Die messianische Idee als Friedensidee. Julius Goldstein zum Gedächtnis

 

In: Der Morgen, Heft 4 (Oktober 1929)

 

In der Geschichte jedes großen Volkes findet sich ein Augenblick, in dem es über seine Geschichte hinausragt, in dem es sich in seiner Idee: in der mit seinem Wesen selbst gegebenen Bestimmung ergreift. So hat das deutsche Volk sich in Fichte als Verwirklicher des Bildes Gottes in Gestalt der metaphysischen Freiheit, das russische sich in Dostojewski in seiner Selbstrealisierung im Dienst aller als Gotträgervolk, das indische sich in Gandhi als Besieger aller durch die göttlich reine Sanftmut kampflosen Widerstandes, das jüdische sich in Jesaja als das Volk, in dessen Herzen Gottes Gesetz ist, begriffen.

Gerade dieser Höhepunkt nationaler Selbstbesinnung, in dem ein Volk seiner absoluten Bestimmung inne wird, ist so immer zugleich der, in dem es über seine nationalen Schranken hinauswächst in eine menschheitliche Aufgabe. Das Eigentümliche der jüdischen Idee aber ist es, das ihr ursprünglicher Inhalt kein anderer ist als diese Sprengung der Nation durch ihre Idee selbst – oder anders gesprochen: daß das Ziel, das sich dem jüdischen Volke in seinem äußersten Augenblick entschleiert hat, nicht Selbstrealisierung ist, sondern sein Aufgehen in den anderen Völkern. Denn „Israel ist nicht ein Volk wie andere Völker“. Die gesamte Prophetie verkündet, daß es für das jüdische Volk nicht um die Verwirklichung seiner selbst, sondern allein und ausschließliche um die Verwirklichung Gottes geht. Und wenn dies letzthin die Zielidee auch der anderen Völker ist, so ist ihre Stellung zum Göttlichen doch dadurch eine andere, daß für sie die Realisierung Gottes gebunden ist an ihre nationale Selbstrealisierung. Ihre eigene Verwirklichung bedeutet ein Bild, ein Gleichnis Gottes. Ihr Ziel ist die Erschaffung eines Typus Mensch, der das göttliche Ziel vorbildlich darstellt. In Israel dagegen ruht die Verwirklichung Gottes nicht auf der Selbstrealisierung des Volkes, sondern auf seine Selbstaufgabe.

Hier geht es nicht um ein Bild Gottes, sondern um Gott. Um den Gott, von dem sich ein Bildnis im irdischen Stoff zu machen verboten ist. Nicht ein bestimmtes Menschenbild soll erschaffen und als göttliches Gleichnis und menschliches Vorbild den Völkern vorangetragen werden – nein: Israel soll „eine Schmach, Hohn, Exempel und Wunder sein allen Heiden“ durch das Gericht über sein Volk, in dem Gott selbst sich als der Einzige offenbart und des ungeheuren Abstand seines erwählten Volkes von der Gottebenbildlichkeit enthüllt. Denn es ist nicht erwählt, zu sein, sondern zu künden. Nicht es selbst soll sein, sondern das von ihm Verkündete: die Eine geeinte Menschheit, in der allein die gottebenbildliche Gestalt des Menschen sich vollendet.

Der Sturm des göttlichen Weltgerichtes, der in der Prophetie durch Israels Geschichte braust, vor dem Länder und Königreiche vergehen wir Staub, vor dem mächtige Städte hinsinken zu wüsten Steinhaufen: dieses ungeheure Gericht einer rein von Gott bestimmten Geschichte, das die Bedingtheit und Verfallenheit aller irdischen Gestalt in schauriger Größe offenbar werden läßt, stammt aus der messianischen Zielidee der gottebenbildlichen Menschengestalt: der Einen geeinten Menschheit.

Diese Gestalt steht am Ende der Zeit: in der reinen Zukunft. „Das Volk, das im Finstern wandelt, siehet ein großes Licht.“ Es selbst lebt im Dunkel, in irdischer Finsternis. Nicht in ihm – vor ihm in unendlicher Ferne ist das große Licht. Aber es ist keine bloße Erscheinung; es ist in Beziehung zu ihm; es weist und leitet; es ist ein Ziel. Es ist nicht starre Ewigkeit, es ist an sich reißende Zukunft; es ist nicht ein in sich ruhendes Gestirn; es ist lebendige Hoffnung: Hoffnung, die allen Zeiten, aller irdischen Zeit überhaupt voranleuchtet.

Allen Zeiten. Damit wäre sie auch für uns noch wahr, dies überschwengliche Hoffnung – auch für uns noch lebendig? Aber dürfen wir das aussprechen? Haben wir heutigen Menschen das Recht auf diese Hoffnung, die Möglichkeit zu ihr nicht verwirkt? Vermögen wir, wie wir sind, wie wir geworden sind, auch nur an das Erlebnis dieser Hoffnung zu rühren? Ist einer Welt wie der unseren, die in Krieg und kriegerischer Gesinnung erstickt, deren ganzes Leben auf Trennung, nicht auf Vereinigung geht, deren Vereinigungsstreben selbst befleckt und unlauter ist, der Inhalt dieser Hoