Nachmittag noch wie ein großes Gewicht mit mir herum oder vielmehr: Ich lasse es ungehoben daliegen. Es ist ja nichts so schwer als wahr zu sein, besonders bei so einem ersten Mal. So habe ich gestern, ohne daß ich es wollte, Ihnen einen viel breiteren und fundierteren Menschen ge­zeigt, als ich es bin. Und ich fühle nachträglich, daß Sie das belasten muß. Aber das bin ich ja gar nicht. So wäre ich, wenn ich noch der Verfasser meines Buches wäre und nicht schon mit dem letzten Wort des Buches selber mein Leben von seiner allzu großen Vollendetheit wieder gelöst hätte. Es war ja gestern natürlich: das Buch hatte mich zu Ihnen ge­bracht, so konnte es sich gestern mächtiger über mich aufspielen, als es ist. In Wahrheit bin ich heute Anfänger wie je im Leben und verzweifle jeden Tag, wie ich die Last dieses Tages heben soll: Und am Abend liegt sie ungehoben, oder wenn ich sie wirklich ein wenig von der Stelle ge­rückt haben sollte – ich sehe es nicht. Die geistige Klarheit hilft da wenig, nein, gar nichts. Mehr kann ich heute nicht sagen, ich brauche es auch nicht. Nur das Buch, das noch zwischen uns stand, wollte ich wegräumen. Glauben Sie, daß ich im Leben heute vor keinem etwas voraushabe. Viel­leicht im Gegenteil.

Sie brauchen mir hierauf nicht zu antworten. Ich komme sicher wieder, im August oder September.

 

In aufrichtiger Verehrung

Franz Rosenzweig.”

 

Dieses Wiedersehen hat nicht mehr stattgefunden. Ich habe Ro­senzweig erst Jahre später in Frankfurt als einen tief Veränderten wiedergesehen. Noch in der letzten Zeit, von Säckingen aus, habe ich auch zum erstenmal von der ganz anderen Welt Gandhis gehört – im Vor­trag eines schlichten Inders, der zwei Stunden, ohne jede Spur von Pathos, eher eintönig, über Gandhi, seine Anschauung und seine Taten sprach.

Als ich dann später allein in Frankfurt war, wurde ich um einen Vortrag über Gandhi gebeten. Ich verschaffte mir nun alles, was von ihm und über ihn zu erhalten war. Es war eine andere Welt als die, die ich kannte. Die Gewaltlosigkeit – von Tolstois Berg­predigt-Gedanken beeinflußt – in einer Zeit, in die eben die furchtbare Verwüstung des Krieges eingebrochen war, ist ein kaum zu fassender Gedanke.

Daß dieser Mensch ermordet wurde, richtet unsere ganze Welt. Unter den vielen bedeutsamen Erlebnissen, die ich trotz allem in Säckingen hatte, tritt eines in bestürzender Weise hervor:

Wir waren früher in Rüschlikon mit einem Zürcher Ehepaar be­freundet gewesen; der Mann, Rudolf Streiff-von Wyss, ein ent­fernter Verwandter meines Mannes, war ein bedeutender, äußerst gewissenhafter Architekt, der sich dann, als wir in Säckingen wa­ren, das Leben nahm. Mein erster Gedanke war, alles zu unter­nehmen, um über die Grenze zu seiner Frau zu kommen. Ich fand sie so gebrochen vor, wie ich nie einen Menschen gesehen habe. Nach Säckingen zurückgekehrt, schrieb ich ihr dann – obwohl ich an eine bejahende Antwort kaum glauben konnte, weil sie in Zürich viele Verwandte und Freunde hatte –, ob sie über die Weihnachtszeit zu uns kommen wolle, und erhielt umgehend ihre Zusage. Sie hatte es in dieser Zeit bei uns nicht leicht, weil schon die wachsende Inflation das Leben zu erschweren begann, aber aus den Weihnachtswochen wurden anderthalb Jahre, in denen sie mir überall zu helfen suchte, aber auch unermeßlich litt.

Ich fühlte so sehr die Größe und Tiefe ihres Schmerzes, und vor allem durch dieses Leiden ist sie mir mit der Zeit so lieb geworden wie wenige Menschen in meinem Leben. Sie verließ uns später, um den Versuch eines neuen Lebens zu wagen, wozu auch ich ihr schon lange geraten hatte. Sie hat dann dieses neue Leben in einer unerschütterlichen, wenn auch für die meisten fremden Überzeu­gung und in der unermüdlichen Arbeit für diese wirklich gefun­den und ist in das ihr lange verschlossene Leben, wenn auch auf neuen und strengen Wegen, zurückgekehrt. Unsere Freundschaft ist aber über alles dunkle Geschehen hinweg bis zum heutigen Tage bestehengeblieben.

 

 

INFLATION

 

 

Mommsen beginnt eines seiner Hauptwerke mit dem Wort, daß es drei große Formen nationalen Unglücks gebe: Krieg, Revolu­tion und den Zerfall einer Währung. Ich sagte mir, als ich das etwa zu Beginn des ersten Weltkriegs las: Krieg sicher, Revolution sehr wahrscheinlich, aber der Zerfall einer Währung, eine bloße Geldentwertung, kann doch unmöglich ein so durchgreifendes Nationalunglück sein. Wie habe ich das Mommsen abzubitten! Und wir erlebten die Inflation, diesen Zerfall, den größten seit Menschengedenken, nicht mitten im Herzen, sondern am Rande des Landes, wo er sich am verhängnisvollsten auswirkte. Die Jahre, die folgten, zeigten mir, was die wachsende Entwertung des Gel­des für fast jeden einzelnen bedeutete und wie sie die Menschen entlarvte und zerstörte. Es war ein Leben wie im Wahnsinn, und wie ein Wahnsinn war auch sein Ende. Als schon die Fläche unse­res riesigen Küchentisches vollkommen mit Milliarden, ja, mit Billionenscheinen zuzudecken war, konnten wir kaum ein Brot bezahlen. Und als eines Morgens vor der Schule mein Sohn plötz­lich zu mir kam und sagte, sein Vater habe ihm Geld gegeben, damit er die Elektrizitätsrechnung bezahle, er dürfe aber nicht einmal vorher frühstücken, um keine Zeit zu verlieren, und ich ihm in der Hast doch noch eine Tasse Kakao einschenkte, wurde in dem Augenblick, als er zahlen wollte, der Schalter wegen Tarif­erhöhung vor ihm geschlossen. Als man wieder aufmachte, hatte er 100 000 Mark zu wenig. – Dies alles erscheint heute wie ein böser Traum und ist doch eine so furchtbare Wirklichkeit gewe­sen, daß unzählige Menschen, unzählige Ehen, unzählige Existen­zen daran zugrunde gegangen sind und unzählige Menschen, von denen man dies nie geglaubt hätte, sich vollkommen in ihrem Charakter veränderten und zu Schiebern und Betrügern wurden.

Zu jener Zeit, etwa 1922, erhielt ich einen Brief von einer jünge­ren Frau, die nicht weit von uns im Wiesenthal wohnte. Sie bat darin, mich besuchen zu dürfen. Sie gab sich als leidenschaftliche Pazifistin; das „Nie-wieder-Krieg”, das damals eine Gruppe von Menschen in Deutschland beherrschte, war ihre Losung. Zu­gleich aber faßte sie eine glühende Liebe zu mir und schrieb mir von sich heraus Briefe, die meinem Mann zu zeigen ich mich schämte. Kaum hatte sie unsere Ehe kennengelernt, so hielt sie es für ihre Aufgabe, diese nach ihren Worten „lyrische” Ehe zu zer­stören. Ich suchte sie bald fernzuhalten, aber sie kam immer wie­der, und mein Mann meinte, eine Pazifistin dürfe man nicht zu­rückweisen. Zudem erfüllte sie ihm einen Wunsch, den ich ihm nicht erfüllen konnte. Ich hatte verboten, daß bei Tisch über In­flation und Geldsorgen, die ja damals alles Persönliche verwüste­ten, gesprochen werde. Sie dagegen, die, allein mit ihrer Mutter lebend – ich weiß nicht wie –, es verstanden hatte, ein großes Vermögen zu bewahren, sprach mit ihm immer wieder über die Geldverhältnisse, und ich sah, daß es ihn erleichterte.

Mir verschlug es den Atem, als sie einmal sagte, sie könne mit ihrer Mutter nur leben, weil sie sie „an der Kandare halte”, und ich erschrak noch mehr, als sie mir kurz darauf sagte: „Wenn ich einen Menschen haben will, gehe ich über Leichen.” Bei diesem Wort einer sogenannten Pazifistin regte sich schon die Ahnung in mir, wie sie sich an mir für meine Zurückweisung rächen könnte. Meinem Mann redete sie dann gewaltsam ein, daß ich zu groß für ihn sei, und da er in unserer schwierigen Lage, in der meine Kräfte falsch verwendet wurden, Ähnliches schon selbst empfunden hatte, glaubte er diesen ihren Worten, und zwar nicht ohne Bit­terkeit.

So entspann sich auf der Grundlage der Inflation und der Ver­zweiflung eine Beziehung zwischen den beiden, die ihm dadurch, daß jene Frau ihre ganze Zeit für sich hatte und anfing mit ihm große Ausflüge zu machen, auch ein Stück freieres Leben brachte, das ich ihm einerseits von ganzem Herzen gönnte und um seinet­willen sogar förderte.

Ich begreife heute selbst nicht mehr, wie ich zu jener Zeit der aufs höchste gestiegenen Inflation, der Verstörung meines Man­nes und aller damaligen Verhältnisse überhaupt noch leben konnte. Und doch erinnere im mich deutlich eines Gespräches mit meiner Schwester, die uns für einige Wochen besuchte, über die Seelen­wanderung. Sie sagte: „Nein, ich habe genug vom Leben, im möchte nach meinem Tod nicht wiederkommen.” Meine Antwort darauf war: „Ich möchte wieder und wieder leben, ich möchte noch tausendmal wiederkehren.” So freudig erschien mir selbst damals bei all seiner Schwere das Leben.

Wenige Tage später fiel dann jäh ein leises, im Grunde längst zu erwartendes Wort, das mitten in mein Leben traf. Und im selben Augenblick senkte sich über die Welt vor mir plötzlich ein schwar­zes Tuch herab und deckte sie für immer zu. Das ist nicht etwa ein bloßes Bild. Wenn ich es mit meiner heutigen wachsenden Erblindung vergleiche, die auch die Welt vor mir verdunkelt, bleibt es als ein nicht weniger Wirkliches bestehen. Mein Lebens­wille war gebrochen. Aber das Seltsamste war: die Natur, die ich so unsinnig und freudig geliebt hatte, nahm an diesem Zusam­menbruch teil. Vor unserem Haus stand ein großer Birnbaum, den ich vor allen Bäumen liebte; im Frühling war er wie eine schimmernde, aus Blüten aufgebaute Burg, und ich stand oft nachts im Mondschein lange am Fenster und bewunderte seine lichte Pracht. Er gehörte in jeder Jahreszeit zu meinem Leben. Da, am Tage nachdem das schwarze Tuch vor mir auf die Welt herabgefallen war, erhob sich plötzlich ein Wirbelsturm, wie ich ihn nie vorher und nie nachher erlebt habe. Alle Dinge am Boden gingen im Kreis, und die mächtige Krone des Baumes wurde von oben bis unten gespalten. Ich glaube, daß alle, die um mich waren, etwas von der seltsamen Einheit dieses Doppelzusammenbruchs ahnten, wenn sie auch keiner zu deuten wußte. Ein leises Wort, ein mächtiger Baum – und dazwischen ein glühendes Menschen­herz, das beide geheimnisvoll verband. Meine Freundin Gertrud, die meinen Schmerz über den zerstörten Baum sah, sagte: „Du wirst sehen, er wird wieder blühen.” Ich antwortete: „Ja, aber nur die eine Seite.” Und so ist es in seinem und meinem Leben geschehen.

Ein Zufall, wie ihn die Menschen verstehen, ist dieses Erlebnis nicht gewesen. Es war auch kein Aberglaube dabei, weil es eine so vollkommene Wirklichkeit war, die die anderen miterlebten. Es bedurfte fast zweier Jahre, bis ich mich von diesem Zusammen­bruch erholte, und das schwarze Tuch ist nie mehr – außer in seltenen späteren Stunden – von der Welt um mich her fortge­sunken.

Ich erkrankte damals sehr schwer und versank in eine tiefe Schwer­mut. Ich sehe noch, wie sich an den Fensterscheiben unseres zu ebener Erde gelegenen Zimmers schimmernde Eisblumen bilde­ten und mir immer der Vers aus dem frühen Roman Dostojewskis „Arme Leute” im Herzen lag:

 

Ist bei mir nicht das Leben,

Glänzt nicht der Abendschein

Rot durch der Eisblumen

Silberne Pracht?

 

Und es drängte sich mir die Frage auf: Wie hatte ich meine Ehe gelebt? Was hatte ich von der Ehe gehalten? Ich wolle jeden Tag zum Sonntag machen, hatte einst mein Jugendfreund gesagt. Aber das hatte ich nie versucht, ich war, sobald es von mir ge­fordert wurde, eine nur zu gute Hausfrau gewesen, und schließ­lich hatte ja die Inflation eine solche Möglichkeit zerstört. Aber die Ehe war für mich immer eine sakrale Form gewesen und war das bis zuletzt geblieben, und dies machte ihren Zusammen­bruch für mich so völlig unerträglich. Ich hatte an dieser Liebe festgehangen bis zu dem Augenblick des schweren Zusammen­bruchs. Die Liebe ist es ja, die an einer einzigen Stelle die stei­nerne Härte des Lebens erweicht und an seine Stelle ein Märchen, eine schmerzlich-liebliche Fabel setzt. Und es war ja auch von seiner Seite eine ungebrochene Liebe und Ehe gewesen.

Eine Zeitlang während meiner Krankheit hat mich mein Mann wunderbar liebevoll gepflegt, und ich glaube bestimmt, ich wäre gesund geworden, wenn dies noch einige Wochen angehalten hätte. Aber plötzlich schlug eines Abends jemand an unser Fen­ster: es war Gertrud, die gekommen war, um mich für einige Zeit zu pflegen und so meinem Mann eine Reise zu seiner Schwester nach Berlin zu ermöglichen. Es war schwer, dies Anerbieten ab­zuschlagen, und ich redete natürlich meinem doch auch erschöpften Manne zu. Aber ich sank in meine schwere Krankheit zurück. Als er nach einigen Wochen wiederkam, war die Krankheit verschlim­mert und er selbst in eine so andere Atmosphäre geraten, daß ich in ein Spital nach Frankfurt gebracht wurde, wo mich als Arzt Kurt Goldstein rührend pflegte.

Als ich nur halbgenesen nach Säckingen zurückkehrte, erhielt mein Mann, der von Frankfurt her für sein Kunstverständnis bekannt war, unerwartet eine Anstellung am Kaiser-Friedrich-Museum in Berlin. Es war geldlich eine Rettung für uns. Ich blieb allein in dem einsam gelegenen Haus zurück, denn mein Sohn studierte damals das erste Semester in Basel und besuchte mich nur jeden Sonntag. Langsam wuchs ich wieder in meine Arbeit hinein und schrieb oft bis weit nach Mitternacht.

Während mein Mann in Berlin lebte, kam an mich die erste Ein­ladung zu einer Tagung in Pontigny, die ich Groethuysen ver­dankte. Die wunderbaren Tage in der schönen Abtei in Pontigny, wo sich Gelehrte und Schriftsteller aus allen Ländern Europas trafen, große Gespräche führten und Reden hielten, führten mich ein wenig ins Leben zurück. Wie ein Rausch und Duft umspann­ten mich die fremden Sprachen; nie vergesse ich die erzengel­gleiche Stimme von André Gide, nie seine und vieler anderer Liebenswürdigkeit. Ich hatte ein Leben, ein schweres Leben hin­ter mir, aber hier, wie so oft in meinem Leben, war ich plötzlich wieder jung, und aus mehr als einer Äußerung erfuhr ich, daß ich auch den anderen so erschien. Ich hielt einen Vortrag über Stefan George, der ganz französisch konzipiert und sicher der beste mei­ner George- Vorträge war.

Schön waren aber vor allem die einsamen nächtlichen Spazier­gänge mit Groethuysen, in denen wir wieder von unseren alten ewigen Problemen sprachen.

Bald nach meiner Rückkehr nach Säckingen verlor mein Mann seine Stellung wieder, und zwar aus einem Grund, aus dem ich sie auch verloren hätte: er begriff nicht, daß eine dort veranstal­tete Kunstausstellung auch politische Hintergründe hatte, und sprach einfach mit einem englischen Gast offenherzig über alles, was mit ihr zusammenhing. Als er nach Säckingen zurückkehrte, begann Gertrud plötzlich zu mir von einer Reise nach Capri zu sprechen. Ich wäre durch eine solche Reise in meiner Arbeit wie­der gestört worden, hätte auch so gerne noch die blühenden Bäume in unserem Garten gesehen, weil ich ahnte, daß dies der letzte Frühling in Säckingen sein würde. Ich bat sie, mir diese Reise nicht aufzuzwingen, aber sie sagte, wenn ich nicht mitkäme, würde sie auch nicht reisen, und ich wußte, wie sehr sie an dieser Reise hing. Ich gab schließlich nach, wie fast immer in meinem Leben, und erst nach Wochen in Capri begriff ich plötzlich, warum sie mich so dringend zu dieser Reise bestimmt hatte. Sie wollte mich von unserem Haus entfernen, damit mein Mann mit seiner nahe lebenden unseligen Freundin allein sein konnte.

Endlich von Capri zurückgekehrt, mußte ich noch einmal für kurze Zeit nach Säckingen, um einiges in unserem Haus zu ord­nen, und dann nahmen wir beide Abschied voneinander.

Dieser Abschied war eine reine schmerzliche Liebeserklärung. Er hatte nur diesmal nicht die Kraft und nicht die Möglichkeit, mir einfach in den Zug nachzuspringen. Sein schönes Gesicht war völlig zerfallen, er ertrug plötzlich nicht, was mit ihm geschah; und er ahnte doch damals sicher noch nicht, daß wir uns nie wie­dersehen würden. Vielleicht hat die Art dieses Abschieds mir eine innere Ruhe in der Gewißheit gegeben, die vergangenen Jahre doch nicht ganz umsonst gelebt zu haben.

Wohin ich nach diesem Abschied ging, ist mir nur dunkel im Ge­dächtnis geblieben. Ich war frei, jedoch so sehr im Bann des Ge­schehenen, daß ich nur mühsam wieder Boden unter den Füßen fand. Ich war frei, aber zu was für einem Leben? Ich weiß nur, daß ich eigentümlich ruhig war und daß der Abschied vom bis­herigen Leben mir auch eine leise Erleichterung schien. Vielleicht hatte Gertrud das bei ihrem Eingriff in unsere Ehe, nach der namenlosen Beanspruchung der vergangenen Jahre, sich genauso vorgestellt. Ich weiß von dieser Zeit nur, daß sie mich zunächst nach Basel führte und daß mich dort Edith Landmann still wie eine Schwester pflegte. Edith Landmann, eine reine Jüngerin Georges, hatte auch die Strenge dieses Dichters und war doch ein zarter, gütiger Mensch. So lernte ich sie damals kennen. Dann ging ich auf Gertruds Bitte in ihre Nähe nach Heidelberg, was doch auch eine Art Zuflucht für mich bedeutete.

Ich kehrte noch einmal nach Basel zurück und begann mich dort ganz in die chassidischen Legenden zu versenken. Es war ein wun­derbarer Trost, eine innere Wiederbelebung, eine letzte Bestäti­gung alles dessen, was zutiefst immer das Meine gewesen war. Es war die aus finsterem Leid geborene leidenschaftliche Sehnsucht nach der Freude, ja, die Lehre der Freude – es war die Erhebung der Funken aus allem Wirklichen, es war die Inbrunst des Gebe­tes, die sich mir als ein Neues offenbarte und die mir eine mächtige Brücke zu einem wahren Leben schlug.

Daneben war ich viel im Hause meines alten Freundes Joël, und er, Professor an der Basler Universität, von allen Menschen geliebt und geehrt, von seiner Mutter und Schwester vergöttert, war zu jener dunklen Zeit ein Refugium für mich. Karl Joël – eine in ihrer Weise höchst bedeutende Gestalt, der Sohn eines deut­schen Rabbiners, der noch Schelling persönlich gekannt und, wie ich glaube, noch bei ihm gehört hatte – war von einer geheimen und feinen Klugheit, die nicht leicht zu durchschauen war, doch drücken seine verschiedenen Bücher natürlich vieles davon aus, vor allem das heute vielfach fremd gewordene, aber höchst auf­schlußreiche Buch „Seele und Welt” und das zweibändige Werk „Wandlungen der Weltanschauung, eine Philosophiegeschichte als Geschichtsphilosophie”, dessen zweiter Band erst zur Zeit der Nationalsozialisten erschien und darum leider viel zuwenig Be­achtung fand.

Er war ein äußerst gütiger Mensch, der wohl, nur um seine Mutter und Schwester mit dem eigenen Gehalt unterstützen zu können, ein bloßes Junggesellenleben führte. Ich lernte auch bei ihm manche bedeutende und mir zugewandte Menschen kennen. Joël selbst erschien unter seinen Gästen immer im Hintergrund und be­herrschte doch die ganze Gesellschaft.

Dann wurde mir für die Sommermonate von einem gütigen Zür­cher Mäzen eine sehr reizende und billige Wohnung in einem Chalet in Arosa angeboten. Dort lernte ich Arnold Metzger ken­nen, an dem ich die Erfahrung machte, wie ein Mensch durch den vier Jahre währenden Krieg völlig umgeprägt werden kann, ein Mensch, der einerseits völlig in der Fremde verloren, anderer­seits – bei einer rein abstrakten Denkweise – von jähen Blitzen des Wissens um Menschliches durchflammt war. Mit ihm als einem Schüler Husserls vertiefte ich mich in die neue Welt, das erschließende Denken Heideggers. Dies war meine erste Begeg­nung mit Heidegger, und sie war sowohl für Metzger als auch für mich entscheidend. Wir erlebten im Nachvollziehen seines Denkens, daß er eine neue deutsche Sprache geschaffen hatte, die freilich ganz auf dem Denken Husserls beruhte, aber dann doch das gesamte europäische Denken und Dichten befruchtet hat.

Metzger fuhr mit mir ins Tal hinunter, und wir trafen uns später in Frankfurt wieder und waren sehr ungleiche Freunde gewor­den. Das einzige, was uns beiden gemeinsam war, war das Ver­hältnis zur Philosophie. Ich habe in ihm so viel Ungleiches ver­einigt gesehen, daß mir in ihm wiederum auf eine andere Weise das Wesen der Nachkriegszeit verkörpert schien. Immer hatte ich das Gefühl, von diesem seltsamen Menschen verstanden zu sein, den ich selbst so schwer verstand. Und nie vergesse ich den Juli­abend, an dem er nach einem starken Erleben plötzlich in mein Zimmer trat mit dem jubelnden Ausruf: „Es ist Sommer!” ­Kaum einer meiner anderen Freunde hat diese leuchtende Wärme, diese warme menschliche Fülle gehabt, seinen inneren und äuße­ren Reichtum so gut getragen und verwendet wie dieser tiefpro­blematische Mensch. Arnold Metzger hat zwei entscheidende Bü­cher geschrieben, „Phänomenologie und Metaphysik” und das schwerer verständliche Werk „Freiheit und Tod”. Er ist Professor in München geworden und arbeitet wieder an einem neuen Buch. Im übrigen war die Zeit in Arosa eine der einsamsten und dun­kelsten meines Lebens.

Von Arosa ging ich auf die Bitte meiner Schwester, die zu jeder Zeit Raum und Liebe für mich hatte, zu ihr nach Berlin. Dort wirkte damals auch Groethuysen als Professor. Er besuchte mich von nun an täglich. Obwohl noch nicht ganz wiederhergestellt, ging ich mit ihm nächtelang durch die Straßen und Anlagen von Berlin, so lange, bis das tiefe Dunkel des Nachthimmels in ein schimmerndes Blau-Grün überging. In diesen Nächten sprach Groethuysen immer wieder von der Seele, und er sprach von mei­ner Seele. Und hier war es auch, wo er das Ganze unserer Bezie­hung überschauend, ihr eigentliches Wesen aussprach: „Und zu­weilen kommen wir beide zusammen und treffen uns auf einem Stern.” Er sagte selbst, daß wir sicher die einzigen Menschen seien, die zu jener Zeit (es war ja schon nach dem ersten Welt­krieg, da die deutsche Metaphysik zusammengebrochen war) noch derart metaphysische Gespräche führten. Die Seele war im Grunde immer unser Reich geblieben. Ich fühlte ja wohl, daß dies ein Geisterreich oder auch ein Schattenreich war – es war zugleich Leid und war doch auch Trost.

Groethuysen kam immer pünktlich um fünf Uhr. Eines Tages blieb er aus. Ich wartete etwa eine Stunde und begriff nicht, was mit ihm geschehen war. Gegen sechs Uhr erschien er sehr erregt und mit tiefgerötetem Gesicht. Er sagte: „Ich habe ein Buch ge­lesen, von dem ich unmöglich loskommen konnte.” Und in der Tat ist er dann bis zum Endes seines Lebens von diesem Buch, das heißt, von dessen Dichter, nie mehr losgekommen. Dies Buch war „Das Schloß” von Kafka, das wie das ganze Denken Kafkas für das Leben und Sterben Groethuysens entscheidend wurde, ja, er hat sich zuletzt völlig mit dem Dichter identifiziert.

Ich nahm nun auch das Buch zur Hand, verstand es zuerst schwer, begriff aber sofort, daß es etwas Großes war. Und da ich seine Größe erkannte und von vielen um ihre Bedeutung gefragt wurde, versuchte ich mit aller Kraft den Sinn dieser Dichtung herauszu­arbeiten. So erschien der erste deutsche Aufsatz über Kafka in der Zeitschrift „Der Morgen” im Jahre 1929, der mir noch heute, nachdem so vieles und Entscheidendes über ihn geschrieben wor­den ist, nachdem vor allem auch seine Tagebücher erschienen sind, als im Grunde richtig erscheint, wenn ich ihn auch heute sicher anders schreiben würde.

In dem hundert Seiten langen Brief Kafkas an seinen Vater, der die Voraussetzung seiner furchtbaren Erzählungen „Die Verwand­lung” und „Das Urteil” ist, wird Wirklichkeit, was Freud als das Verhältnis der Generationen zueinander erkannt hatte. Können die Menschen noch so leben, mit diesen Erkenntnissen und in einer solchen Welt? Diesen Erfahrungen und Erkenntnissen entspricht nun kein Expressionismus mehr, sondern eine neue, schwer zu benennende Kunst, die ich, wie im Grunde schon die Kafkas, die Kunst der Ausweglosigkeit nennen möchte, und zwar einer Aus­weglosigkeit, die im tiefsten Erfahrung alles Lebens ist und nur in Krisenzeiten wie der unseren und in dazu angelegten Menschen mit besonderer Deutlichkeit hervortritt. So geschah es bei einer mir befreundeten Ärztin, die sich vor kurzem das Leben nahm, weil ihr zu leben unmöglich war und ihr alle Auswege durch sich selbst verschlossen waren.

Ich könnte unzählige deutsche, französische, englische, amerika­nische Dichtungen nennen, die alle diesen Charakter tragen, den Charakter einer Welt ohne Zeichen, deren Horizont zerbrochen ist. Um einen der größten zu nennen, den, der mich noch vor Kafka in diese Welt der Zerstörung eingeführt hat: Hemingway – nicht nur in seinem Wort über die verlorene Sprache, sondern vor allem in dem großartigen Roman „The old man and the sea”, in dem ein ruhig und gleichmäßig seine Pflichten erfüllendes Le­ben von unten her mit Vernichtung bedroht wird und ihr Schritt für Schritt anheimfällt.

Alle folgende Kunst wird zum Teil von diesen großen Meistern und zum anderen Teil von der immer mächtiger, bis zum Wahn­sinn sich entfaltenden Technik unserer Zeit bestimmt.

Am entscheidendsten wohl – neben der Kunst Kafkas – ist das Verhältnis von Zeit und Raum in dem großen, zwischen den bei­den Weltkriegen entstandenen Roman „Ulysses” von James Joyce dargestellt, in dem die Weltdurchwanderung des Odysseus sich an einem einzigen Tag im Leben eines schlichten Alltagsmenschen vollzieht; jede verborgene Regung ist fliegend festgehalten – was ohne die Tiefenpsychologie Freuds, aber auch ohne einen gewal­tigen inneren Reichtum und ohne die Schärfe der Beobachtung nicht denkbar und nicht durchführbar gewesen wäre.

Von dem Augenblick an, wo ich, noch nicht ganz geheilt, langsam wieder zu meiner Arbeit und damit zu mir selbst zurückkehrte, waren und blieben um mich die einst so geliebten Wiesen und Bäume verschwunden. Ich lebte allein in einer Stadt, die aus Häu­sern und Straßen bestand. Nur ein breiter und reicher Sternen­himmel wölbte sich jetzt noch über mir und mahnte mich an eine schönere Welt. Es war schwer, sich mit einem schweren Herzen in dem schwer gewordenen Leben zurechtzufinden. Ich erkannte, daß alles um mich und in mir auf eine unfaßliche Weise zerbrochen war.

Das Ganze des Lebens wie die einzelnen Verhältnisse und Begriffe waren nach dem Krieg zu etwas ganz anderem geworden, als ich bis dahin geträumt und doch auch zum Teil wirklich gesehen hatte. Ich brauchte lange, um das Ganze dieser Veränderung und Ver­wüstung zu begreifen, und auf dem Wege dieses Begreifens sah ich Geister, Hexen, all die Walpurgisnächte, die ich bisher für Dichterträume gehalten hatte, als lebendige Mächte um mich her und in meinem eigenen Leben heraufsteigen. Und ein namenloses Grauen breitete sich in meinem sich verhärtenden Herzen aus.

Ich versuchte zu jener Zeit streng zu arbeiten. Langsam entstand das Buch „Frauen der Romantik”, bei dem ich mich nur an die Quellen hielt. Aber die Schattenwelt um mich her ließ sich von meiner Arbeit nicht bannen. Was das Leben ist und was der Tod, hatte ich wohl schon immer gefragt, ich war ja dicht am Rande ge­wesen; aber die Menschen, so wie sie wirklich nach dem ersten Weltkrieg geworden waren und einander bedrängten und zerstör­ten, waren mir im letzten fremd geblieben. Auch alle einzelnen Verhältnisse zeigten in jener Zeit ein neues Gesicht. Die Arbeits­losigkeit unzähliger Menschen griff mit ihren schwarzen Händen in das schwache, ermüdete Deutschland ein. Was diese Arbeits­losigkeit bedeutete, verstand ich zuerst noch nicht ganz; aber als dann so viele Ehen, Arbeitsgemeinschaften, Betriebe auseinander­brachen, alle Einigkeit unter den Menschen mehr und mehr zer­fiel, da begann ich sie langsam als das furchtbare Schicksal zu be­greifen, das sie für dieses ausgesogene Land bedeutete. Ein alter schwächlicher Mann brachte mir zu jener Zeit immer meine ge­waschene Wäsche zurück, und jedesmal stellte er den Wäsche­korb auf die Truhe neben der Türe und sagte leise: „Es ist ein Land ohne Hoffnung.” Ich habe diese müden Worte nie verges­sen, und ich erfuhr dann bald wirklich, daß Deutschland ein Land ohne Hoffnung war. Aber diese Hoffnungslosigkeit hat sich schließlich ganz anders entfaltet, als ich zu jener Zeit noch ahnen konnte.

In Frankfurt hatte ich aber trotz allem einige wirklich fruchtbare Begegnungen. Vor allem die Wiederbegegnung mit Rosenzweig, dessen bleiches, schmal gewordenes Antlitz ich nach seinem Besuch in Säckingen nicht wiedererkannt hätte. Er selbst hatte in jenem Brief an mich das Buch „Der Stern der Erlösung”, das eine ganze Epoche beherrscht, als ein Letztes abgelehnt. Ich hatte das damals schwer begriffen. Jetzt sah ich in seinen Zügen und in dem Leben, das ich nun kennenlernte, allmählich den Grund dieses Verzichtes auf alles nur Geschriebene. Ich war damals meist für niemanden zu sprechen, nur wenn Rosenzweig mich rief, war ich immer für ihn da. Zuweilen durfte ich ihm aus Luthers Bibelübersetzung vorlesen.

Rosenzweigs unerhörtes Schicksal in seinem Wesen zu beschrei­ben, habe ich mehr als einmal versucht. So zuerst unmittelbar nach seinem Tode – und dann viele Jahre später, als er schon in die Geschichte eingegangen war. Er war der letzte große deutsche Jude, der Judentum und Deutschtum in lebendiger Einheit leben und gestalten, der das jüdische Gesetz in der deutschen Wirklich­keit leben wollte. Wie schwer das zu verwirklichen war, hat er bis zum Grunde erfahren, hat aber niemals seine Haltung auf­gegeben.

Sein Lebenswerk „Der Stern der Erlösung” ist ganz von dieser seiner Wahrheit geprägt. Das Werk ist, obwohl nur wenige Jahre zwischen ihnen liegen, von seinem ersten Werk „Hegel und der Staat” um mehr als ein Leben getrennt. Zwischen ihnen liegt nicht nur ein übermächtiges äußeres Geschehen; zwischen ihnen liegt eine innere Entscheidung. Jenes erste Buch war ein wissenschaft­liches Werk großen Stils. Dieses sein zentrales Lebenswerk aber, das er im Weltkrieg an der Front, immer im Angesicht des Todes auf den schlechten Blättern der Feldpostbriefe hingeworfen hat, ist mit allem, was es an Kenntnissen und Erkenntnissen enthält, selbst nicht mehr Erkenntnis – es ist Bekenntnis, das sich im Drang der Stunde zum Zweck seiner Darstellung eine neue Me­thode des Denkens erschuf. Und dies Bekenntnis war es, das er im schlichten Alltag des Lebens bewähren wollte. Er strebte aus dem Buch, das mit einer ungeheuren Vision, dem erschauten Antlitz Gottes endet, diesem genau gezeichneten Antlitz, auf dessen Anblick für den Menschen der Tod steht, wieder in ein Leben des Alltags zurück. Rosenzweig wollte kein Buch mehr schreiben. Er wollte statt dessen die Bewährung seiner Schau im schlichten All­tag des Lebens leisten. Wie konnte aber die Bewährung eines so übermäßigen im Alltag des Lebens wirklich aussehen?

Rosenzweig ist die schwere Begnadung geworden, die Bewährung seiner übermäßigen Wahrheit im Alltag des Lebens wirklich zu leisten. Es ist ein mit Worten kaum mehr zu berührendes Gesche­hen, wie er von dem Augenblick an, in dem er sein Buch abge­schlossen hatte, Schritt für Schritt in das ihm Verhängte hinein­glitt: wie eine stetig fortschreitende Lähmung sich Glied um Glied seines Körpers bemächtigte und, indem sie ihm zuletzt auch noch das Herzstück seines Lebens, die Sprache, raubte, auch seinen Geist und seine Seele mit Vernichtung bedrohte. Aber dieser Vernich­tung hat er sich mit eigener Kraft entrissen. Zwei Jahre hatten ihm die Ärzte zu Beginn seiner Krankheit noch gegeben; es wur­den daraus durch die Weise, wie er sie trug, durch sein Vertrauen und seinen Glauben, durch seinen Geist, seinen eisernen Willen und auch durch die ihn tragende Liebe, nahezu acht.

Fast acht Jahre hat dieser helle, geistesmächtige Denker, dieser durch und durch männliche Mann, dieser streitbare, von Humor blitzende, dem Leben und der Gemeinschaft inbrünstig aufgetane Liebhaber der Sprache und des Gesprächs, an seinen Stuhl gefes­selt als reglose, stumme, vom Tod gezeichnete Leidensgestalt, ver­bracht – mit der Welt verbunden allein noch durch die kaum be­greifliche Leistung seiner Frau, ohne die kein Wort von ihm mehr zu den Menschen hätte dringen können.

Und in all diesen Jahren, eingeschlossen in das einsame Gefäng­nis seines Leibes, in jedem Augenblick Auge in Auge mit dem Tod, hat er ein Leben reichster menschlicher Fülle gelebt, wie es wenigen Sterblichen überhaupt beschieden ist: ein Leben voll Arbeit, voll Gemeinschaft, voll äußeren Wirkens, voll inneren Glanzes, voll Liebe, voll Festlichkeit, voll Gebet. Der Tod und die Nähe des Todes waren ihm immer gegenwärtig. Sie gaben seinem Leben die Richtung, aber selbst aus ihr schöpfte er keine negative, sondern die letzte ihn tragende Gewißheit: „Daß jeder Augen­blick der letzte sein kann, macht ihn ewig.”

Von dem, was man gewöhnlich unter einem Heiligen versteht, finden wir in dem Bild, das seine Briefe, seine Worte und Werke uns geben, kaum einen Zug. An die Stelle des Heiligen tritt in ihnen der große Lehrer und Erzieher. Wohl aber ist er in seiner Spätzeit das geworden, was er selbst einmal als Definition des Heiligen ausgesprochen hat: „Ein Mensch des äußersten Kreises, der nicht aus Wahl, sondern aus Schicksal berufen wird, ein Mensch, dem jeder glauben muß, weil keiner mehr etwas mit ihm gemein hat.”

Und wie sein Leben war auch sein Sterben. Die Treue seiner Freunde hat ihn bis in den Tod hinein und weit über den Tod hinaus begleitet. Im Jahr 1929 ist er bei vollem Bewußtsein ge­storben.

Bei der Beerdigung von Rosenzweig habe ich dann einen Men­schen kennengelernt, dessen Bild mir in vielfacher Weise, zuletzt auch als verklärtes, im Gedächtnis geblieben ist: Leo Baeck. Ich hatte kurz vorher über sein Buch „Das Wesen des Judentums” geschrieben und von ihm eine wundervolle Antwort erhalten. Ich sehe noch dies mir neue Antlitz mit den großen traurigen dunklen Augen. Auf diesem leidvollen Gesicht schien mir sein eigenes späteres Wort geschrieben: „Wundersames erzählt ihm das All, und wie ein Wunder ist dieses sein Forschen und Sinnen. Aber die Antwort auf sein Leben hört er hier nicht, und niemals ist er hier gefragt.” Dies erschien mir die geheimnisvolle Trauer, die seinem Antlitz aufgeschrieben war.

Erst nach vielen Jahren habe ich dann Leo Baeck hier in Zürich wiedergesehen: auch ihn nun als einen völlig Verwandelten. Seine Augen hatten ihren tieftraurigen Ausdruck verloren. Auf seinem Gesicht erschien immer wieder ein leises Lächeln, das ich anfangs kaum zu deuten wußte. Aber ich weiß nun, es war das Lächeln eines Menschen, der nicht weniger als Rosenzweig, wenn auch in ganz anderer Weise, die Bewährung seiner Wahrheit in der vollen Wirklichkeit geleistet hatte, als er, der durch das Geheimnis sei­nes wunderbaren Wesens im nationalsozialistischen Deutschland eine Sonderstellung einnahm, trotzdem mit seiner todbedrohten Gemeinde – als ihr Haupt – nach Theresienstadt zog.

Von Leo Baecks Werk und Leben an dieser Stelle zu sprechen ist fast unmöglich, weil dieser Name unsere Gemeinschaft begründet und weil sein Wesen und sein Wille sie von Anfang an bestimmt. Es war ein wunderbares Erlebnis, öfter mit ihm zusammen zu sein, und auch von seinem Leben und Denken viel Wesentliches zu vernehmen. Das ganze religiöse Wesen von Leo Baeck scheint mir in dem Kol-Nidre-Gebet ausgesprochen, das das Year Book I des Leo Baeck Institut, 1956, von ihm abgedruckt hat.

Neben dieser Gestalt steht nur noch Hermann Cohen, den ich aber durch ein Verhängnis niemals kennengelernt habe, ja, der mir – so sehr ich seine Schriften liebte – schmerzlich im Gedächt­nis geblieben ist, dessen Tod mich tief erschütterte, da er, durch ein seltsames Mißverständnis bewogen, mich einmal als seine „Feindin” bezeichnet hatte. Es geschah das durch einen Aufsatz, in dem ich Bubers frühen Zionismus gegen Cohens Antizionismus verteidigte.

Eine Begegnung ganz anderer Art hatte ich in der heimatlosen Zeit in Frankfurt, in den Jahren, die auf die Inflation folgten, wo ich nicht gesund und ohne Wohnung war und in das große Sanatorium im Taunus am Waldrand gebracht wurde. Dort hatte ich einen unendlich gütigen Arzt, Dr. Bernhard Spinak, der bis heute mein Freund geblieben ist. Er war eine seltene Erscheinung unter den Menschen. Man sagte von ihm, wenn es ein Gewitter gebe, so sei er in allen Zimmern zugleich. Und mir war es schon vorher aufgefallen, daß überall in Haus und Garten sein weißer Arztmantel erschien; ich nannte ihn damals „die Goldmarie”, weil er, wie die eine Schwester in dem Märchen von Frau Holle, immer das ihn Rufende, das für ihn Bereite erkannte und ihm sogleich zu Hilfe kam. Als er mich dann später, zu Beginn der Hitlerzeit, in Zürich besuchte und ich ihn fragte, was geschehen würde, wenn ihm sein Wirkungsfeld genommen würde, sagte er: „Für mich gibt es immer Arbeit, wenn keine andere, werde ich Schuhe putzen.”

Natürlich wurde ihm sein Sanatorium fortgenommen. Er ging zuerst in seine Heimat Warschau, wo er sich bis zum Jahre 1940 aufhielt – bettelarm. Da wurde er eines Tages von einem Freund angesprochen: er müsse sofort, ohne jeden Verzug in ein fremdes Land abreisen, da sein Leben von den Deutschen bedroht sei. Er reiste mit sieben Zloty in der Tasche sofort nach Italien ab, und zwar zunächst nach Triest. Dort sah er am Meer Fischer, die die gefischten Fische sorgfältig in Eimer ordneten, und fragte sie, ob sie ihn nicht als Helfer brauchen könnten. So verdiente er sich zunächst so viel, daß er in einem bescheidenen Hotel übernachten konnte. Sobald er sich das Geld für die Reise verschafft hatte, fuhr er hinüber nach Tanger, wo er sofort wieder eine Arbeit fand und zugleich in einer herrlichen Landschaft lebte. Denn auch die Schönheit gehört zu seinem Leben; er hätte in häßlicher Umge­bung nicht leben können.

Von Tanger übersiedelte er nach Los Angeles. Da er sich die Mühe des Staatsexamens nicht zum zweitenmal machen wollte, ergriff er den Beruf eines Pflegers, für den aber dann seine Körperkraft nicht ausreichte. Er muß ein Pfleger ganz besonderer Art gewe­sen sein, denn während er die schwere körperliche Hilfe leistete, hat er zugleich jedem, der sich dem Tode näherte, gleichsam die Pforte zu einem eigenen, ganz persönlichen Tod aufgetan, indem er ihm sorgsam den Weg zeigte, auf dem jeder am ehesten dies Allerletzte leisten konnte.

Die letzten zwei Jahre vor Franz Werfels Tod ist er ganz in des­sen Haus gewesen und hat nicht nur die kluge und bizarre Alma Mahler-Werfel, die wohl fast jeder Mann begreifen kann, sondern auch den Dichter selbst zutiefst verstanden. Dafür ist mir der Beweis geworden, als er mir Werfels späte Gedichte in einer Weise vorgelesen hat, die ebensosehr von jeder Deklamation wie von unzureichender Wiedergabe entfernt war: schlicht und mit vollem Verständnis, wie ich nur selten Gedichte vorlesen hörte.

Jetzt hat er längst den Beruf des Pflegers aufgegeben, und mit dem wiedererlangten Geld genießt er in vollen Zügen das Leben, kommt jedes Jahr einmal nach Zürich, ruht sich in einem Sana­torium aus, hört die schönsten Konzerte, sucht seine Freunde und Freundinnen auf, und ich hörte sogar, daß er trotz seines hohen Alters noch tanzt.

Aber dieser seltsame Mensch hat mir einmal in einer Fiebernacht, als er allein zu Hause war, einen der schönsten Briefe geschrieben, die ich in meinem Leben bekommen habe. Eine rote Blumen blühte darin – unvergänglich wie ein Zeichen–, und er ist mir durch all die wechselnden Jahre hindurch ein treuer Freund ge­blieben.

Aber ich möchte auch noch von einer anderen mir teuren Bekannt­schaft sprechen, die ich damals in Frankfurt machte: Berta Pap­penheim. Sie war streng, aber niemals ohne Verständnis, und hat eine Generation von Frauen erzogen. Nie habe ich so wunderbar wegweisende, erzieherische Briefe gelesen wie die von Berta Pap­penheim an ihre sehr ungleichen Schülerinnen. Sie war trotz ihrer großen Strenge zugleich eines tiefen Miterlebens fähig. Und diese so fromme wie strenge Erzieherin, die sich überall einsetzte, überall ordnete und half, hatte zugleich ein reiches Verständnis für die Schönheit. Sie hatte nicht nur eine kostbare Spitzensammlung, sie fertigte aus Glasperlen jeder Art und Größe die wunderbarsten Ketten an, kleine und große in allen Farben und Figuren – eine Sammlung, die nach ihrem Tode vom Frankfurter Städelmuseum übernommen wurde. Ich hatte eine Zeitlang das Glück, ihr Unter­richt in der Philosophie der Vorsokratiker zu geben und zu er­leben, in welcher Tiefe sie dieses ihr neue Denken aufnahm. Es war das Gesetzhafte in diesem Denken, das ihr bis in den Tod hinein folgte. Eine Anzahl ihrer tiefgründigen Gebete ist uns in Abschrift erhalten geblieben. Auch aus ihnen spricht ihre starke und fromme Persönlichkeit.

Zu ihr gehörte auch noch eine andere Gestalt, die tief mit ihr verbunden war: Hannah Karminski, die eine echte Märtyrerin wurde. Ihre Treue und Hingabe hat Berta Pappenheim bis in den Tod hinein begleitet: sie ist mit der Hand Hannah Karminskis in der ihren gestorben. Und als Hannah Karminski dann durch ihre in der Schweiz lebende Schwester nicht nur die Möglichkeit, son­dern fast die Aufgabe hatte, in die Schweiz zu kommen, hat sie diese rettende Möglichkeit nicht ergriffen, sondern ist als Vor­sitzende des Jüdischen Frauenbundes ihren in Deutschland leben­den Freundinnen treu geblieben und mit ihnen in den Tod ge­gangen.

Noch andere wesentliche Freunde habe ich in Frankfurt gewon­nen. Ich habe zwar von mir aus nie einen bedeutenden Menschen aufgesucht. Die einzige Ausnahme war Victor von Weizsäcker, für den ich schon, ehe ich ihn kannte, eine große Bewunderung empfand, nachdem ich einen Aufsatz über den Schmerz von ihm gelesen hatte, der mich damals in allen Tiefen erschütterte. Ich brachte ihm meinen eben erwachsenen Sohn nach einer schweren Krankheit zur Behandlung. Eine einzige Untersuchung genügte, um ihn und mich zu beruhigen. Victor von Weizsäcker wurde mir dann zu einem Freund, der mir Jahre hindurch erhalten blieb. Er war es auch, der mich in die Welt von Freud eingeführt hat, mit der seine eigene Welt verbunden war. Das war eine große Wende in meinem Leben. Ich lernte wieder ein neues Denken kennen, das meine Vorstellungen von Seele und Welt mit einem jähen Ruck verwandelte. Freud nicht früher gekannt zu haben, erschien mir nun als ein Verhängnis; wie anders hätte ich meinen Mann, so, wie er später durch das dunkle Schicksal wurde, ver­standen, wie anders meinem Sohn durch seine Pubertätsjahre hin­durchhelfen können. Denn Freuds Lehre brachte mir das, was keine frühere getan hatte: ein ganz reales Verhältnis zum Leben.

Nach der Begegnung mit Weizsäcker habe ich mich ganz in Freud und seine Lehre vertieft, und Unendliches ist mir dabei aufgegangen. Wie vor jeder ernsten Begegnung oder Umwälzung mei­nes Lebens, hatte mich auch vor Freud eine Furcht zurückgehal­ten, die Weizsäcker vor allem durch seine Deutung gelöst hat. Und nun nach so vielen Erfahrungen und Erlebnissen stürzte ich mich geradezu auf dieses Neue. Die idealistische Wahrheit ver­sank vor einem völlig anderen Wissen, das mir alles, was ich bis­her vom Leben gedacht hatte, als eine Art Gnosis enthüllte, Gno­sis als jene leidenschaftliche Trennung von Körper und Seele, jene Verwerfung des Körperlichen, die so lange mein Leben beherrscht hatte.

Die Unbedingtheit rein idealistischen Denkens hatten auch Groet­huysen, Landauer und selbst Ernst Bloch nicht so völlig in meinem Leben gebrochen, wie es mir nun durch Freud geschah. Die drei Freunde hatten doch in meiner Haltung noch ein mir Persönliches gesehen und bis zu einem gewissen Grade auch geehrt. Freud brach mit seiner klaren, unpersönlichen Sprache wie eine ganz fremde Offenbarung in mein Leben ein. Es war vor allem das großartig Gesetzhafte in dem, was er sie „Traumarbeit” nennt, das mich in seiner Lebensdeutung überwältigte. Und wie ich mich einst vor einem Bild aus Bergsons Spätzeit gefragt hatte: Wohin, in welche Tiefen blicken diese Augen?, so fragte ich mich jetzt beim Anblick des Gesichts von Freud: Welche ungeheuren Ein­sichten ziehen diese Brauen so zusammen?, so, wie ich es dann immer wieder, nur nicht mit derselben Intensität, im Gesicht be­deutender Analytiker wiederfand. Ich glaube, kein moderner Mensch – vielleicht allein Nietzsche ausgenommen, bei dem das aber auf anderem Gebiet geschah – hat eine so gewaltige Wirkung gehabt und ist zugleich so viel und so unerhört mißverstanden worden wie Freud. Oft habe ich gedacht, seine Lehre hätte eine Geheimlehre für wenige Eingeweihte, für Ärzte, Philosophen und Geistliche bleiben müssen, um nicht durch Mißverständnisse Ver­wirrung unter den Menschen zu stiften.

Es war vor allem das, was man heute Pansexualismus nennt und was in wahrhaft schnöder Weise an seiner Lehre mißverstanden wurde. Es war doch nichts anderes als die redliche Aufdeckung der Tatsache, daß unser Menschendasein die beiden schwer ver­söhnbaren Wirklichkeiten von Individuum und Gattung um­schließt. Er selbst sagt, daß er mit seiner Lehre am Schlaf der Welt gerüttelt habe.

Die großartige Klarheit und Schlichtheit der Sprache Freuds, die Wehmut, ja, Schwermut des Lebensgrundes, den er schonungslos – schonungslos vor allem gegen sich selbst – enthüllte, die ganz neue Wahrhaftigkeit, die durch ihn heraufgekommen ist, dies alles kam meinem innersten, oft noch verwirrten Suchen entgegen. Gemessen an den Werken von Rosenzweig und Rosenstock, eben­so wie an denen von Bloch, ist Freud eine zunächst scheinbar ins Irreligiöse abstürzende Erscheinung. Aber es unterlag bald für mich doch keinem Zweifel, daß auch hier – in seinem Verhältnis zu Leben und Tod – ein tiefreligiöser Geist am Werke war, dem freilich der ewige Name, den jene wiedergefunden hatten, durch seine naturwissenschaftlichen Anfänge sich verbarg.

Der große Europäer Freud hat allen Mächten zwischen Leben und Tod, durch die er den Weg und das Schicksal der Seele deutet, griechische mythische Namen gegeben: Eros, Logos, Ananke sind die Unsterblichen, die seinen Geist durch das Gewühl der Sterb­lichen leiten. Er glaubte, von diesen Gottheiten aus den gestalt­losen Gott, den Einen Gott, als Wirklichkeit aufgelöst zu haben. Aber seine letzte Lebens- und Todeswahrheit trägt keinen grie­chischen Namen und keine griechischen Züge mehr. Sie trägt als der Ruf des Über-Ich zu einer Vollendung, die wir als Lebende nie erreichen können, das Antlitz jenes letzten Richters, auf des­sen Anblick für uns der Tod steht.

Nicht als metaphysische Schau ewiger Wahrheit wie bei Rosen­zweig und nicht aus dem Glauben wie bei Rosenstock, sondern aus der erfahrenen Wirklichkeit der Seele, dem dunklen Weg vom Ich zum Ich, taucht dieses letzte äußerste Symbol als Anruf an unser tiefverstörtes Leben herauf. Und der erschütternde Satz: „Leben ist Geliebt-Sein-Wollen, Geliebt-Sein-Wollen vom Über­-Ich”, stellt ihn, den in seinen eigenen Augen nicht mehr Gläubigen derart in die Wahrheit des Alten Testamentes hinein, daß ich trotz allem fühlte: hier ist eine Wahrheit, die bei all ihrer Zerstörungs­kraft doch auch ein Stück Heimat für mich ist.

Und es ist in diesem Zusammenhang kein Zufall, daß das letzte Geheimnis für Freud selbst der Tod, das Anwachsen des Todes­triebes war: daß das, was sich allem Lebendigen widersetzt, daß der verborgene Widerstand in allem Leben von der bescheidenen Fehlleistung an bis zur furchtbaren Zwangsneurose der Tod ist. In unserer Welt sah er das Anwachsen des Todestriebes schon vor dem Ausbruch des ersten Weltkrieges, lange noch vor der Spren­gung des Atoms voraus.

Wir leben ja überhaupt in einer Welt der Sprengung, die auf alle Lebensbezirke übergegriffen hat. Die Erfindungen des Menschen­geistes, die Zertrümmerung des Atoms haben uns in einer ganz anderen Weise, nicht von innen, sondern von außen vor dieselbe Entscheidung gestellt. Aber noch vor dieser Entdeckung, die nun wirklich das Menschengeschlecht mit Vernichtung bedroht, voll­zog sich in Deutschland eine Entwicklung, die die Menschheit mit etwas nicht minder Furchtbarem bedrohte. Es war eine Erschei­nung des Ur-Bösen, wie es wohl in der ganzen Menschengeschichte in dieser Form nie dagewesen ist.

 

 

1933

 

 

Deutschland, das mir so lieb, so vertraut gewesen war, nahm ein anderes Antlitz an. Die Arbeitslosigkeit, die Inflation und alles, was damit zusammenhing, das ganze deutsche Nachkriegsschick­sal mit allem Entsetzen, das es mit sich führte, war der noch vor­läufige, aber vielfache Grund, an dem das gespenstische Wesen Hitlers ansetzte. Er versprach den Enterbten und Beraubten die unendliche Macht, falls sie ihm folgten, und die große Mehrzahl der Menschen fiel in ihrem verzweifelten Zustand auf dieses leere Versprechen herein, zumal er alle Existenzen in einer bösartigen und doch fast genialen Art durch Bedrohung ihnen verwandter und befreundeter Menschen miteinander zu verknüpfen und sie zu unterwerfen verstand.

Ohne diese materielle Vorbereitung, ohne Krieg und Inflation, die Tun und Denken der Menschen verzerrten, wäre die Verwirk­lichung dieses Schreckbildes in dem vorher geistig so hochstehen­den Deutschland nie und nimmer möglich gewesen.

Wer hätte den Umschwung je für möglich gehalten? So tief er geschichtlich begründet ist, so wenig haben wir lange die Zeichen der Zeit verstanden. Es war ja auch für uns alle, besonders für uns Juden schwer. Wir waren leidenschaftliche Deutsche und hatten uns in Deutschland durch alle Schrecken der Zeit hindurch mit solchem Vertrauen eingelebt, daß wir nun, wo uns das Schreck­lichste aus unserem eigenen Land erreichte, dem Mann aus dem chinesischen Märchen glichen, der in dem vertrauten Nachbarn, den er zum Schutz gegen ein furchtbares Ungeheuer hinter sich aufs Pferd genommen hat, plötzlich sich umwendend dies Unge­heuer selbst erblickt und ohnmächtig vom Pferde sinkt.

Hitler – wer war er? Winston Churchill hat schon vor dem Auf­stieg dieses Unbegreiflichen das Wort niedergeschrieben: „Wer Hitler war, werden wir erst in hundert Jahren wissen.” Aber ich glaube, daß diese Erscheinung in ihrer eigensten Wirklichkeit nie begriffen werden wird. Er stieg auf, übte eine unbegreifliche, menschlich nicht zu verstehende, das ganze Deutschland verwan­delnde Herrschaft aus und zerstob wie ein wirrer Traum, eigent­lich ohne wirklich zu sterben.

Ich hatte Hitlers Gesicht, lange bevor er zur Macht gelangte, auf unzähligen Bildern gesehen. Es erschien mir immer als undenk­bar, daß ein so alltäglicher, gewöhnlicher Typ je von den Deut­schen zum Führer gewählt werden könnte. Aber da, eines Tages geschah mir das Furchtbare: ich sah auf einem Untergrundbahn­hof in Berlin auf einem großen Plakat, nah vor mir, Hitlers Ge­sicht. Es war so banal, wie ich es immer gesehen hatte, aber seine Augen, die mir gerade ins Antlitz blickten, sahen völlig anders aus. Sie schienen direkt ins Licht zu starren. Die winzigen Pupil­len waren von einer riesigen, hellen Iris umgeben. Und wie ich in diese Augen blickte, erkannte ich mit unmittelbarer Gewißheit, daß, wenn sie je die Macht über Deutschland gewinnen würden, Deutschland für lange, vielleicht für immer verloren sein würde, denn die Rundungen, welche die Pupillen umgaben, waren ein einziger großer Abgrund, und zwar nicht ein dunkler, sondern ein heller Abgrund, im wahrsten Sinne der Abgrund des Nichts. Und ich fühlte sogar die entsetzliche Anziehungskraft, die dieses helle Nichts auf die verlorenen Menschen haben konnte – das Nichts, das ja damals auch vom Denken her lange schon die Welt bedrohte.

Und wie soll ich nun von dem Schicksal reden, das aus dem hellen Abgrund dieser Augen schwer und düster über uns heraufkam und das kein Mensch ermessen kann, der es nicht in irgendeiner Form erfahren hat?

Der Dichter Paul Celan hat in seinem Gedicht „Todesfuge” das einfache und entsetzliche Wort ausgesprochen: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.” Er hat damit eine Wahrheit gesagt, die – einzig Heinrich Heine ausgenommen – dem vergangenen Jahrhundert unverständlich gewesen wäre, aber heute jedem, der in Deutschland aufgewachsen ist und dort das Beste und auch das Schwerste seines Lebens empfangen hat, gültig erscheinen muß. Und doch: Man muß die ganze deutsche Geschichte bis in die Vorzeit hinein verfolgen, muß die Züge des deutschen Charakters auch noch in den Göttergestalten der Edda, des Nibelungenliedes und der „Hermannsschlacht” von Kleist wiederzuerkennen ver­suchen, muß sich vor Augen stellen, was in den beiden Welt­kriegen geschah und was ihnen folgte, um die Möglichkeit der gespenstischen Hitlerherrschaft und jenes Wort von Paul Celan auch nur etwas zu verstehen. Dieser Höllensturz ist nicht be­schreibbar; niemand hat ihn voll erfaßt. Aber ein späteres Bild von Hitler, unmittelbar bevor er die Regierung antrat, hat mir eine Art deutender Voraussicht gegeben. In einem der damals zahlreichen leeren Schaufenster in Berlin war ein großes Bild von Hitler ausgestellt. Sein Ausdruck war der einer tödlichen Angst, der, nur konzentrierter, der des ganzen damaligen Deutschland, vor allem auch seiner Denker war. Nach diesem Bild glaubte ich wieder, daß, wenn er durch eine ungeheure Verwirrung dennoch zur Macht käme, diese Herrschaft nicht dauern könne und daß er selbst vor ihren Folgen erzittere. Ich ahnte noch nichts von den zahlreichen Mitteln und den zahlreichen Mitverantwortlichen, die diese Herrschaft stützen würden. Der chiliastische Gedanke des Dritten Reiches gehörte damals noch nicht zu seinen begründen­den Fundamenten.

Daß es zwei Deutschland gibt, ist eine alte Erfahrung, die aber in jenen Jahren in einem nicht mehr faßbaren Ausmaß bestätigt wurde. Das mangelnde Verständnis des Bösen hatte ich vor allem dem verinnerlichten deutschen Idealismus meiner deutschen Hei­mat zu verdanken. Die ersten Monate der Hitlerregierung war ich noch in Frankfurt und habe die wildfestliche Stimmung erlebt, die riesigen Feste, in denen in der damaligen Hauptstraße alle Häuser mit jungen, aus dem Taunus geholten hellgrünen Birken besteckt waren, über denen die hysterische rote Hakenkreuzfahne wehte, die Camions voll fröhlich blickender junger Menschen ge­sehen, Göring in seinem weit geöffneten Mantel, unter dem eine märchenhafte Uniform sichtbar wurde, und vor seinem Wagen in einem Wirbel tanzende Frauen – alles nur halbecht und in diesem Anfang vielleicht noch nicht ganz klar zu durchschauen. Der volle Ernst begann erst mit dem Reichstagsbrand und dem Boykott jüdischer Geschäfte deutlicher zu werden. Es war noch nicht der ganze Abgrund, noch lange nicht – und auch die Synagogen­brände sahen viele Deutsche nicht.

Aber noch vorher war mir persönlich etwas widerfahren, was auf­zeigte, welche Verwirrung dieses Geschehen damals in den Seelen der ernsteren Menschen auslöste. Kurz nach Hitlers Regierungs­antritt war eine Sitzung der Philosophischen Gesellschaft, bei der sich – nachdem ich ein Wort in die Diskussion geworfen hatte ­ein junger, sehr sympathischer Pfarrer zu mir setzte, der mir die bittere Not in seiner Tätigkeit als Erzieher klagte. Er erzählte, ein vierzehnjähriges Mädchen in seiner Klasse habe ein Kind erwartet, und die anderen Kinder haben darüber nur gelacht. Schließlich fragte er, ob er mich in den nächsten Tagen besuchen dürfe. Einige Tage später erfuhr ich zu meinem Entsetzen, daß dieser junge Geist­liche auf einem mit Ochsen bespannten Wagen zum Römer ge­fahren sei und, im Wagen stehend, mit eigener Hand die „ent­arteten Bücher” ins Feuer geworfen habe. Ich erklärte mir das sogleich daraus, daß er in allen diesen Büchern den Ursprung seiner schweren Verantwortung, in die er durch die Erziehungs­arbeit geraten war, zu finden glaubte.

Das ganze „Land ohne Hoffnung” löste sich in eine Verwesung der Begriffe und Wahrheiten auf. Ich möchte keine Namen nen­nen, weil auch die Größten darunter waren, die ihre jüdischen Lehrer und Gefährten verrieten. Die Verwesung der Wahrheit hatte weithin auch die „Wahrheitssucher” ergriffen. Noch heute wäre aber die Macht dieses keineswegs mächtigen Menschen un­verständlich, wenn nicht inzwischen klargeworden wäre, daß die Macht und das Geld der Groß- und Schwerindustrie hinter die­sem erbärmlichen Kleinbürger stand. Und doch war sicher gerade dieser Mensch in all seiner Ohnmacht und Skrupellosigkeit allein fähig, all das Entsetzliche zu verwirklichen.

Es stellt sich nun heute, wo das Ganze schon lange zurückliegt, für uns alle die bange Frage, ob nach diesem furchtbaren Gesche­hen ein neues deutsches Judentum wieder erstehen kann? Mir scheint es unmöglich. Ich glaube, daß der Schlag zu hart war, die Aussaat zu furchtbar und folgenschwer. Gewiß gibt es wieder Juden in Deutschland, aber es gibt kein deutsches Judentum mehr, wie auch nach der weit weniger schrecklichen spanischen Verfol­gung nie mehr ein spanisches Judentum entstanden ist. Und es ist nicht nur das Judentum, sondern auch Deutschland selbst inner­lich zu zerrüttet und zu verbittert für einen solchen Neubeginn. Was geschehen ist, hat ja nicht nur die Juden, sondern auch Deutschland selbst zerstört. Blickt man tiefer, stellt man die Frage im letzten Ernst, so ist Deutschland durch diese Herrschaft des Wahnsinns und Verbrechens kaum weniger tief als die Juden be­troffen.

Es gibt solche, die sich bemühen, etwas davon wiedergutzumachen. Was heißt das aber? Die sogenannte „Wiedergutmachung” ist ein anständiges Unternehmen, das aber mit dem, was wirklich geschehen war, nicht in einem Atem zu nennen ist. Ich habe aber auch vor meinem Abschied von Deutschland noch einiges wirklich Schöne erlebt.

Der letzte geistige Mensch, den ich dort sah und sogar um meiner Simmel-Arbeit willen von mir aus aufsuchte, war Ernst Robert Curtius, der Schwager Victor von Weizsäckers, der mich in wahr­haft rührender Weise aufnahm und beriet.

Der letzte einfache Mensch, den ich in Deutschland sah, war der Taxichauffeur, der mich mit meinem Sohn den weiten Weg von der Römerstadt zum Bahnhof fuhr. Beim Abschied lehnte er das Trinkgeld ab und sagte zu mir: „Ich habe auch einen einzigen, sehr lieben Sohn, der sehr an seinem Vater hängt. Und wenn das nicht wäre, so würde ich nicht mehr leben, denn in diesem Land kann man nicht mehr leben.”

Ich hatte mich unmittelbar vor der Machtergreifung Hitlers auch vielfach mit der Situation und dem Schicksal der Frauen zu be­fassen, mit Problemen, die gerade in diesen Jahren eine neuartige Wendung und grundsätzliche Erörterung erfuhren. Die Frauen­bewegung, die schon lange vor dem ersten Weltkrieg eine große, in England sogar heroische Rolle gespielt hatte, nahm nun nach dem ersten Weltkrieg ganz andere, von der Wirksamkeit der Frauen wie von der großen Not bestimmte Formen an. Die sich ständig verstärkende Selbständigkeit der Frau auf fast allen Ge­bieten kam einer gesellschaftlichen Revolution gleich.

Ein Aufsatz, den ich damals für die „Neue Rundschau” unmittel­bar vor dem Aufstieg Hitlers wirklich unter Qualen schrieb, weil ich fühlte, wie schon alles sich veränderte, wie diese schmerzliche Revolution in eine gänzlich andere einmündete, gibt etwas von dem damaligen Dasein der Frauen wieder. Es zeigte sich nach all dem Zerfall: der Mann hatte der Frau, als sie tätig und doch auch traumhaft in die Welt des Mannes eintrat, gar keine Welt mehr anzubieten, ja, er war unfähig geworden, die so viel reicheren menschlichen Gaben der Frau auch nur anzunehmen.

Als ich im Sommer 1933 meine eigentliche Heimat verließ, tat ich es vor allem als Deutsche, die dieses neue Deutschland nicht ertragen konnte. Das jüdische Schicksal war zu jener Zeit noch nicht in seiner ganzen Furchtbarkeit zu sehen. Damals zerbrach in der Mitte vor allem auch meine große Arbeit über Simmel, die mir nicht lange vorher von offizieller Seite aufgetragen und die mit dem Auseinanderbrechen Deutschlands und meines eigenen Lebens mit einem Schlage sinnlos geworden war. Denn ich konnte keine Zukunft ahnen, die diese Gestalt wieder aufnehmen würde.

Ich ging, ein Bild der Heimatlosigkeit, zuerst in die Schweiz, dann nach England und von dort nach Holland, wo ich erstaunlicher­weise von einem vornehmen Delfter Studentenkorps zu einem Vor­trag über den jüdischen Geist aufgefordert worden war. Das war trotz allem ein köstliches Erlebnis, weil diese jungen Studenten eine mir bisher unbekannte wunderbare Vorurteilslosigkeit mit­brachten. Ich kannte keinen unter ihnen, und doch riß das Ge­spräch vor und nach dem Vortrag nicht einen Augenblick ab. Sie luden mich in ihre großartige Bibliothek, in der kaum ein altes oder neues Buch fehlte, zu einem Abendessen ein – was alles damals sicher in keinem anderen Land Europas möglich gewesen wäre.

In Holland hörte ich auch, während Hitler in Deutschland raste, in dem völlig überfüllten Konzertgebouw den fünfzehnjährigen Yehudi Menuhin geigen, der mir wie ein vom Himmel gefallener Engel erschien und mit stürmischem Jubel gefeiert wurde. Die Reise von England nach Holland ging über Luxemburg, wo ich in einem wunderbaren Schloß mit einem Park voll herrlicher Bäume bei einer gütigen Mäzenin zusammen mit Groethuysen eingeladen war. Es waren unvergeßliche Tage, aber der Abschied wurde mir schwer.

Meine Zeit war abgelaufen, Groethuysen kehrte noch einmal in das Schloß zurück. Es war ein trauriger Abschied, ein betonter Abschied für immer. Groethuysen wurde vom Chauffeur abge­holt, er fuhr im Auto des Schlosses an mir vorüber, während ich mit meiner Reisetasche allein auf der leeren Landstraße zurück­blieb. Ich glaube, ich wußte nicht einmal den Weg zum Bahnhof und auch nicht, wann mein Zug abfahren würde. Es war die voll­kommene Heimatlosigkeit.

Groethuysen ist dann im Jahr 1946 einen schweren Tod gestor­ben. Wer ihn in seinem Eigensten kennenlernen will, muß –  natürlich neben seinen eigenen Büchern – das Vorwort zu seinem kleinen Buch „Mythes et Portraits” von seinem Freund Paulham lesen. Ich selbst schrieb zunächst einen bescheidenen Aufsatz in der „Weltwoche” über ihn. Am Tag seines Erscheinens bekam ich den Anruf einer seltenen Frau, der Ärztin Frau Dr. von Semenoff. Sie stand in einer nahen Beziehung zur Familie Groethuysen und hat an ihm, vor allem an seinen mündlichen Worten so gehangen, daß sie keines vergessen und jedem recht gegeben hat. Sie ist mir zu einer einzigartigen Freundin geworden. Wir hatten oft abends lange Gespräche, deren Inhalt ein Dreifaches war: Groethuysen, die Liebe und der Tod. Immer ist unser Gespräch lebendig, weil es immer um die letzten Fragen geht.

 

 

EMIGRATION IN DIE HEIMAT

 

 

Aus Holland kehrte ich in der Silvesternacht 1933/34 als einziger Passagier des Zuges in die Schweiz zurück. Ich kam aus dem tief­dunklen Amsterdam in das silbern und blau strahlende Zürich.

Wenn jemals noch das schwarze Tuch von meinem Leben sich ge­hoben hat, so war es in jener ersten Zeit in Zürich. Ich ging durch die Straßen wie im Traum, und es war wirklich ein Gefühl von Freude, das trotz allen Schreckens in mir auflebte, und nur eines entsetzte mich immer wieder: wenn in dem Land des mir von Kind auf vertrauten Schweizer Dialekts plötzlich Klänge der an­deren Sprache auftauchten, die meine eigentliche Heimatsprache war. Man kann sich dies Entsetzen kaum denken: die Sprache, die ich selber sprach, war mir zu einem Schrecknis geworden. Das Schweizerdeutsch, in das ich mich flüchten konnte, war mir gewiß ein Stück alter Heimat, aber ich sehnte mich noch im Widerstre­ben nach dem wahren Deutsch, in dem ich alle Werte des Lebens empfangen hatte. Seltsam: auch das begann sich zu spalten, sehr bald lernte ich das Deutsch der Nationalsozialisten von dem mir vertrauten Deutsch unterscheiden – ich fühle auch heute noch immer wieder, daß die Kluft zwischen dem warmen, kulturgepräg­ten Deutsch und dem kalten sterilen Deutsch der Nationalsozia­listen noch nicht ganz geschlossen ist.

Aber trotz des Zerrissenseins meiner Arbeit und in dem Gedan­ken, nicht wieder anfangen zu können, fühlte ich mich doch halb­wegs geborgen, weil es eben die Stadt Zürich war, der See, die Altstadt, der Zürichberg, und weil ich das seltene Glück hatte, in einem Hause ohne jeden Antisemitismus und bei mir lieben und auch mir gutgesinnten Menschen eine kleine Dachwohnung zu finden, in der ich heute, nach achtundzwanzig Jahren, noch wohne.

Im übrigen war aber auch in der Schweiz noch etwas anderes, was mich erschreckte: Ich weiß noch, wie ich bereits im Zug von Basel die erste Schweizer Zeitung las, auf die ich große Hoffnung ge­setzt hatte und die nun von dem ganzen Geschehen in Deutsch­land nichts wußte oder wissen wollte. Und das begegnete mir überall. Kein Mensch, weder Juden noch Christen, wußte von dem, was in Deutschland geschah. Auch ich selber wußte nur wenig von dem ganzen Entsetzen, das nun erst im Anfang war. Es war damals noch möglich, daß meine Schwester mich jedes Jahr für einige Zeit besuchte; Gertrud Kantorowicz sah ich noch ein einziges Mal, als sie einige Wochen bei mir wohnte.

1935 kamen dann die Nürnberger Gesetze, die vieles, wenn auch lange nicht alles, was vor uns lag, verkündeten. Es war alles so unendlich schwer zu fassen, daß ich es nur erst ahnend begriff. Viel zu spät ist auch mir die volle Wirklichkeit dieses Geschehens klargeworden, und zwar durch einen deutschen Offizier, der heimlich über die Grenze gekommen war, weil er die Schrecken der Judenverfolgung nicht mehr ertrug.

In jener Zeit geschah es, daß Pfarrer Lejeune, den ich von früher her kannte, mich dem damals sehr lebhaft wirkenden Ragaz-Kreis zuführte, von dem ich durch Gustav Landauer schon wußte. An diesem Abend hielt Max Gerber einen Vortrag „Wenn Hitler käme”, in dem er kühn und ohne Beschönigung alles aussprach, was in Deutschland schon wirklich und was auch für die Schweiz als Möglichkeit zu befürchten war. Durch diesen Vortrag ist mir die Schweiz zu einer zweiten Heimat geworden, und ich habe die Haltung Max Gerbers – was immer sich später dazwischenschob – nie vergessen, wie ich ihn überhaupt als einen besonderen und liebenswerten Menschen in Erinnerung behalten habe.

Leonard Ragaz – es ist schwer, ein richtiges Bild von diesem sel­tenen Menschen zu entwerfen. Allein sein großes Bibelwerk, das sich mit allen modernen Erscheinungen an Hand der Bibel aus­einandersetzt, ist eine einzigartige Leistung. Wie Eugen Rosen­stock und in anderer Weise Ida Görres, so ging auch ihm das Wort „Gott” so leicht und selbstverständlich von den Lippen, als ob nie eine Welt daran gezweifelt hätte. Und auch er suchte von ihm aus eine Welt im Sinne dieses Namens neu zu ordnen. Er wußte auch das politische Leben so fest und klar zu kritisieren, als ob ihm Gott die Hand geführt hätte. Und zugleich schien die Schöpfung unmittelbar zu ihm zu sprechen. Die Art, wie er die Schönheit seiner Bündner Heimat, ihr Geisterhaftes und Groß­artiges erblickte, wie ihn der Duft einer dunklen Rose bezaubern konnte, sein Ichbewußtsein und seine Opferbereitschaft – all das gehört zum Daimonion und auch zum Zauber seines Wesens. Nachdem er erst Pfarrer am Basler Münster gewesen war, wurde er Professor an der Universität Zürich und wohnte in einem schönen Haus am Zürichberg, gab aber dann von sich aus diese Stellungen auf und zog in eine einfache Stadtwohnung, um dort einfache Leute, vor allem Arbeiter, zu belehren. Die Freundschaft mit Ragaz war tiefgegründet, und so hat auch er selbst es in zahl­reichen seiner Briefe und in einer sehr schönen Arbeit ausgespro­chen. Meine Haltung zum Judentum und Christentum ist ihm von Anfang an nahe gewesen, wie es mir auch die seine war.

Ich besuchte nun regelmäßig seine Samstagabende, in denen er mit fast prophetischer Kraft die politisch-religiösen Probleme der damaligen Gegenwart besprach – nicht eigentlich als Theologe, sondern als gläubiger leidenschaftlicher Christ und als Verkünder seiner Botschaft vom religiösen Sozialismus, vom Frieden und von der Gerechtigkeit, die zu einer einzigen Kritik am Bestehenden, vor allem auch an seiner eigenen Heimat führte. Es war ein gro­ßes umfängliches Leben, das doch, wiewohl es so selbstverständ­lich erschien, in seinen Tiefen viel zu kämpfen hatte.

Ragaz hat als Politiker immer die ungleiche Grundlage der beiden totalitären Systeme verstanden und großartige Worte darüber gesagt. Er hat sich zunächst mit der Gottlosenbewegung und zu­letzt auch noch mit dem Phänomen der Atombombe auseinander­gesetzt. Und noch schöner als seine Samstagabende, die ich auch im Krieg trotz der Verdunkelung nur in den seltensten Fällen versäumte, waren die Einzelgespräche mit ihm. Immer waren seine Worte hilfreich und tröstend. Er hatte so viel vom Leben gesehen und begriffen, daß ihm nur weniges fremd geblieben war.

Eines Tages, als ich mir im Krieg vom Amt meine monatlich zu erneuernde Toleranzbewilligung geholt hatte, auf der geschrie­ben stand: „heimatlos, geschieden”, und ich ihm diese harten Worte zeigte, antwortete mir Ragaz einfach: „Das hat man von den Heiligen auch gesagt.” – Oft hat er mir auch von seiner Bündner-Jugend erzählt, die in eigentümlichem Einklang mit dem herrlichen Buch von Renner „Der goldne Ring über Uri” stand. Die Geister der Bergwelt hatten auch ihn in seiner Jugend ver­zaubert.

Es gab in seinem Kreis, in dem damals noch kein Mißton hörbar war, eine freundschaftliche Gesinnung, der ich mehr als einen Freund verdankte. Erst später in die Wirrnisse der Geschichte, die Spaltung zwischen Ost und West, hineingerissen, begann dieser Kreis sich aufzulösen und nach dem Tode von Ragaz völlig aus­einanderzufallen.

Obwohl ich den religiösen Sozialismus als meine eigene Haltung annahm, ist es mir immer unmöglich gewesen, einer Partei beizu­treten, weil ich deren moralische Überbeanspruchung an ein Ein­zelleben nur zu gut erkannte. Denn Menschen, denen die Partei über alles geht, vermögen ja im gegebenen Fall auch die nächsten und liebsten Freunde zu täuschen. Ich glaube, das alles kommt letzthin daher, daß in dieser Erneuerung der Menschheit einzig nach dem Leben und nicht auch nach dem Tod gefragt wird.

Heute sehe ich mit aller Deutlichkeit, welche furchtbare Wirkung sich aus einer Spaltung in zwei entgegengesetzte Parteien ergibt. Ich sehe klar, daß Hilfe, daß Veränderung nötig ist, daß die ein­zelnen hier mithelfen müssen – aber auch welche ungeheuren Gefahren in beiden Arten der Hilfe liegen; daß hier, wo not­wendig sich Politik einmengt, um mit Sartre zu sprechen, „nicht mit sauberen Händen” zu arbeiten ist. Andererseits weiß ich sehr wohl, daß die Partei eine gerechtfertigte Zusammenschließung gegen eine überholte Ordnung ist. Hier kann nur entweder das eine oder das andere geopfert werden.

Im August 1934 erhielt ich eine Einladung nach Meilen am Zürich-­See von einem mir kaum bekannten Menschen, der mich aber schon vorher gebeten hatte, ihn und seine Frau zu besuchen, und dieser erneuten Aufforderung war hinzugefügt, daß ich dort Karl Wolfskehl treffen würde. Ich weiß nicht, warum die Furcht vor diesem Namen, die doch jahrzehntelang gewährt hatte, plötzlich verschwunden war – sicher durch die neue Schicksalsgemeinschaft der Emigration. So ging ich an einem strahlenden Sommertag durch lauter blühende Wiesen den langen Weg zu einem hoch­gelegenen Haus empor. Tief unter mir lag das matte Silberblau des Sees. Wiesen um mich, blühende Wiesen, mitten hindurch lief ein schmaler Pfad. Ich war lange nicht einen so ländlich-lieb­lichen Weg gegangen.

Nicht weit von der Tür des Hauses kam mir ein hochgewachsener Mann entgegen, den ich nie gesehen zu haben glaubte. Noch als er mich ansprach, hatte ich Mühe, ihn zu erkennen. Karl Wolfs­kehl hatte, als ich ihn kannte, einen kurzen bräunlichen Bart ge­tragen. Jetzt war das schöne Gesicht bartlos und fast das eines Jünglings, das selbst die große dunkle Brille nicht entstellte.

In dem hellen, luftigen Zimmer mit dem Blick über die ganze Weite des Sees empfing mich eine junge Frau mit über die Schul­ter fließenden Locken, die mir gefiel und doch auch widerstrebte. Dann saßen wir um einen großen runden Teetisch, ich weiß, es waren noch andere Gäste da, doch ich hörte fast nur die Stimme des einen, den ich ein Leben lang gemieden hatte. Ich hatte ihn mir so anders vorgestellt. Der ganze Raum erfüllte sich mit einem durch­dringenden Duft von Unschuld, der ihn und seine Worte umgab. Ich fühlte ein tiefes Einverständnis, wie ich es niemals empfunden zu haben glaubte. Es schien mir, als sei ich nach einem schweren und ruhelosen Leben endlich nach Hause gekommen. Von da an war er täglich bei mir.

Von der Zeit, die nun folgte, zu sprechen ist schwer. Ich empfand sie als die glücklichste meines Lebens, und doch ist sie sicher auch die schwerste gewesen. Wie hätte ich diesen Menschen verstehen sollen, dessen Lebenskreis mir so fremd geblieben war? Der Traum meiner Jugend: der ungeheure Mensch – in ihm schien er mir Wirklichkeit geworden. Denn in der Tat war dieser Mensch ungeheuer und nicht zu fassen. Aber er war ein vollkommen anderer als der meiner frühen Jugendträume: groß nicht im Le­ben und in seinem Verhältnis zu den Mitmenschen, sondern groß im Wissen, im Dichten, Schauen und Überblicken. Im Nahen, im Verhältnis zu anderen Menschen wurde er mir immer unver­ständlicher; doch hüllte ihn mein Glaube in eine undurchdring­liche und nicht zerreißbare Hülle ein. Im Geist ein großer, durch­aus ungewöhnlicher Mensch, aber mit gleichsam loserem Lebens­gewebe – nur schwankender, schweifender, als es bei George der Fall gewesen war. Seele und Geist gleichsam unverbunden, der Geist mit mächtigen Flügeln über dem Leben schwebend und es beherrschend.

Unsere Gespräche glichen fast denen, die ich mit Groethuysen gehabt hatte, aber sie fanden nicht auf einem Stern, sondern auf der wirklichen Erde statt, der ich fast nie und am wenigsten jetzt gewachsen war. Unsere Beziehung war echt und tief, aber von meiner Seite mit einer steten Angst verbunden. – Vielleicht war das auch durch ein Wort veranlaßt, daß mir George einmal über ihn gesagt hatte und das mir ein unheimliches Bild hinterließ, und dazu kam auf der andern Seite seine fast vollkommene Blindheit, die mein Verhältnis zu ihm in doppelter Weise erschwerte – ein­mal durch seine Hilflosigkeit, die mich ihm gegenüber wehrlos machte, und dann durch das namenlose Mitleid mit ihm, das durch meine Bewunderung eher gesteigert als verringert wurde.

Die Wucht meiner vielfach entgegengesetzten Empfindungen ist ganz unmöglich wiederzugeben. Angst und Zweifel, Bewunderung und Erbarmen, Verzauberung und Ernüchterung und schließlich die Hilfe in einem schweren Lebenskampf, den er hier durchzu­kämpfen begann, nahmen mein ganzes Leben ein. Dazu kam ein Wahnsinn, in dem er mich bestärkte: ich hatte lange das Gefühl, daß wir unter den Menschen völlig allein seien, denn ich allein glaubte ihm bei seinem schweren Kampf zu helfen, der um seine neue jüdische Dichtung entbrannte, während doch er von allen, die ich je gekannt habe, die meisten Menschen um sich hatte.

Auch er sprach wieder den Namen aus, aber so ganz anders als Rosenstock und Rosenzweig, die durch Glauben und durch Den­ken die verlorene Wirklichkeit in einer veränderten Welt wieder­gefunden hatten. Bei Wolfskehl war es eine rein dichterische Wahr­heit. Und der Dichter ist ja nicht nur der, dem ein Gott zu sagen gab, was er leidet, sondern auch der, dem dies darum geschieht, weil er zu diesem Gott und zum Göttlichen überhaupt in einer besonderen Beziehung steht, ganz anders an die Ränder des Le­bens rührt und von ihnen her Schicksal und Weisung empfängt. In Wolfskehls Dichtung und Leben fielen die Sphäre des Namens und die der Wirklichkeit in so unfaßlicher Weise auseinander, daß mir das zu einem Rätsel wurde, das zu lösen allein meine ganzen Kräfte erforderte. Sein Gott war ohne Zweifel der biblische, der eine ganz bestimmte Lebensweise fordert, die zu verwirklichen freilich in unserer Welt fast unmöglich geworden war und die vielleicht allein Franz Rosenzweig zu verwirklichen vermochte.

Hier brach nun ein völlig anderes, ein fast heidnisches Leben in die göttliche Weisung ein, und ich verstand dieses Verhältnis zum Höchsten nicht mehr. Es war ja wirklich ein leidenschaftliches Ringen um Gott in diesen Gedichten, und es erschütterte mich das Wort dieses tausendfach Gefangenen, dem die ganze Welt zum Erlebnis geworden war:

 

„Aber vor den tausend Türen

Sprach doch jede Schwelle: Gott!”

 

Und sein leidenschaftlicher Kampf, der sich nun auch auf die Frage der Veröffentlichung bezog, galt dem Verhältnis zu Deutschland und George. Wolfskehl sprach selten von George, aber etwas vom Geist Georges lebte in allem, was er sagte, und auch sogar in sei­ner völlig anderen äußeren Erscheinung. Er gab die Dichtung Georges nicht auf, er ist ihr bis in den Tod hinein treu geblieben, aber er wurde zugleich in die Welt seiner Väter zurückgerissen, der eine völlig andersartige Haltung entsprach. Nächtlich, aus schweren Träumen aufgeschreckt, schrieb er ohne eigenen Willen Gedicht um Gedicht über das jüdische Schicksal, in denen eine ganz andere Quelle als die, aus der er bis dahin geschöpft hatte, emporsprang. Er wurde aus einem leidenschaftlichen Deutschen zu einem leidenschaftlichen Juden und rang um die Möglichkeit, beide zu vereinen. Daß dies aber in seiner Lage unmöglich war, daß in diesem Augenblick das jüdische Schicksal überwog, davon legt der kleine Gedichtband „Die Stimme spricht” Zeugnis ab, den er damals in dem harten Bemühen, trotz des fast durchweg jüdischen Inhalts auch der deutschen Dichtung treu zu bleiben, schrieb. Ich lernte ihn in dieser Zeit neu, wenn auch noch nicht wirklich begreifen. Ich empfand nur eins: wir können unserem Schicksal nicht entgehen. So sicher wie der Tod holt es uns ein. Und immer hat es ein anderes und doch auch wieder dasselbe Antlitz wie das, dem wir entflohen sind. Und wer könnte dieses Antlitz schildern, das groß und grausam und tief vereinsamt und doch, um alles Menschliche kreisend, in eine fremde Wirklichkeit hinaufstieg?

Vielleicht gibt eines meiner zu jener Zeit geschriebenen Gedichte den von den verschiedensten Mächten getriebenen Menschen wie­der, als der er sich mir in dieser Zeit enthüllte.

 

Vom Unten

Aus der Stadt, die versunken liegt auf Meeres Grund

– Die schwarzen Wasser überfluteten sie ganz,

Die blau erscheinen im Tage und lauter Glanz

Und verschließen der Glocken dunkelredenden Mund –

 

Aus der Stadt, die nicht atmet, da alles verstummt ist und blind,

Da alles in Schleiern und ohne Zeichen geht

Und keiner den anderen im Lichte des Tages versteht,

Auch so wenig vertraut nicht, wie wir es, wir Träume, uns sind­ –

 

Tauchtest Du, Antlitz, verlassen und groß und fremd

Zu uns empor. Wer hieß uns dir zu vertrauen?

Fremd war dein Reden am Tag, verworrenes Geraun:

Tönende Muschel ans Ufer des Meeres geschwemmt.

 

Keiner verstand dich. Doch töricht und unbedacht

Nahmen wir alles als Rede aus Menschenmund.

Lüge und wirr ward die mächtige Weisheit vom Grund,

Ausgefaltet am Licht aus verborgener Nacht.

 

Trümmer von Formen und Farben trieben empor.

Wer, den sie kennte und faßte zum klaren Gebild?

Andere Blumen erblühen dort dunkel und wild,

Andere Klänge verwirren das träumende Ohr.

 

Göttliches Drunter, du brachtest es warm vom Meer

Uns, die vom härtesten, kältesten Tag vereist,

Daß es uns nur noch in verworrenen Nebeln umkreist,

Das uns das Oben schweigsam geworden und leer. –

 

Niemals wahrlich zog sich die Zeit so ganz aus meinem Leben zurück. Es gab für mich nur noch den gelebten Augenblick. Und so zeitfrei und zeitfremd, aus allen Zusammenhängen des Lebens gelöst, war ich auch von den klaren Einsichten der Vernunft weit­hin losgerissen; ich verstand die Dinge, die um mich waren, nicht mehr. Unmittelbar zwischen Leben und Tod, ohne zeitliche Ver­mittlung lebend, war ich jedem Anspruch des Fast-Blinden aus­geliefert, war ich allem preisgegeben, was von mir gefordert wurde, und brach zuletzt unter dem ungeheuren Anspruch dieses Doppelgeschehens zusammen. Mir ging in wachsendem Maße der Grund jeder wahren Beziehung, das Vertrauen, verloren, wäh­rend doch diese Beziehung in ihrer ganzen Stärke erhalten blieb. Und während ich ihm zu helfen suchte, schmolz es immer mehr zusammen. Ich war unfähig, mich zurechtzufinden, da ich der vollkommenen Freiheit und Skrupellosigkeit und der mir frag­würdigen Art des Lebens dieses doch so wunderbaren Menschen nicht gewachsen war. Ich fühlte, daß ich einer fremden Macht, die in ganz verschiedener Weise unser beider Leben lenkte – man könnte sie fast das Numinose nennen – völlig preisgegeben war. Nie habe ich meine Fremdheit, meine Verlorenheit im Leben so gefühlt wie in der Zeit, da ich aus diesem unseligen Glücksrausch mich wieder zu fassen suchte.

Dieses Gemisch von Angst, Bewunderung und Mitleid, Angst auch vor seiner mächtigen Gestalt und dabei wieder das Gefühl der Befremdung, das ich seit je dem George-Kreis gegenüber emp­funden hatte, ist wohl auch in dem Wort von Alexander von Ber­nus ausgesprochen, der ihn in seiner Jugend einen jungen Bacchus, später eine Mischung von Hagen von Tronje und einem alttesta­mentlichen Propheten nannte. Die für mich entscheidende Ent­täuschung war durch ein von mir mißverstandenes Wort Wolfs­kehls aus dem George-Kreis entstanden, das ich nicht sogleich be­griff und das von einem Augenblick zum anderen die Trennung zwischen uns bewirkte. – Es vergingen leere, schreckliche Tage, dann trafen wir uns noch einmal in einer Gartenwirtschaft am See, um eine Arbeit zu besprechen. Ich fuhr trotzdem in über­mäßiger Erwartung hin und fand einen merkwürdig verdüster­ten Menschen, gegen den irgendwie mich zu wehren mir wie im­mer unmöglich war. Was wir in jener Stunde sprachen, ist mir bis auf weniges entfallen; auch verwirrte sich unser Gespräch immer mehr, bis er mir zuletzt von sich als Pflanze sprach, einer Riesenpflanze, die alle Weiten des Lebens in sich sog. Sein letztes Wort an diesem Abend war das schüchterne: „Ist es nicht doch ein schöner Abend gewesen?”

Was auf diesen Abend folgte, ist kaum darzustellen: es ging etwas Unbegreifliches in mir vor, ich war außerstande, den Menschen, mit dem ich an jenem Abend zusammengewesen war, als eine ein­zige Gestalt zu sehen. Wie klar ich auch verstandesmäßig wußte, daß ich mit einem Menschen zusammen gewesen war: in meinem Gefühl, in meiner inneren Wahrnehmung waren es immer zwei Menschen gewesen. Ein mir liebevoll zugewandter Freund und zugleich, nicht weniger wirklich, ein schwarzer, böser Schatten, der sich dauernd über uns beugte und jedes unserer Worte hörte und auch mitsprach. Lange konnte ich dieses Zusammensein nicht anders erleben; ich sagte mir klar, daß das Wahnsinn sei, aber der Wahnsinn war stärker als das Wissen. Und am Ende: war es nicht wirklich so gewesen? Der Wahnsinn mag wahrer als das Wissen gewesen sein: die erlebte Wirklichkeit überwältigte Denken und Wissen.

Ich habe Wolfskehl nach diesem Abend, in der Zeit, bevor er Europa verließ, um nach Neuseeland auszuwandern, noch einige Male wiedergesehen, doch niemals in der alten Beziehung.

Das nun folgende Jahr war ein Jahr der Finsternis. Ich war wie ein Baum, der einst eine weite herrliche Landschaft überblickt hatte und nun, aus seinem Erdreich gerissen, blind und verloren am Boden lag. Ich verfiel in eine schwere Krankheit, die fast zwei Jahre gedauert hat. Wie ich dies alles überwunden habe – ich weiß es nicht. Eine Riesenkraft muß in mir gewesen sein. Es war dann sicher auch die wiederbegonnene unablässige Arbeit, die mir dabei zu Hilfe kam.

In der Zeit meiner Genesung wurde im zu einem Vortrag in Bern aufgefordert. Im wählte ein Thema über den Messianismus. Am Tage nach dem Vortrag erhielt ich einen wunderschönen Brief von einem Hörer, der sich mir an dem Abend in Bern vorgestellt hatte. Es war Professor Ernst Gaugler – ein Name, der mir viel bedeuten sollte. An diesem Tage erlitt ich einen Rückfall, und es war mir unmöglich, sofort zu antworten. Nach zwei Mo­naten schrieb ich ihm endlich einen Dankbrief, in dem im ihm meine Lage erklärte, und am nächsten Tag erhielt ich seine Ant­wort. Er und seine Frau haben mir dann unendlich viel Gutes er­wiesen, ja, sie haben mich mehr als einmal ins Leben zurückgeführt. Es ist nicht leicht, von Ernst Gaugler zu sprechen: er war ein Mensch von einer wunderbaren Güte, die ihn, den selbst schwer Leidenden, mit jedem fremden Leid eng verband, so eng, daß er wie ein Magnet alles Leiden ihm fremder Menschen an sich zog. Er war Professor der altkatholischen Theologie an der Berner Universität und stand dem Protestantismus sehr nahe. Seine Schriften wie sein unmittelbar den Menschen zugesprochenes Wort wirkten sehr stark auf jeden, der ihm begegnete. Er hatte eine außergewöhnliche Frau, die, tief im Leben wurzelnd, nicht nur ihn selbst, sondern alles, was von Geist gesättigt ist, in wun­derbarer Weise verstand. Sie ist sicher die problematischere Na­tur und vermochte vielleicht gerade dadurch die religiösen und menschlichen Probleme seines Lebens so gut zu verstehen. Eine tiefe und warme Menschlichkeit strahlte von diesen beiden aus.

Zuerst besuchte mich seine Frau, die, da sie an jenem Vortrags­abend verreist war, mich zunächst nur durch ihn kennengelernt hatte, mich aber bereits zu kennen und auch schon viel von mir zu wissen schien und mich dringend zu einer Ferienreise nach dem schönen Chandolin im Wallis einlud. Ich nahm die Einladung nach Chandolin mit Zögern an und ritt wenige Monate später, da ich den weiten Weg noch nicht meistern konnte, auf einem Maulesel hinauf. Die Luft und die herrlichen Lärchen mit ihrem leichten Säuseln ebenso wie das Zusammensein mit den beiden Freunden trugen sehr viel zu meiner Genesung bei.

Eine lebendige Erinnerung an Ernst Gaugler möchte ich fest­halten: Ich lag noch vor der Ferienreise krank im Bett, und er hatte mir eben, ohne zu wissen, daß ich an jenem Tage besonders elend war, eine Zeitlang vorgelesen. Da kam seine Frau herein und fragte mich: „Geht es dir jetzt besser als vorhin?” Völlig un­vergeßlich ist mir die erschrockene Schulterbewegung, mit der er sich plötzlich zu mir zurückwandte. Diese Bewegung ist für mich geradezu im Raum stehengeblieben. Denn seine ganze Güte und innere Zuwendung zu menschlichem Leid lagen darin.

Obwohl eine so lange Zeit zwischen dem Damals und dem Heute liegt und auf einem zwar starken Urgrunde fast alles in dieser festen Beziehung sich verändert hat, sind sie mir beide immer teuer geblieben.

In die Zeit dieser von Krankheit und Leid mitgeprägten Freund­schaft fiel auch ein neues Nachdenken über das Böse. Ich erkannte: Es gilt in große Tiefen zu steigen, um diese Macht wirklich zu verstehen. Und doch: Eine Menschheit, die mit dem Brudermord beginnt, die in der Frühzeit in die Sintflut stürzt und von der Gott selbst das harte Wort sagt, „das Dichten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf” – wie kam es, daß ich diese ungeheure Macht so lange nicht verstehen konnte?

Dieser Frage kamen in jener Zeit die neuen französischen Ro­mane entgegen. Das letzte Buch, das ich mit klarsehenden Augen – und gleich fünfmal nacheinander las, war „La joie” von Ber­nanos, die erschütternde Darstellung des Heiligen in einer un­heiligen Welt. Alle späteren großen französischen Romane sind nur mit dem Wort „absurd” zu bezeichnen. Dies Wort bedeutet ein Ringen um Gott, mit Gott, gegen Gott, in dem oft in wirklich absurder Weise der Mensch den Sieg über Gott behält. Die Na­men Camus, Beckett und in ganz anderem Sinn auch Sartre tragen den Stempel dieses Wortes. Von ihren Büchern geht stets ein gro­ßes Grauen aus; so auch von „Chaque homme dans sa nuit” von Julien Green und von seiner großartigen, unerträglichen „Adrienne Mesurat”, so von „L'étranger” von Camus und von den grau­sigen, den menschlichen Endzustand widerspiegelnden Stücken Becketts. Sie sagen alle, bald laut, bald leise: Alles in uns hat sich gewandelt und ist, rein menschlich gesehen, nicht mehr zu begrei­fen. Wir verstehen unser eigenes Tun und Lassen nicht mehr ­und wir verstehen am wenigsten das allzeit Unverständliche und Unbegreifliche, das Gott am nächsten scheint: den Tod, von dem doch die ganze Angst dieser Epoche ausgegangen ist; und damit verschwimmt uns vollends Gut und Böse.

Was ist denn überhaupt Gut und Böse? Die größere Lebensmacht des Bösen reicht sicher zu seiner Erklärung nicht aus. Gewiß ist das Gute zunächst machtlos, bescheiden, und doch liegt in ihm die größere Möglichkeit zu siegen. So war schon das Wort eines Lan­dauer: „Nichts, nichts in der Welt hat so unwiderstehliche Macht wie das Gute” nur eine subjektive Äußerung – objektiv ist gewiß das Böse das Mächtigere –, aber hat nicht auch diese subjektive Einsicht eine nur andere Art der Wahrheit? Vom Leben her scheint mir das Gute nicht bestimmbar, bestimmbar ist es nur von Gott her – und darum wohl für uns Menschen einer Gott entfremde­ten Welt so schwer zu erfassen. Das Gute ist göttlich. Für die ganze Menschheit gilt das Wort: „Was heißest Du mich gut, nie­mand ist gut denn der alleinige Gott.”

Das Emigrantenschicksal der dreißiger Jahre war am Anfang schwer zu überwinden. Obwohl die deutschen Emigranten so viel Wert­volles in die Schweiz brachten, ließ man sie noch lange ihre Son­derstellung fühlen. Selbst der alte Freund Medicus, der mich wie immer mit offenen Armen empfing, schien von dieser Haltung nicht unberührt zu sein. Er schien ein anderer geworden, und allein, wie früher oft, sahen wir uns nie. Erst in den letzten Jah­ren vor seinem Tod kam er oft wieder allein zu mir, und ich habe wohl die letzte Beichte seines Lebens empfangen. Aber auch andere Menschen machten, vielleicht ohne sich selbst klar darüber zu sein, einen bedeutsamen Unterschied zwischen den Schweizer Freunden und den Emigranten, die ihnen nahestanden.

Die Entpersönlichung der ersten Jahre hat sich bei mir dann durch mancherlei Vorkommnisse gelöst – am meisten wohl auch durch das Lob und die Ehrengaben, die ich für meine in der Schweiz ge­schriebenen Bücher und Aufsätze von Stadt und Kanton Zürich, vom Israelitischen Gemeindebund und vom Schweizerischen Schriftsteller-Verein empfing. Doch nicht nur dadurch; schon vor­her war mir ein einziger Mensch begegnet, der alle Fremdheit von mir nahm und an dem ich nie auch nur eine Spur solcher Vor­urteile erlebt habe: es war Walter Nigg, Professor an der Univer­sität Zürich und Verfasser einer großen Anzahl bedeutender, weit­hin bekannt gewordener religiös-philosophischer und kirchenge­schichtlicher Bücher. Als er mich kurz nach einer von ihm veran­laßten schriftlichen Begegnung besuchte, war ich zunächst er­staunt über sein Gesicht, das mir wie ein Haus mit geschlossenen Läden erschien. Ich fühlte aber sehr bald, daß sich hinter diesen geschlossenen Läden nur Gutes und ein unfaßliches Wissen und eben dadurch eine zu jener Zeit kaum begreifliche Vorurteils­losigkeit verbarg – kaum faßlich, weil sie damals und wohl immer so überaus selten zu finden ist. Der Name Groethuysen war ihm sofort bekannt, und es gab überhaupt keinen bedeutenden Na­men, der ihm nicht irgendwie vertraut war. Daß er Pfarrer einer kleinen Gemeinde war, wußte ich, aber erst später erfuhr ich, nicht nur durch einige seiner Predigten, die ich hörte, sondern auch durch manches, was ich von ihm durch andere Menschen erfuhr, wie wunderbar, fast in der Art eines Jeremias Gotthelf, er seine Gemeinde betreut, mit ihr lebt und für sie sorgt.

In diese Zeit fielen auch zwei Begegnungen, die ich noch erwäh­nen will. Einmal war es Else Lasker-Schüler, mit der ich mehrere Male zusammentraf. In ihrer Größe und seltsamen bizarren Art – sie trug immer eine große Tasche mit sich, in der sie Manu­skripte und kleine Habseligkeiten herumschleppte, doch so, als trüge sie die Welt mit sich, ihre Welt – hinterließ sie einen eigen­artigen Eindruck bei mir, und es verband uns keine engere Freundschaft. Doch ein anderer Mensch trat in mein Leben, mit dem und dessen Frau mich bald eine schöne, langjährige Bezie­hung verband. Es war Franz Kobler, der mit seiner Frau gemein­sam die herrliche Briefsammlung „Jüdische Geschichte in Briefen aus Ost und West” herausgegeben hat. Was er dort in seiner Ein­leitung über den „Drang nach Zwiesprache” schrieb, machte sein eigenes Wesen so unendlich reich und anziehend. Der Brief, schreibt er, sei „für Israel die Ader, durch die das Blut des über die Welt gestreckten Volkskörpers rollt, und jenseits dieser schick­salhaften Funktion ist er mit dem entscheidenden Merkmal jüdi­schen Wesens, dem Drang nach Zwiesprache, nach Anruf und Antwort, vom Anbeginn der jüdischen Geschichte verwoben.” Die inzwischen auch ins Englische übersetzten Bände mit ihrem umfangreichen Kommentar zeugen noch einmal von der vielfach vergessenen Größe und herrlichen Vielfalt jüdischen Denkens und Wissens. Es war mir ein großer Schmerz, als ich erfahren mußte, daß nicht lange nach ihrer Übersiedlung nach San Franzisko seine Frau vor der Zeit aus dem Leben gegangen war, und es unterlag für mich keinem Zweifel – ohne daß ich davon Kenntnis hatte –, daß dies um seinetwillen geschah, so tief waren sie in ihrem Leben und in ihrer Liebe verbunden.

Während an dieser Begegnungen und Freundschaften ging das Leben im ganzen seinen wirren Gang weiter. 1939 brach der zweite Weltkrieg aus. Auf dem Dach des Nachbarhauses heulte Nacht um Nacht die Sirene, durch die wir erfuhren, daß ein Flug­zeuggeschwader über die verschonte Schweiz hinwegraste, um in einem Nachbarland Tod und Zerstörung zu verbreiten.

Neue Beziehungen knüpften sich. Der Sohn meiner Schwester hat damals ein Jahr lang bei mir gewohnt, nachdem er auf schwieri­gen Wegen über die Grenze gekommen war. Doch immer noch war meine Schwester, die längst von der Schweiz die Erlaubnis zur Einreise erhalten hatte, in Deutschland zurückgeblieben. End­lich kam in verhüllten Worten die Nachricht, daß sie zur Abreise bereit sei, und der Tag ihrer Ankunft war angegeben. Unglück­licher–, wenn auch sehr begreiflicherweise, hatte sie einige nähere und fernere Freunde mit sich genommen, unter ihnen auch Ger­trud Kantorowicz, die natürlich mit mehr Geräusch als ein ein­zelner an die Grenze gelangten. Dazu kam noch das größere Un­glück, daß gerade am Tag vorher der französische General Giraud, der in Deutschland als Kriegsgefangener interniert war, über die Schweizer Grenze entflohen war. Dadurch war die Grenze von den Deutschen vierfach besetzt. Durch ein weiteres Verhängnis, durch ein Mißverständnis ihres Sohnes über das Datum, wurden die Flüchtlinge drei Wochen in einem kleinen Wirtshaus nahe der Grenze als „fremde Sommergäste” zurückgehalten.

Unvergeßlich ist das Warten dieser Wochen. Bei jedem Telefon­anruf glaubten wir Nachricht von ihr zu erhalten. Dann endlich kam der Anruf, daß sie kommen würde. Sie kam nicht an. Wir warteten weiter, und endlich brachte die einzige von dieser Gruppe, die durch einen Zufall herübergekommen war, die Nach­richt, daß sie an der Grenze festgenommen worden seien und meine Schwester sich das Leben genommen habe. Ich hörte spä­ter, sie habe im Tod so friedlich ausgesehen, ein Lächeln sei auf ihrem Antlitz gewesen. Mein einziger, wenn auch sehr schwacher Trost war, daß meine Schwester ein ganz bestimmtes Verhältnis zum Tode hatte und daß sie sich vor ihm nicht fürchtete. Und doch – was mag in den letzten Stunden in ihr vorgegangen sein?

Gertrud Kantorowicz, die eine ältere Verwandte bei sich hatte, wurde mit dieser nach Theresienstadt verschleppt, wo sie durch ihre frohe Art ein Trost für viele gewesen sein soll. Für meine Schwester, die alles, was ihr teuer war, in der Schweiz hatte, war der Tod fast selbstverständlich.

Ich weiß nicht, wie ich den Tod dieses wahrhaftigsten, gütigsten, mir nächsten Menschen überwunden habe, welche Kraft mich immer wieder aus allem Entsetzen ins Leben zurückgerissen hat.

Meine begonnene Arbeit über Simmel hatte ich, als ich Deutsch­land verließ, beiseite gelegt, weil ich an ein Wiederaufleben Sim­mels in Deutschland und auch in der Schweiz nicht glauben konnte und auch weil Ernst Robert Curtius mir von dieser Ar­beit, obwohl er sie dringend wünschte, abgeraten hatte. Als ich sie dann nach Jahren hier wieder aufnehmen wollte, konnte ich mit meinen bereits verdunkelten Augen den klein und mit Abkür­zungen geschriebenen Text nicht lesen, und noch weniger konnten es die anderen. So ist schließlich nur ein bescheidenes Büchlein über Simmel zurückgeblieben, das ich noch überaus gerne ergänzt hätte. Meine Hauptarbeit aber, „Das Buch Hiob”, wurde wieder durch einen grausamen Unglücksfall unterbrochen. Ich war für einige Tage nach Adelboden gefahren, um eine alte kranke Freun­din zu besuchen. Am Morgen machte ich erst noch einen einsamen Spaziergang einen schmalen, stark ansteigenden Weg entlang. Nach zwei Stunden kehrte ich wieder um. Auf dem Rückweg muß ich auf eine unter Herbstblättern verborgene, am Rand des Weges ausgebrochene Stelle getreten sein, denn ich verlor unter dem rechten Fuß den Boden und stürzte den steilen, etwa fünfzig Meter langen Abhang hinunter. Unten im Walde blieb ich liegen. Erst nach einer Stunde wurde ich von einem sehr hilfsbereiten jungen Paar aus Bern aufgefunden. Der junge Mann rannte ins Tal, um eine Bahre und auch gleich den Arzt zu holen. Das junge Mädchen blieb bei mir und nahm meinen Kopf, der bis dahin auf harten Baumwurzeln gelegen hatte, in den Schoß. Ich fühlte, daß ich mehrere Glieder gebrochen hatte, aber zugleich weiß ich ge­nau, daß ich immer das Grün und den blauen Himmel über mir und um mich sah, die so schön und leuchtend waren. Ich fühlte, daß ich das lange nicht – vielleicht nie mehr – sehen würde. Dann kam der Arzt und gab mir eine Spritze. Drei Amerikaner und drei Schweizer trugen mich auf einer Bahre ins Tal hinunter, und immer noch war um mich das Blau und das Grün, das ich, von der Spritze betäubt und erregt, noch glänzender sah. Und wieder er­fuhr ich eine unendliche Güte und Hilfsbereitschaft der Menschen um mich – zu derselben Zeit, als Hitler in Deutschland mit teuf­lischer Bosheit nicht nur die Juden, sondern alle, die nicht in seine Pläne paßten, vernichtete.

Meine Berner Freundin brachte mich nach acht Tagen, die ich mit hohem Fieber im Hotel verbracht hatte, in ein Berner Spital, wo mich der Arzt, ihr Bruder, sorgsam pflegte. Ich habe in dieser Zeit viel gelitten. Es scheint fast, als wäre ich nach dem Schwer­sten, das ich erlebt habe, trotz immer sich häufender Unfälle und Krankheiten, gegen alle Bedrohungen meines Lebens bis zum heu­tigen Tage gefeit geblieben. Eine Gehirnerschütterung, verbun­den mit mehreren Brüchen, brachte mich abermals dem Tode nahe. Die ersten Wochen oder Monate lag ich in Bern im Spital. Es war gegen Ende des zweiten Weltkrieges, und obwohl ich jenen wun­derbaren Arzt hatte, war ihm das Helfen dadurch erschwert, daß die richtigen Medikamente auch in der Schweiz nicht mehr zu haben waren. Nach fast zwei Jahren, in denen ich zuerst nach Locarno und dann wieder nach Mürren gebracht wurde, lag ich, nach Hause zurückgekehrt, am 8. Mai 1945 morgens im Bett und hörte mit einer nie erlebten Gewalt alle Glocken von Zürich und nicht nur von Zürich läuten; jedes kleinste und fernste ländliche Kirchlein schien sich zu bemühen, in den Klang der mächtigen Zürcher Glocken einzuschwingen, und im selben Augenblick fühlte ich mit jäher Gewißheit: ich bin genesen.

Glocken – ihren ursprünglichen Sinn, alle Dämonen im Umkreis zu bannen, schienen sie mir in diesem Augenblick zu erfüllen, wo so unvorstellbar plötzlich der Friede mit meiner Genesung zu­sammenfiel. Und in diesem Doppelerlebnis habe ich, ich weiß nicht, ob eine Stunde oder einen ganzen Tag lang, an einen wirk­lichen Frieden der Welt geglaubt.

 

 

NACHKRIEGSZEIT

 

 

In kurzem geschah abermals etwas wie ein Wunder, das mit dieser Genesung verbunden war: ich konnte, was ich nie mehr gehofft hatte, wieder an meinem Schreibtisch sitzen und an mei­nem Buch arbeiten, das während meiner langen Krankheit wie ein Alpdruck auf mir gelegen hatte. Langsam und unter großen Mühen wurde „Das Buch Hiob” vollendet. Ich muß vielleicht seinen Inhalt hier skizzieren, weil darin mein ganzes Leben ist.

Ich habe in Hiob die einzige Antwort in der Gewalt der Schöp­fung mit ihren Gestirnen und ihren Ungeheuern, im Herauf­ziehen von Tag und Nacht und dann in dem verborgenen Quell der Wahrheit gefunden. Ich habe in ihm damit die Frage nach dem verborgenen Gott gestellt, der auf die Fragen der Kreatur keine Antwort gibt.

Warum muß Hiob am Leben bleiben, warum muß er, so dicht an der Grenze des Todes, vom Tod geschlagen, leben? Es ist das­selbe Schicksal wie das des jüdischen Volkes und schließlich auch mein eigenes. Und woher kommt dem Sterbenden dazu die Kraft? Warum ist das jüdische Volk am Leben geblieben? Woraus schöpft es diese rätselhafte Kraft, an der jeder stutzt, die keiner begreift? Eine nur ethnische, eine reine Naturkraft kann es nicht sein; sie, die stärkere, glücklichere Völker zugrunde gehen ließ, hätte das kleine jüdische Volk im Sturm seiner Schicksale längst untergehen lassen.

Wenn wir an das Geheimnis dieser Kraft rühren wollen, so kön­nen wir es allein finden im Ursprung. Dieser Ursprung ist das­selbe Geheimnis, dessen Glanz am Anfang über Hiobs Hütte stand. Es ist das Geheimnis, dessen Name heute in den Zusam­menhängen des europäischen Lebens und Wissens so abgrundtief verklungen ist. Und dennoch, trotz allem ist es dies Geheimnis, das gerade Israel ursprünglich formte, das sich in seiner Volks­struktur, und oft auch in seinen einzelnen Menschen, für immer eingeprägt hat. Auch wenn kein Mensch mehr daran glaubte, keine Seele mehr es auch nur einen Augenblick lang festzuhalten vermöchte – es ist einfach einmal im Leben Wirklichkeit gewor­den, hat sich einem irdischen Gebilde eingeprägt, ist geschehen. Und weil die Kraft dieses Geheimnisses dieselbe ist, die die ganze Welt aufwiegt und überwiegt, darum ist sie durch die Jahrtau­sende hindurchgeschlagen mit einer Stärke und Stetigkeit, die heute, wo wir nur noch die Kraft von Bomben und Sprengstoffen kennen, sich ihrer Art nach unserer Fassungskraft entzieht. Jenes Ursprungsgeheimnis ist es, das dem Volk seine innere und äußere Gestalt gegeben hat, das durch seine Geschichte, zwar tief ver­hüllt, aber immer wieder neu hindurchscheint.

Es wurde mir bei dieser Arbeit unendlich schwer, mich in der Welt, vor allem angesichts des Verhältnisses von Judentum und Christentum, zurechtzufinden. Dann, als das Buch endlich er­schien, war einer der ersten, der tief ergriffen war und viel davon in sein letztes Buch aufnahm, mein alter deutscher Freund Me­dicus; und ich glaube fast, es war dieses Buch, durch das unsere alte Beziehung wiederhergestellt wurde, wie sich überhaupt vieles in meinen menschlichen Beziehungen durch dieses Buch gewandelt und erneuert hat. Denn auch von jüdischer Seite wurde es mit ganzem Herzen aufgenommen.

Und noch eine ganz andere, mich tief berührende Wirkung hat sich an meinem Buch Hiob gezeigt; Wolfskehl, der doch einen ganz anderen Hiob geschrieben hat, hat sich völlig mit meinem Hiob identifiziert. Auch mein Mann hat eine ausführliche, ver­ständnisvolle Arbeit über dieses Buch geschrieben. Es ist wun­derbar, daß dies mein unter so vielen Schmerzen geschriebenes Buch mir von mehr als einer Seite die Liebe, sei es auch nur eine „Traumliebe” Verlorener, wiedergebracht hat.

Ein besonders starkes Erlebnis war, nicht lange nach dem Ende des zweiten Weltkrieges – das genaue Datum ist mir entfallen –, eine Tagung in Walzenhausen, auf der unter Tränen und Krämp­fen, die aus verschiedener religiöser Gesinnung stammten, unter dem Vorsitz des gütigen Flüchtlingspfarrers Vogt die erste christlich-jüdische Arbeitsgemeinschaft gegründet wurde, die später in vielen Städten ganz Europas Verbreitung finden sollte. Eine Anzahl von Vorträgen wurde dort gehalten; ich selbst sprach über die großartige Deutung des Pentateuch von Oskar Gold­berg. Es zeigte sich an diesem Vortrag, daß Wolfskehl, der mich auf dieses Buch besonders hingewiesen und mir dann aber ge­radezu verboten hatte, mich jemals öffentlich darüber zu äußern, letzthin recht behalten hatte. Von diesem Buch hat Rosenzweig gesagt, es enthalte „viele gute exegetische Kerne in einer Schale von Wahnsinn”. Aber ich glaube, dieser Wahnsinn war im Grunde der eines Geistes, der inmitten einer durch die Entwicklung der Technik, der Physik und Biologie sich rasch entgottenden Welt noch einmal die Thora in ihrer ganzen Bedeutung für die Mensch­heit retten wollte. Er suchte mit Leidenschaft ein Volk, das noch ohne alle diese Entdeckungen lebte, weil die in die Gesamtentwicklung hineingerissenen Juden ihm dafür nicht mehr als das geeignete Volk erschienen.

Nicht lange nachdem „Das Buch Hiob” fertig war, erhielt ich eines Tages den Besuch eines mir Unbekannten, der für vieles in meinem Leben entscheidend wurde. Ein sehr großer, schlanker Mann trat herein, mit dunklen Augen von solcher Güte, daß sie mich an die meines verstorbenen Vetters erinnerten, der ein Ab­grund von Güte gewesen war. Es war Gershom Sholem. Die nun folgenden Stunden waren so schön, weil ich unendlich viel von ihm zu lernen halte. Mein „Buch Hiob” wollte ich ihm ver­schweigen, aber er wußte darum und ließ mir keine Ruhe, bis ich es ihm zu schicken versprach. Ich sandte es ihm, und die Antwort darauf erfolgte sehr schnell; sie war sehr schön und positiv. Nur ein einziger Satz darin widerstrebte mir, obwohl oder vielleicht, weil er darin gerade die Stelle angerührt hatte, mit der die Aus­einandersetzung die tiefste und schwerste gewesen war. Sein Wort lautete: „Es wird Ihnen nie gelingen, jüdische und christliche Metaphysik miteinander zu vereinen.” Aber dies war auch nie meine Absicht gewesen. Ich suchte nur abermals das Verhältnis der beiden Glaubenslehren, so wie sie ineinanderhängen, auch für unser Leben zu entwirren.

Ungefähr um die gleiche Zeit trat noch ein anderer bedeutender Mensch in mein Leben: Rudolf Pannwitz. Er war sicher der produktivste Mensch, der mir je begegnet ist, und zwar war er das auf allen Gebieten, mit Dramatischem, mit Lyrik und vielen Prosaschriften. Ich versuchte ihm hier einen Weg zu bereiten, ihm in jeder Hinsicht nützlich zu sein; ich schrieb auch zu einem Vortrag, den er hier hielt, eine kleine Arbeit über sein ganzes Wesen und habe mich auch sonst überall für ihn und seine Frau eingesetzt. Er lebte erst in Zürich und dann im Tessin, von wo er zuweilen herüberkam, um mir einen ganzen Morgen lang seine herrlichen Gedichte vorzulesen. Auch auf Wolfskehls Tod hat er ein wunderschönes Gedicht geschrieben, und er hatte so­gar eine besondere Art, seine Gedichte mit leiser Musik vorzu­tragen. Er war ein Ereignis in meinem Leben: aber dann trat ge­gen all mein Erwarten doch noch das ein, was man mir immer vorausgesagt hatte: die Freundschaft erlitt einen jähen und un­begreiflichen Bruch.

Ein Erlebnis ganz eigener Art waren die Vorträge, die ich – etwa vom Jahre 1950 an – in Glarus in dem von Frau Bertha Huber-­Bindschedler angeregten Vortragskreise hielt. In diesem einzig­artigen Hause mit der herrlichen Kunstsammlung wurde man so liebevoll und verständnisvoll aufgenommen, daß einem schon das allein eine geistige Anregung war. Ich glaube dort einige meiner besten Vorträge gehalten zu haben, die später zum Teil in meinem Buch „Deutung biblischer Gestalten” veröffentlicht wurden.

Mir aber war in all diesen Erlebnissen und Deutungen Deutsch­land immer fremder geworden.

Und doch hat mehr als eine Erfahrung mich noch einmal aus die­ser Entfremdung herausgerissen. Ich erhielt damals Besuche deut­scher Freunde. Auch mein einstiger Freund, Victor von Weiz­säcker, hat mich in dieser Zeit noch einmal besucht – gebrochen und tief verändert, am meisten wohl durch den Verlust seiner beiden Söhne, die sich für eine Sache eingesetzt hatten, an die er nicht glaubte. Daß sein ihm, äußerlich wenigstens, sehr ähnlicher Bruder zu jener Zeit als Kriegsverbrecher im Gefängnis saß, hat sicher seine Verstörung mit bedingt. Es war wohl die größte äußere, durch den Krieg geschehene Veränderung, die ich an einem deutschen Menschen gesehen habe. Er war ein ungewöhnlich schöner, klassisch schöner Mensch gewesen – „wie aus Silber geschnitten” hatte einmal Franz Rosenzweig sein Gesicht ge­nannt –, nun war es ein von Schmerzen verzogenes und kaum wiederzuerkennendes verkrampftes Gesicht; und auch das, was er sprach, war von einem bitteren Pessimismus erfüllt. Nun ruht er von allem Entsetzen seines Lebens aus, das freilich von der Liebe einer wundervollen Frau wohl mehr als zur Hälfte aufgewogen war.

Ich war nach dem zweiten Weltkrieg schon mehrmals um Vor­träge in Deutschland gebeten worden, aber ich hatte immer abge­sagt. Einmal fragte mich jemand: „Warum betreten Sie nie mehr deutschen Boden?” Ich sagte: „Weil das kein Boden für meinen Fuß mehr ist!” Und auf die Antwort: „Wir brauchen Sie aber doch so sehr”, sagte ich: „Wenn jemand mich um einen Vortrag vor den Deutschen über ein jüdisches Thema bitten würde, wäre ich zu kommen bereit.”

Und dann vollzog sich das Wunderbare. Vielleicht zehn Tage nach jenem Gespräch saß plötzlich und ganz unvermittelt und ohne Be­ziehung darauf vor mir ein junger deutscher Pfarrer, der mein „Buch Hiob” gelesen hatte, und fragte, ob ich nicht einen Vortrag vor den Heidelberger Studenten über ein jüdisches Thema halten wolle. Ich sagte ohne jedes Bedenken zu, denn er erschien mir als ein Bote.

Nach einigen Wochen befiel mich doch eine gewisse Angst; ich wußte nicht mehr, wer die deutschen Studenten waren, und ich fürchtete auch bei meinem schon schwindenden Augenlicht die damals noch weite Reise durch den besonders kalten Winter. Ich schrieb dem Pfarrer meine Bedenken. Er erwiderte mit einem Brief, in dem ein einziger Satz mich völlig entschied. Es war die Antwort auf meine Bedenken und auf die Frage, ich wisse nicht, was sie dort von meinem Vortrag erwarteten. „Von Ihrem Vor­trag ,Die Hoffnung Israels’ erwarten wir, daß Sie uns sagen, was heute an Hoffnung im jüdischen Volk noch lebt. Darüber hinaus erwarten wir, daß Licht auch auf unseren eigenen Weg fällt, wenn ein Mensch zu uns spricht, der unserem Kulturkreis angehört, ihn aber nicht in den letzten Jahren verunehrt hat.” – Nun begann ich in aller Hast zu arbeiten und verschaffte mir alle nötigen Bü­cher. Ich hatte mir vorgenommen, über die Hoffnung bei Goethe und über die messianische Hoffnung zu sprechen. Als ich dann nach einer durchgearbeiteten Nacht im Begriff war abzureisen, schon das Taxi vor der Tür stand, drehte ich mich noch einmal nach meiner Wirtin um, verfehlte dadurch die oberste Stufe und fiel kopfüber die steinerne Gartentreppe hinunter.

Eine Gehirnerschütterung und ein großes Loch im Kopf sowie eine unheilbare Verletzung des einen Fußes waren die Folgen. Das Wort Unfall war mir die Tage vorher immer im Kopf herumgeschwirrt. Nun zeigte sich, daß es eine Wirklichkeit war. Denn ein Zufall konnte auch dies nicht gewesen sein. Ich wurde ins Spital gebracht und bin fast zwei Jahre lang nicht mehr ge­sund geworden. Wieder war ich dem Tod so nah, daß keine Ge­nesung mehr möglich schien. Nach dem Aufenthalt im Spital ging ich nach Mürren in das wunderbar gelegene Chalet, wo ich schon einmal fast geheilt worden war, und kehrte nach einigen Wochen, noch nicht geheilt, aber doch sehr viel gesünder zurück.

Ich muß aber diesem Geschehen noch etwas hinzufügen, was in meinem Leben eine besondere Rolle gespielt hat. In der Nacht vor meinem Sturz hatte ich eine Arbeitshilfe ganz besonderer und erstaunlicher Art. Es war Rietli Hardmeier aus Thalwil. Ich hatte sie kurz vorher in einer kleinen Gesellschaft kennengelernt, und sie hatte sich mir sogleich als Arbeitshilfe angeboten. Nun, als ich die Arbeit für Heidelberg machte, war sie zum erstenmal bei mir und erkannte besser als ich – mit meinen sich schon verdunkeln­den Augen –, daß die Arbeit nicht richtig abgeschrieben war. Darauf ging sie ohne ein weiteres Wort ans Telefon und sagte: „Ich bin mit meiner Arbeit nicht fertig geworden, ich komme erst morgen früh nach Hause.” Dann hat sie wirklich bis zum Morgen bei mir durchgearbeitet. Auch als später die Verhältnisse sich ver­änderten, ist sie mir immer eine unersetzliche Freundin geblieben,

Nach diesem Sturz habe ich mir oft die Frage vorgelegt: Warum bin ich in meinem Leben so viel gefallen? Was ist die Bedeutung des Fallens überhaupt? Warum ist es, auch wenn es sehr schmerzhaft ist, immer ein wenig lächerlich? Diese letzte Frage ist wohl am leichtesten zu beantworten: weil ja der Stoff der Komik der­selbe wie der der Tragik ist. Wenn ein menschlicher Körper die ihm gegebene aufrechte Haltung verliert und gleichsam zur blo­ßen Sache wird, ist das erschreckend und komisch zugleich. Er gerät in die Lage von etwas, was er seiner Wahrheit nach nicht ist, das Gesetz der Erde überwältigt ihn. Daß dies mit Schmerz und Verwundung verbunden ist, lähmt die Komik des Vorfalls, hebt sie aber nicht auf – auch bei der eigenen Verletzung nicht ganz. Das habe ich immer wieder erfahren. Den äußeren Anlaß meines Sturzes weiß ich in jedem Fall genau, aber warum sind es so viele Anlässe gewesen? Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, daß in dieser merkwürdigen Tatsache doch wohl mein ganzes Verhältnis zur Erde beschlossen liegt. Es war vom Ganzen aus gesehen die Tatsache, daß ich mit meinen Gedanken so oft nicht an demselben Ort gewesen bin, an dem ich mit meinem Körper war, und darum auf die Gefahr dieser Orte nicht achtete. Die ganze Schuld an allen Stürzen trug also mein Verhältnis zur Erde, auf der ich nie ganz beheimatet war. Bei jedem Fall hat sie mich gewaltsam wieder an sich gerissen und mich schmerzhaft fühlen lassen, wie sehr ich trotz allem zu ihr gehöre und daß sie meine lange Zeit verkannte Heimat ist. Aber der Mensch ist ja über­haupt ein Fremdling auf Erden, und dafür erscheint mir mein Fallen als eine Art Symbol.

Doch habe ich mir oft auch eine ganz andere Frage gestellt, die noch schwerer zu beantworten ist. Was ist Gnade? – Ich glaube, es gibt keine Antwort darauf. Als ihr schönstes irdisches Gleichnis ist mir immer der Lindenduft erschienen, der uns ganz unerwartet mit jäher Fülle überströmt. Die wirkliche Gnade kann von irgend­wo über uns kommen. Einmal glaube ich sie in meinem Leben in sehr schlichter Form erfahren zu haben. Es war an dem Sohn der jüngsten Schwester meines Mannes, mit der ich bis heute ver­bunden geblieben bin. Der Junge, der am Anfang seines Lebens mit den Eltern allein geblieben war, war – dies wurde mir bald zur Gewißheit – durch die Geburt eines jüngeren Bruders ver­stört, denn von diesem Tag an begann er zu stottern und war überaus leicht verwundbar. Die Mutter des Knaben, der ich zu einer Psychoanalyse geraten hatte, suchte lange vergeblich den richtigen Arzt für den überzarten Jungen zu finden. Es war ein Verhängnis, daß der erste, dem sie wirklich Vertrauen schenkte, unmittelbar nach dem ersten Besuch starb. Seitdem wagte sie kei­nen neuen Versuch. Eines Tages war ich mit dem scheuen, vier­zehnjährigen Knaben allein. Plötzlich brach er sein immer geüb­tes Schweigen. Er sagte, er könne es nicht mehr ertragen, daß er durch sein Stottern und seine ganze Art unter den Menschen so völlig allein sei, daß ihn niemand liebhaben könne. Ich zögerte einen Augenblick dann entfuhr es mir mehr, als daß ich es sagte:  „Hast du noch nie versucht, wirklich zu beten? Ich meine nicht, wie man gewöhnlich betet, sondern mit deinem ganzen Herzen, deinem ganzen Leben?” Wir verstummten beide. Ich machte mir schon unmittelbar darauf große Vorwürfe, daß ich diesem Kind mit solcher Intensität von etwas gesprochen hatte, was ihm in sei­nem Elternhaus fremd geblieben war, und befürchtete, daß, wenn sein Gebet, wie es mir selbst sehr wahrscheinlich erschien, nicht erhört werden würde, dieses Ausbleiben seinen Zustand noch verschlimmern und ihn völlig verstören würde.

Ich sah ihn jahrelang nicht wieder, denn dazwischen lag die Hit­lerzeit. Am Ende des zweiten Weltkrieges wurde er, der seiner großen Zartheit wegen vom Kriegsdienst befreit worden war, im letzten Augenblick, von dem völlig an seinem Sieg verzweifelnden Hitler dennoch gegen die Russen mitgeschleppt. Sein Vater war inzwischen gestorben. Die Mutter erhielt noch eine Karte von ihrem Sohn. Dann war alles verstummt. Noch lange Jahre wartete sie auf ihn, sie schrieb mir: „Du wirst mich für wahnsinnig hal­ten, ich kann nicht kommen, ich warte noch immer auf Otto-Reinhold.” Als sie nach Jahren dann doch zu mir kam, erzählte sie mir von ihrem Sohn: „Du kannst dir nicht denken, wie gereift und in seinem ganzen Wesen verändert er war und wie ihn alle Menschen liebten.” „Und”, fügte sie dann hinzu, „denke dir, er ist ein wirklich frommer Mensch geworden.” Diese Worte er­schienen mir als eine Gnade, wie sie mir nie sonst im Leben ge­worden ist. Der Knabe war damals längst – und wer weiß, auf wie grausame Weise – aus dem Leben hinweggerafft. Aber er und seine mir teure Mutter sind eine kurze Wegstrecke lang vom Glück gesegnete Menschen gewesen, und das Wort, das ich einst zu dem Knaben sprach, war mir nicht durch einen bloßen Impuls, sondern durch einen derer, die wir Engel nennen, in den Mund gelegt.

Spät noch, als längst das größte Leid und die größte Liebe in mir verklungen waren, bin ich einem mir teuren Menschen begegnet, dem ich ein Wort der Erinnerung widmen möchte. Ich war lange vorher durch meinen Freund Gustav Mayer, den Verfasser der großen Engels-Biographie, an ihn gewiesen worden, hatte, wie stets, die Bekanntschaft von mir aus nicht begonnen, bis wir uns eines Tages in einer größeren Gesellschaft im Hause von Profes­sor Robert Faesi begegneten. Es war der schöne und liebenswerte Robert Oboussier.

Wir sprachen den ganzen Nachmittag allein miteinander. Ich glaube, ich habe ihn damals auf seine Bitte zuerst besucht, weil er mir auf seinem Flügel eine seiner Kompositionen vorspielen wollte. Wie seit je habe ich damals tief beklagt, nicht mit der ur­sprünglichen Gabe der Musikalität begnadet zu sein.

Mein Verhältnis zur Musik ist schwer zu beschreiben. Sie erscheint mir als die höchste, weil reinste der Künste, und es packt mich zuweilen ein Letztes aus ihr, und doch weiß ich, daß ich sie nicht wahrhaft, nicht in ihrem Aufbau verstehe. Nur, wie wenn zu­weilen ein mächtiger Vogel sich aus dunklem Laubwerk auf­schwänge und ich etwas sonst nie Vernehmbares hörte, oder auch wie wenn ein Licht aus einer anderen Welt mich träfe und etwas nicht Verstehbares ahnen ließe. Und dann weiß ich, daß ich mehr als einmal einen Menschen plötzlich liebgewonnen habe, wenn ich ihn von einer Melodie oder Fuge tief ergriffen fühlte. Ich selbst brauchte diese Musik nicht zu hören, habe sie nur in seltenen Fäl­len gehört, aber durch die jähe Ergriffenheit eines anderen stieg mehr als Sehnsucht, stieg Liebe in mir auf, wie man sie nur einem Fremden und doch innig Nahen gegenüber empfindet. Das ist das tief verborgene Geschenk der Musik, das mir immer wieder zu eigen wird.

Nicht lange nach meinem Besuch bei Oboussier, im Herbst 1953, erkrankte ich wieder schwer und wurde in ein Spital gebracht, in dem er mich öfters besuchte; in das Sanatorium, in das ich von dort aus gebracht wurde, kam er dann ganz regelmäßig, um mir – da ich damals nicht mehr lesen konnte – vorzulesen; es sei, sagte er, nur zwei Haltestellen von seiner Wohnung entfernt. Aber als ich dann wieder in meine am anderen Ende der Stadt gelegene Wohnung zurückgekehrt war, gab er seine regelmäßigen Besuche trotz seiner Überlastung nicht auf.

Es wurde eine wunderbare Beziehung, die ebensosehr auf seiner Musik wie auf seiner großen Hilfsbereitschaft beruhte. Mit mei­ner wachsenden Gesundheit lernte ich immer mehr von seinen Werken kennen und verehren.

Einmal sagte ich ihm, es sei schön und schwer, wenn ein teurer Freund heirate, aber für ihn wünschte ich es mir. Er antwortete: „Das werden Sie an mir nie erleben!” Ich fragte nicht weiter nach dem Grund, es beschlich mich auch kein unheimliches Gefühl ­und erst viel später hat er mir das dunkle Geheimnis, die Tragik seines Lebens enthüllt. Ich habe darauf wohl nur geschwiegen ­was hätte ich auch erwidern können? Die ganze Schwere dieses Schicksals war mir damals noch nicht aufgegangen.

Einmal, als im Kunsthaus eine Van-Gogh-Ausstellung war, von der er wußte, wie sehr ich sie zu sehen wünschte, kam er eines Tages, um mir zu sagen, er habe eine genaue Auswahl unter den Bildern getroffen, die ich vielleicht noch sehen könne und die zugleich zu den schönsten gehörten. Am Tage darauf holte er mich ab, ver­anlaßte, daß ich in dem sonst nur für die Beförderung von Kunstwerken bestimmten Lift hinauffahren durfte, und hatte einen kleinen Feldstuhl mitgebracht, so daß ich nahe vor jedem der ausgesuchten Bilder eine Zeitlang ruhig sitzen konnte. Wer sonst hätte an einen solchen wunderbar geordneten Besuch ge­dacht? – Und als ich fast zur selben Zeit, im Mai 1957, auf die dringende Bitte meiner Kinder den Entschluß faßte, noch einmal zu ihnen nach London zu fahren, war wieder er es, der mir alle Lasten dieser Reise abnahm, die Karte besorgte, die Zeit be­stimmte und schließlich für sich die Erlaubnis erwirkte, mich bis unmittelbar an das Flugzeug begleiten zu dürfen.

Es war für Oboussier eine große Freude, als seine nächsten Freunde, die während der Hitlerzeit in Holland untergetaucht waren, plötzlich befreit wurden. Und der Freude über diese Ret­tung galten auch seine wunderbar jubelnden Psalmen, die zwei Tage vor seinem jähen Tod hier in der Tonhalle eine Begeisterung erregten, die wohl der Gipfel seines Lebens war.

Am folgenden Pfingstsonntag kam morgens mein Neffe, der auch mit Oboussier befreundet war, zu mir und sagte: „Ich muß dir etwas Furchtbares sagen: Oboussier ist tot.” Ich schrie auf, ich konnte es nicht begreifen. Und das noch Furchtbarere kam hinzu: „Er ist ermordet worden.”

Geliebter Freund, Freund derer, die er mit seiner Freundschaft beglückte und auch verstrickte, ein Schicksal, das ihn schuldlos schuldig werden ließ, hatte mit diesem grausamen Tod ein Ende gefunden.

Das Begräbnis fand in der überfüllten Kirche Enge statt. Ein Meer riesiger Kränze, wie ich es nie erlebt habe, erfüllte mit Lorbeer­ und Blumenduft den großen Raum. Die Musikerfreunde aus der welschen Schweiz waren gekommen, ihren Freund zu ehren. Zum Schluß wurde eine Fuge von Bach und ein Teil aus Oboussiers „Antigone” gespielt, und Musikkenner sagten mir, das Stück Oboussiers habe hinter dem Bachs nicht zurückgestanden.

Aber nur ein einziger seiner Freunde, Max Rychner, wagte in der Presse mit kurzen, kraftvollen Worten für den Verstorbenen ein­zutreten und an seine Bedeutung als Freund seiner Freunde zu erinnern. Denn Oboussier war ein wirklicher Freund, so, wie er mir für Stunden die Augen ersetzte, hat er jedem wahren Freund, soweit er es vermochte, das ihm Nötige geschenkt.

Ich weiß den Zeitpunkt nicht mehr genau, an dem ich den sel­tenen Menschen Felix Stössinger kennenlernte, ich vermute, daß es durch eine Besprechung geschah – vielleicht durch eine meiner Besprechungen über Wolfskehl oder auch durch eine seiner voll­endeten Besprechungen über eines meiner eigenen Bücher, die er in der damals blühenden, von Max Rychner geleiteten „Schweizer Rundschau” veröffentlichte. Ich vermute, daß diese schöne und so wichtige Zeitschrift dadurch eingegangen ist, daß nach dem Tode von Felix Stössinger kein Mensch mehr gefunden wurde, der alle in der Schweiz und in Deutschland erscheinenden Bücher mit so seltener Vollendung besprach. Ich freute mich über jeden seiner Besuche, da nur wenige Menschen so viel und so Wesentliches zu sagen hatten. Seine reizende junge Frau, die ihn oft, aber immer schweigsam, begleitete, habe ich erst später wirk­lich kennengelernt, und zwar war das eine seltsame Begegnung am Tage nach seinem plötzlichen Tode. Sie rief mich an und er­zählte mir dann eine ganze Stunde von ihrem Mann. Er muß auch ein wundervoller Gatte gewesen sein.

Noch nicht ganz wiederhergestellt, hatte ich nach einem Vortrag von Paul Tillich gegen meine Gewohnheit mit einigen Worten in die verfahrene Diskussion eingegriffen. Ich selbst bereute so­fort meine Worte, aber am nächsten Tag meldeten sich daraufhin einige ganz verschiedene junge Leute bei mir und fragten, ob sie mich besuchen dürften. So hatte ich, eben genesen, einen Kreis junger Menschen um mich, die mir jeder etwas Besonderes brachten und von denen jeder inzwischen etwas Beachtliches geleistet hat. Ich habe auch noch die Anfangskämpfe jedes einzelnen mit­erlebt. Sie waren von sehr verschiedener Art. Am tiefsten wohl war ich anfangs mit Walter Robert Corti befreundet, einem Men­schen, dem alle guten Gaben in die Wiege gelegt waren: Schön­heit, ungewöhnliche Intelligenz, Reichtum, und der schon damals ein Kind des Glücks gewesen wäre, wenn ihn nicht während des Medizinstudiums eine schwere Tuberkulose befallen hätte. Doch er hat später, völlig geheilt, als Schriftsteller Bedeutung erlangt und wurde berühmt vor allem durch die Gründung des Kinder­dorfes Pestalozzi und die Planung einer Akademie nach dem Vor­bild Platons.

Zu meinem damaligen Leben gehört auch Ilse Blumenthal-Weiss. Sie kam als Unbekannte zu mir und wollte ein Buch über meine „Frauen der Romantik” schreiben – es wurde aber nichts daraus, und ich begriff das völlig, weil damals ihre ganze Sphäre das Le­ben, nicht das Schreiben war. Sie war schön und anmutig und lebte ein Leben, das ganz der Zeit nach dem ersten Weltkrieg entsprach. Aber nie habe ich eine so eigentümliche Entwicklung erlebt: das jüdische Schicksal traf sie übermäßig hart. Ihr Mann ebenso wie ihr Sohn wurden ihr in grauenhafter Weise entrissen. Kurz dar­auf begann sie, um diesem Leid ein Positives entgegenzusetzen, ein intensives Studium der Werke Rilkes. Beides steigerte ihre Kraft so sehr, daß sie zu einer wirklichen Dichterin wurde, die die Tiefe und Schwere ihrer Erlebnisse wunderbar zu gestalten wußte.

Ein ganz anderes, aber zunächst auch schweres Schicksal hat der etwa zur gleichen Zeit in mein Leben getretene Hermann Levin Goldschmidt gehabt, mit dem mich auch bald eine nahe Freund­schaft verband. Er studierte hier an der Universität und gewann sogleich zwei entscheidende Preise, und zwar für Arbeiten über rein schweizerische Themen. Und doch hatte er es schwer, sich in der Emigration zurechtzufinden. Ich besprach damals seine mir auch heute noch als grundlegend erscheinende Schrift über den Nihilismus. Später hat sich Goldschmidt vorwiegend jüdischen Problemen zugewandt und sie in einer großen Anzahl von Vor­trägen und Büchern erörtert.

Das schwerste Schicksal hatte Michael Landmann, der – noch sehr jung – durch einen meiner Aufsätze über Bergson zu mir ge­kommen war. Er hatte in seiner Vaterstadt Basel, in der er als Sohn eines Universitätsprofessors geboren und aufgewachsen war, unfaßliche Schwierigkeiten zu bekämpfen. Aber durch seine stäh­lerne Willenskraft, die sich auch in seinen stahlblauen Augen spiegelt, vermochte er alle Widerstände zu überwinden. Er wurde sehr bald Ordinarius in Berlin und schrieb viele bedeutende, meist um anthropologische Fragen kreisende Bücher. Daneben gab er mit großer Hingabe und Pietät mehrere Bücher Verstorbener heraus, vor allem den ergreifenden „Dank an Simmel”, ferner mit mir zusammen die gesammelten Aufsätze von Simmel unter dem Titel „Brücke und Tür” und später das von Gertrud Kanto­rowicz hinterlassene schöne Buch „Vom Wesen der griechischen Kunst”. Es ist mir stets wie ein Wunder erschienen, wie dieser vom Schicksal immer wieder erfaßte und umgetriebene Mensch eine solche nie aussetzende Leistung vollbringen konnte. Ich habe viele seiner oft schweren Erfahrungen miterlebt und dadurch auch selbst viel zum Verständnis des heutigen Lebens gelernt. Jugend ist bis zum heutigen Tage immer um mich gewesen; so wie mir nie die Blumen fehlten, hat auch die Freundschaft junger Men­schen mir nie gefehlt.

Ein anderer bedeutender Mensch, der Philosoph und Schüler Husserls, Fritz Kaufmann, ist mir nur einmal im Leben, und zwar kurz vor seinem jähen Tod, begegnet. Er erschien mir schon durch sein Äußeres wie ein Engel, und auch alle, die ihn sahen, waren von seiner Erscheinung überwältigt. Nach einem langen, sehr schönen Gespräch fragte er mich, ob er das nächste Mal auch seine Frau mitbringen dürfe, und ich ahnte nicht, daß er mir diese Frau als ein köstliches Vermächtnis hinterlassen würde, daß sie mir sehr bald nach seinem Tode zu einer der gütigsten und hilfreichsten Freundinnen werden sollte, die sich während meiner langen Krank­heit und bei meinem immer mehr schwindenden Augenlicht mei­ner angenommen hat.

Auch Jakob Taubes will ich nicht vergessen, den ich schon in sei­ner frühesten Jugend, fast noch als Kind, kennenlernte, als er noch ein streng orthodoxer, tiefgläubiger, von keinem Zweifel berührter Jude war, der mit seiner großen Intelligenz fast die Kraft hatte, weit ältere Menschen in seine Überzeugung hinein­zuführen. Dann kam das Studium, und nun wurde er mit Gewalt in die europäische, in die deutsche Kultur hineingerissen. Ich habe seine Zweifel und Kämpfe und sein Ringen mit den neuen Wahr­heiten miterlebt, ich habe gesehen, wie dieser Mensch sich schwer und langsam von seinen Urgewißheiten losriß und der Wahrheit des Denkens vor der des Glaubens den Vorrang gab.

Es ist mir auch das Glück geworden, ganz junge deutsche Freunde zu gewinnen: Achim von Borries, der durch seine reine Ge­sinnung wie durch seine wache Intelligenz meinem Leben viel bedeutet hat. Ich verstand, daß er, der in der Hitlerjugend auf­gewachsen war und das Ganze des deutschen Schicksals und des Schicksals der Welt durchschaute, sich schließlich um seiner deut­schen Heimat willen vorwiegend den politischen Fragen widmete, obgleich es mir um seiner reichen geistigen Gaben willen auch wieder als eine Beschränkung erschien. Daneben, ganz zuletzt, ist mir Manfred Schlösser mit der gleichen suchenden, aber unpoliti­schen Gesinnung begegnet, der in Darmstadt die große huma­nistische Schriftenreihe „Agora” herausgibt und darin den wunder­baren Gedichtband „An den Wind geschrieben”, Gedichte aus der Zeit von 1933 bis 1945, also durchweg von Menschen, die die äußere Schwere und den inneren Glanz einer tiefbedrohten Menschheit wiedergeben. Diese Gedichte sind mit Liebe und Ver­ständnis zusammengetragen. Schlösser hat nicht nur durch seine größeren Möglichkeiten, sondern auch dadurch, daß er der jüng­sten Generation angehört, vieles vor mir voraus. Was für mich wirr gelebte Gegenwart war, ist für ihn rein geschaute Ver­gangenheit. Der einstige deutsche Idealismus lebt in diesem Men­schen nicht mehr, er ist abgelöst von einem klaren Weltverständnis und von einem lebendigen, diesem Verständnis entsprechenden Tun.

Und als letzter der neuen Generation ist mir noch ein äußerst ungewöhnlicher Mensch begegnet: der große Dichter Paul Celan, von dem ich durch das Buch von Schlösser das eine gewaltige Gedicht „Todesfuge” und das wunderbare an seine junge Mutter kennengelernt hatte. Im erschrak fast, als mir plötzlich ein Brief mit seiner Unterschrift vorgelesen wurde, in dem er sich bei mir ankündigte. Dem Brief waren einige seiner Gedichtbände und jene Rede beigelegt, die er zur Verleihung des Büchnerpreises gehalten hatte. Er hatte nur wenige Prosaarbeiten von mir gelesen. Mir brannten seine Gedichte im Herzen, obwohl ich seine Sprache zunächst nur mit großer Mühe verstand. Sein Besuch war dann eines der Erlebnisse, die mir ganz neu das Wesen der heutigen Generation erschlossen. Abstrakte Kunst ist seine Dichtung kei­neswegs, wohl aber eine gegenüber der früheren völlig ge­wandelte, die einer total veränderten Wirklichkeit entstammt. Nicht in dem Sinne der Forderung Hemingways, der nach dem Grauen des ersten Weltkriegs sagte, daß nur noch Eigennamen und Straßennamen mit Wahrheit ausgesprochen werden dürfen, sondern in dem noch unheimlicheren Sinne, daß gerade die ent­scheidenden Worte, wie Leben und Tod, Stein, Auge und Träne, bei ihm eine neue Bedeutung gewonnen haben.

Diese heute lebenden jungen Dichter haben mir meine einstige Heimat, die ich nie mehr betreten habe, doch um ein Stück näher­gebracht.

Neben diesen deutschsprachigen Dichtern lernte ich im letzten Jahr auch noch einen jungen Israeli kennen: Elazar Benyoetz aus Tel-Aviv; ein seltener Mensch voll Jugend und Leben, voll blü­henden Wissens und geistiger Tiefe, von dem man nicht weiß, ob er fröhlich oder traurig, ob er mehr Geist oder Leben ist. Beides ist gleich mächtig in ihm, der Himmel ist ihm so nah wie die Erde, und alle Farben wie alle Gehalte haben in seinem Leben Raum. So ist er ein wahrer Dichter, dem sich alles Leben in Verse drängt. Ich kann seine hebräischen Gedichte leider nur in deut­scher Übersetzung lesen. Sie sind der modernen deutschen Dich­tung ähnlich, aber es ist doch, und nicht nur sprachlich, ein an­derer Klang darin.

Dieser junge Mensch hat mir dann hinter meinem Rücken eine wirkliche Freude bereitet, indem er den bedeutenden Privat­gelehrten Jonas Fränkel aufsuchte und, da er ihn nicht zu Hause fand, ihm die Botschaft, mein Enkel zu sein, hinterließ. Darauf erhielt ich von Jonas Fränkel, nachdem ich ihn über den „Irrtum” aufgeklärt hatte, seinen wundervollen und höchst genauen Kom­mentar zum Briefwechsel zwischen Goethe und Charlotte von Stein, aus dem ich neben manchem anderen lernen konnte, was höchste exakte Philologie bedeutet. Diesen Menschen nicht per­sönlich gekannt zu haben, gehört zu den Unrechtzeitigkeiten mei­nes Lebens.

Ich möchte von den zahlreichen Krankheiten der letzten Jahre hier nicht sprechen, wohl aber von dem Arzt, der mich immer wieder ins Leben zurückgeführt hat: Professor Manes Kartagener. Von ihm wäre viel, sehr viel zu sagen. Daß er aus einem chassi­dischen Geschlecht stammt, ist in seinem Wesen spürbar. Arzt sein – das ist wohl heute der notwendigste, jedoch auch der schwerste aller Berufe, der in einer vielfach gewandelten Welt unerhörte Forderungen an die Menschenkunde und den Heilungs­willen stellt. Ein Mensch, der diese Forderungen mit der ganzen Kraft seines Wesens erfüllt, mag die höchsten Freuden und die größten Schmerzen immer neu erleben. Einen solchen Menschen, der dazu noch reiche andere Gaben hat – das Verständnis für Musik und für das, was heute in neuer Weise die ganze Welt er­füllt: die Sprache – und der alldem Ausdruck zu verleihen ver­mag, zum Arzt und fast zum Freund zu haben, ist sicher ein Glück das nur selten erfahren wird.

Wie vieles, das für mein Leben Bedeutung gewonnen hat, wäre noch hinzuzufügen! Es sei noch der Toten erinnert, die in der letzten Zeit gestorben sind:

Zunächst die Tochter meiner lieben Freundin, von der ich schon gesprochen habe, die liebliche junge Ärztin Ursula Hühnerwadel, die einen heroischen Tod gestorben ist. Kurz vorher die geliebte Lore, mit der ich so viele Stunden erlebt und gearbeitet habe. Und zutiefst traf mich der Abschied von Ernst Gaugler, der durch den Tod von einer langen und schweren Krankheit erlöst worden ist. – Zu meinen langjährigen Freunden gehörte auch der Arzt Dr. Walter Moos, dessen Wesen und Bildnis mich bis heute begleiten. Ich lernte ihn als Vorsitzenden einer jüdischen Vereinigung kennen, und er ist mir einesteils durch seine große Güte und Hilfsbereitschaft, andernteils durch seine großartigen Übersetzungen von Gedichten der Luise Labé sehr nahegekom­men. Vor wenigen Wochen ist auch mein lieber Freund Dr. Rein­hard Ruh von mir gegangen. Er war als tiefgebeugter Vater zu mir gekommen, dessen einziger Sohn an einer Kinderlähmung in der Eisernen Lunge unter den Klängen Bachscher Musik ge­storben war. Er selbst war ein vielbeschäftigter Arzt, der aber seine Freizeit oft für mich hingab. Er gehörte zu den unvergeß­lichen Gestalten meines Lebens.

Es ist mir unmöglich, die Namen aller derer zu nennen, die mir in meiner Leidenszeit und bei meiner Arbeit zur Seite gestanden haben. Aber daß es mir so schwer geworden ist, an das Böse zu glauben, liegt sicher vor allem an dem vielen Guten, das ich von Menschen erfahren habe.

 

 

DER LEBENSABEND

 

 

So ist es inzwischen Abend geworden. Der Lebensabend – er gleicht dem Abend, der sich auf eine Landschaft niedersenkt, nur daß er voller letzter Fragen ist, wie sie der Abend in der Natur nicht kennt. Es ist jene eigentümliche Zeit, in der schon die Dinge für unser Auge aus ihren wirren Verflechtungen sich lösen und das Leben durchsichtig wird für sein Gesetz: das Gesetz des Lebens und Sterbens.

Es beginnt zu dunkeln, der Tag geht zur Neige in einem glühend verdämmernden Rot. Das Wort Goethes: „Und will sich das Licht dem Trübsten entwinden, so wird es glühend rot entzünden” erweist sich auch menschlich gesehen als wahr: es ist Wahrheit des Alters nach einem vielfach getrübten Leben, das doch auch immer von einer fernen Sonne durchleuchtet war. Nun kommen die Fragen, die vielen Fragen. Es stellt sich vor allem und wieder anders als in der Jugend das unauflösbare Rätsel der Zeit, das für die Menschen unseres Jahrhunderts zu einem ganz neuen ge­worden ist.

Aber überhaupt ist ja im Alter die Zeit eine andere als in der Jugend. Die Maske, die sie für uns immer trägt, ist im Alter ein wenig beiseite gerückt, so daß wir die Macht, die sie in Wahrheit ist, besser erkennen. Einst gab es das Sprichwort: „Zeit bringt Rosen” und sogar das Wort Schillers: „Die Zeit ist eine blühende Flur”. Aber wir haben sie anders erfahren, denn für uns wurde die Maske nicht nur gelüftet, sondern gewaltsam heruntergeris­sen, und damit enthüllte sich uns die Zeit als Vergänglichkeit und Tod. Und dies ist ja nicht nur eine geschichtliche, sondern auch eine persönliche Erfahrung: daß der Tod einem im Alter näher gerückt und daß man zugleich weit tiefer als in der Jugend mit dem Leben verbunden ist. Auch ist alles, was mit dem Tod zusammenhängt, in unserer heutigen Welt weit deutlicher ge­worden und belastet auch noch die kommende Generation. Sie hat zwar das Grauen, durch das wir gegangen sind, nicht mit­erlebt, aber sie hat eine durch dieses Grauen tief gewandelte Welt vorgefunden, die sie nun ganz anders als wir zu verarbeiten hat. – Schon ist durch diesen Versuch nach dem Zerfall der alten eine ganz neue Sprache und damit auch eine neue Menschenge­stalt im Werden, die freilich den Untergang und das Nichts tief in sich trägt.

Dieses Nichts, von vielen bedeutenden Geistern der Jahrhundert­wende – am klarsten von Nietzsche – vorausverkündet, ist durch die beiden Weltkriege und durch die ungeheuren Erfindungen unserer Zeit zu einer furchtbaren Wirklichkeit geworden. Und auch die ganz andere Wahrheit Nietzsches: „Langsam, furchtbar, unausweichlich naht der Tag heran, wo das Ganze der Welt ver­waltet werden muß”, ist jetzt durch die vollkommene Wandlung unserer Welt bestätigt worden. Denn dieser Tag ist heute gekom­men, wo sich die fernsten Völker der Welt zu Freiheit und Selb­ständigkeit erheben, und er ist furchtbar, weil er zeigt, daß die Menschheit dieser Verwaltung des Ganzen nicht gewachsen ist.

Und auch dies geht doch mein ganzes Leben an. Es ist ein ande­res geworden: nicht mehr Deutschland, nicht Europa, meine Hei­mat ist die Welt. Die Kultur, in der ich aufgewachsen bin, liegt wie eine ferne kleine Insel hinter mir.

Im Alltag meines Lebensabends ist es mir zur Gewißheit gewor­den, daß es zwei Arten von Alter gibt. Als werdendes Alter war es schwer und drückend, und mehr als einmal träumte ich, daß mir statt meiner dunklen Locken grauweiße über die Schultern fielen, und ich erwachte mit einem törichten Freudengefühl, daß sie immer noch dunkel waren. – Jetzt träume ich zuweilen, ich hätte meine dunklen Haare wieder und die weißen wären nur ein Traum gewesen. So entwirklicht der Traum die Macht der Zeit.

Aber auch in der Wirklichkeit scheine ich mir beides: alt und jung zugleich. Ich vergesse mein Alter über meiner Jugend und muß an das Alter fast immer erst von außen her erinnert werden. Ich bin freilich sehr spät grau geworden. Das Schicksal hat mir Zeit gelassen, denn als das Alter dann wirklich kam, war es mir fast schon vertraut geworden. Es war mir ein unabweisbarer Ge­fährte, der manche meiner Probleme löste, freilich manche auch neu und anders stellte.

Ich empfand schließlich eine stille Beglückung darüber, daß noch so viel Schönes in meinem Alter ist. Blumen und Freunde und doch auch Gedanken, die mir noch spät ein Stück dieses rätsel­vollen Lebens erhellen. Dunkel sind Himmel und Erde gewor­den und beängstigend die Gestalt des Menschen; das Vertrauen zu Gott und Mensch scheint aus unserer Welt geschwunden. Im Zeichen dieses Mangels an Vertrauen steht fast jede menschliche Beziehung, die ich in den letzten zwei Jahrzehnten erlebt und durchlitten habe. Auch meine versagenden Augen haben dazu beigetragen, denn die Gesichter, die mir einst so viel vom Menschen sagten, verwischen und verlieren sich vor mir. Und ich sehe die Bilder aus früheren Stunden und denke, wie schwer, oft kaum erträglich, in manchen Zeiten das Leben war. An jeder Liebe, von der frühesten bis zur letzten, hing wie ein dunkler Falter das Schicksal und sog ihr die letzte Süße aus. Gewiß, es gab schöne Augenblicke, schöne Stunden, ja, schöne Wochen ­aber so reich und so schön das Leben war, den rechten Schlüssel dazu habe ich nie gefunden, und ich glaube, daß dieser Schlüssel überhaupt unendlich schwer zu finden ist. Dies hat in der großen Kunst unserer Zeit am bestürzendsten Kafka ausgesprochen; bei ihm sind alle Tore zum Lebcn verschlossen, und der Mensch, der ohne Schlüssel ist, steht in der Unmöglichkeit, sie aufzuschließen. Der einzige wahrhaftige Schlüssel ist – soweit ich es überblicken kann – die Geduld, und sie ist wohl das Seltenste auf Erden. Und doch ist selbst dieser Schlüssel nicht völlig verloren, denn jene große, geduldige Liebe, die nimmer aufhört, ist auch im Alter noch geblieben und erleuchtet mir immer neu das Leben, das einerseits vom geschichtlichen Geschehen, andererseits von mei­nem schwindenden Augenlicht, dieser häufigen Erscheinung des Lebensabends, verdunkelt wird. Das einzig Wohltätige in dem dunklen Schwirren, das dauernd vor meinen Augen ist, ist jetzt für mich, die Lider zu schließen, und vielleicht ist dies ein Hinweis auf die Unrast und bunte Vielfalt der Jugend und die verschlos­sene Stille des Alters. Es ist fast dasselbe, was Conrad Ferdinand Meyer in seinem späten Gedicht an den Wald ausspricht, dem er in seiner Jugend all seine Freuden und Schmerzen in reichster Fülle anvertraut hat und zu dem er gegen das Ende seines Lebens sagt:

 

„Und wieder such ich dich, du dunkler Hort,

Und deines Wipfelmeers gewaltig Rauschen­–

Jetzt rede du! Ich lasse dir das Wort!

Verstummt ist Klag’ und Jubel. Ich will lauschen.“

 

Die Lider schließen, verstummen und lauschen – das scheint mir das Grunderlebnis des Alters. Das Lauschen in das dunkelnde Le­ben. Wie viele Stimmen werden da laut, die man am Tage nicht vernommen hat! Durch diese Stimmen glaubte ich lange, nicht in Ruhe sterben zu können, weil so vieles in mir Angelegte in mei­nem Leben sich nicht verwirklicht hat. Nun bin ich, was mich selber angeht, langsam geduldig und ruhig geworden. Die Gabe des Alters ist ja die Ruhe – und was alles ist in diesem Wort ent­halten! Ja, in dieser Ruhe liegt gewiß auch noch eine Hoffnung, aber nicht mehr für das eigene Leben, sondern eine, die sehr viel weiter reicht: die Hoffnung auf ein der bloßen Natur enthobenes Recht des Friedens, wie es die Propheten des Alten Testamentes und heute wieder einige große Denker verkünden.

Die Sprache des Alters ist das Schweigen. Vieles, was ich einst ausgesprochen hätte, sag ich heute schon lange nicht mehr. Denn mir ist die Gewißheit geworden, daß nur das, was aus einem letzten Grund unbedingt gesagt werden muß, wirklich ausge­sprochen werden soll, damit wir das Leben nicht wie nach dem Bibelwort „wie ein Geschwätz” verbringen. Es ist – die ganze Tiefe der Distanz inbegriffen – vielleicht ein nicht ganz unähn­liches, das Letzte des Lebens verbergendes Schweigen, wie Goethe es lange vor dem Alter im Erkennen der Mächte der Tiefe geübt hat.

Etwas vom Allerschwersten des Alters ist das Gefühl der Ab­hängigkeit. Alle großen Alterstragödien: König Lear, Père Goriot vor allem, tragen dies als dunklen Stempel eines Lebens, das zu seinem größeren Teil schon abgelaufen ist. Daß es im König Lear der Narr ist, mit dem der König einsam über die Heide irrt, daß die letzte Lebensweisheit diesem Narren in den Mund gelegt wird, ist ein Zeichen für die verlorene Freiheit, die fast immer in irgend­einer Weise dem Alter widerfährt. „Und der Regen, er regnet jeglichen Tag” bezeichnet die Eintönigkeit des Alters, dem die volle Klarheit des Lebens entglitten ist.

Zu den Fragen, die ich mir oft – auch schon vor dem Alter ­gestellt habe, gehört auch die, wie Menschen, die sterben müssen, lächeln oder sogar lachen können, und das Wort aus den Salomo zugeschriebenen Sprüchen: „Ich sagte zum Lachen: ,Bist du toll!’” ist mir angesichts der Struktur und der Geschehnisse unseres Lebens immer als zutreffend erschienen. Jetzt aber, wo der Le­bensabend hereinbricht, scheint mir das Lachen nicht mehr eine Tollheit, sondern eine wunderhafte Mitgift an unser dunkles Erdendasein.

Zum Alter gehört auch das Alleinsein. Man ist im Alter sehr oft und für lange allein. Was ist aber im Grunde das Alleinsein? Es ist doch in Wahrheit nur ein Prüfstein auf das, was wir im Grunde sind. Nur in der Einsamkeit erschließt sich das wahrhaft Eigentliche unseres Lebens, denn nun gibt es nur das Reden mit sich selbst oder mit einer menschenfernen Macht, in dem keinAusweichen möglich ist. Darum ist das Alleinsein nur für den seelisch und körperlich Leidenden schwer; für den, der nur halb­wegs seine Kräfte behält und zum Nachdenken oder sogar zum Schöpferischen fähig ist, ist es ein Geschenk des Lebens, weil es den Hauptkräften Ruhe läßt.

Es gibt noch eine andere Erscheinung, die wesentlich dem Alter zugehört; zwar kommt sie durch Schicksalsschläge zuweilen schon früher im Leben vor, aber ihr eigentlicher Ort ist doch das Alter, in dem man sich Rechenschaft über das Ganze seines Lebens gibt. Es ist ein dunkler Gast, der da zu uns hereintritt: die Schwermut. Sie ist etwas grundsätzlich anderes als auch das tiefste Leid und die tiefste Trauer. Im Leid, in der Trauer ist niemals jenes „böse Geisten von Gott”, wie in der Bibel die Schwermut Sauls bezeichnet wird. Die Schwermut ist ein äußerster Gegensatz zur Wehmut: die Wehmut zeigt an, daß im Rückblick, ein Schweres des Lebens bezwungen, daß es milde und leise geworden ist. Die Schwermut zeigt an, daß ein Unüberwundenes im Leben zurück­geblieben ist. Darum ist in der Schwermut immer auch ein Ge­fühl der Schuld. Schuld, in dem besonderen Sinn, daß das Leben nicht so gelebt und geleistet worden ist, wie es uns aufgegeben war. Von der Schwermut heißt es im Chassidismus: „Die Schechina wohnt nicht in der Schwermut.” Ja, die Schwermut, die das Herz gegen die Welt verschließt, wird hier, wo das Herz in Freude der Schöpfung geöffnet sein soll, als die schwerste Sünde verworfen. Und hier ist es, wo sich Schuld und Leid in einer solchen Tiefe verknüpfen, daß wir sie nicht zu entwirren ver­mögen.

Ein anderes Schmerzliches des Lebensabends ist, daß fast alle geliebten Menschen uns schon vorangegangen sind. Aber ich bin immer mehr dahin gekommen, das Leben in Generationen zu sehen, die einander in einem bestimmten Rhythmus ablösen. Dies ist mir für das Ganze des Lebens ein Trost geworden. Freilich: der Schmerz um die einzelnen bleibt bestehen, weil wir mit jedem durch ein besonderes Band verbunden waren.

Unsere Toten – sie sind ja kaum anders als durch einen Vorhang von uns, den selbst Sterbenden, getrennt. Dennoch sind sie uns – anders als auch die in weitester Ferne Lebenden – unerreich­bar. Ich träume zuweilen von meinen geliebten Toten – sie woh­nen dann in derselben Stadt, nur immer auf der anderen Seite, und immer wenn wir uns sehen wollen, kommt irgendein Ereig­nis dazwischen, und sie sind da und doch nicht da. Der Vorhang zwischen ihnen und uns ist ganz dünn, fast transparent, so daß ihre lebendigen Gestalten durch ihn hindurchschimmern – er ist aber völlig unzerreißbar. Dies, daß sie für mich sind und doch nicht sind, ist mir das Unbegreiflichste am Tode.

Was ist denn überhaupt das Leben, das winzig kleine, so rasch verrinnende und doch so unendlich weite Leben? Es ist nach dem Wort eines wahrhaft Wissenden, des großen Gelehrten Teilhard de Chardin, „das schwere, nur dem Menschen bekannte Angst­gefühl eines Bewußtseins, das in einem dunklen Universum zum Denken erwacht”.

Daraus erhebt sich nun die Frage: Dies Denken, das sich sonst nirgends im Universum ereignet, wie kommt es in das winzige sterbliche Menschenleben?

Die Gewalt des Denkens über Leben und Tod habe ich in beson­derer Weise an vier bedeutenden deutschen Denkern der eben vergangenen Generation erlebt, die nicht, wie die einstigen, durch das Gebet oder auch nur durch den Versuch des Betens, sondern eben durch das aus der Tiefe des Universums geschöpfte Denken den Tod zu bezwingen vermochten: einmal Freud, dem „das schmerzliche Rätsel des Todes” als Widerstand gegen alles Leben in dessen innerstem Mittelpunkt steht. In anderer Weise Rilke, der seine äußerste Forderung „O Herr, gib jedem seinen eigenen Tod!” selbst erfüllt hat, indem er seinem eigenen Sterben bis zu­letzt wachend zuzusehen begehrte. Oder wie in wieder anderer Weise Simmel, der wußte, daß nichts in unserem Leben so wäre, wie es ist, wenn wir nicht von Geburt an Sterbende wären, wenn nicht der Tod unser ganzes Leben prägte, und der mir als Letztes vor seinem Tode schrieb: „Ich gebe gern mein Sterbliches an den Kosmos zurück.” – Oder wie in wieder anderer Weise Scheler, dessen fast verklärtes Antlitz ich wenige Tage vor seinem Tode sah und der nach einem wilden, stürmischen Leben in sokratischer Weise sagte: „Sterben kann ich – das hat mich mein Denken gelehrt.”

Aber für den einzelnen heutigen Menschen hat sich das Sterben nicht allein durch das Denken, sondern auch durch den Massentod, den wir erlebt haben, verändert. Der Glaube an die religiös geprägte Sterbestunde mit ihren großen und furchtbaren Wahrheiten, mit ihrem Himmel und ihrer Hölle, aber auch mit ihrer Erlösungskraft war schon in der Welt, die in die beiden Kriege hineingeführt hat, versunken. Der Tod war vom Übermaß des Tageslebens gleichsam abgesogen worden. Wo war nun noch eine Unsterblichkeit oder gar ein Wiederauferstehen des Lebens zu finden? Hier liegt wohl die einzige Antwort darin, daß das, was jenseits unseres Bewußtseins liegt, mit unseren Gedanken nicht zu fassen und mit unseren Worten nicht auszudrücken ist. Und doch gehört ja der Tod zum Lebensabend, ist er in ihm die treibende Kraft, auch wenn es von ihm kein Wissen gibt.

Aber wie immer unsere Seele nach dem Geheimnis des Todes forscht, zu unseren allerletzten Fragen gehört in allen ihren Formen die hier gestellte nach dem Lebensabend. Und doch weiß ich unter den vielen Menschen, die sich in der furchtbarsten Schicksalsstunde unseres Jahrhunderts das Leben genommen haben, nur von einem einzigen, einem bedeutenden Gelehrten, der bei seinem Abschied vom Leben noch einen Blick gerade auf das Alter zurückgeworfen hat und noch einmal, am Rande des Lebens entlangschreitend, seinem vertrautesten Freunde schrieb: „Gut ist es, nicht zu flüchten, sondern zähe zu streiten; jeder kleinste Schritt ist dann wertvolle Aufbauarbeit und bringt irgendwie Segen für jeden Tropfen Qual. Ich weiß das so sicher, als wenn ich es aus dem Mund einer göttlichen Erscheinung ge­hört hätte. Ich sehe es doch an den Augen und Falten alter Ge­sichter und in der Schönheit alter Bäume, und große Musik er­zählt es mit mathematischer Überzeugungskraft.”

Er wußte es. Das Wort „weiß” ist von ihm selber unterstrichen. Er wußte es, wie man nur von der äußersten Grenze aus weiß, wo sich der Horizont des Lebens schon ins Unendliche verliert. Ich kenne kein stärkenderes, tröstenderes, segnenderes Wort als dieses am Rande des Todes niedergelegte, das gerade vom Alter, vom Lebensabend die Wahrheit und Schönheit der ewigen Ge­setze abliest: der Gesetze des Reifens, des Alterns und des dem Leben bis zuletzt Gewachsenseins, dies Wort von der großen Musik des Bestehens und Überstehens.

Ich habe bisher von einer Seite des Lebensabends nicht gespro­chen, die ich vielleicht an den Anfang hätte setzen müssen: von der Müdigkeit. Denn sie ist eine andere, schwerere als in der Ju­gend, ein Druck, der oft kaum abzuschütteln ist. Und gewiß, manchmal scheint auch mir, daß meine Seele müde geworden ist, weil ihr in einem langen und wechselvollen Leben zu viel und zu Ungleiches aufgegeben war. Aber immer wacht sie wieder auf, gerade an dem, was ihr aufgegeben ist. Das ist ja die Aufgabe des Alters selbst, die mich wach und lebendig erhält und in der seine Tragik fast überwunden ist.

Wie dunkel und unbegreiflich ist die Zeit, wie schnell und wie langsam ist mein Leben vergangen. Und wenn ich an das Bibel­-Wort denke: „Des Menschen Leben währet siebzig Jahre – und wenn es hoch kommt, achtzig Jahre”, dann kommt es mir zuwei­len vor, als wäre ich gar nicht mehr im Leben. Wenn ich aber den Zusatz lese: „Und wenn es köstlich gewesen ist, dann ist es Mühe und Arbeit gewesen”, dann scheint mir doch, als ob ein solches Leben letzthin mein Teil gewesen wäre, wie sehr auch der Tod zu ihm gehört. Denn da der Tod für den einzelnen tragisch, im Ganzen aber notwendig und sinnvoll ist, ist für uns, im Leben und im Sterben, nur die einzige Möglichkeit, ihn still in das Ganze aufzunehmen.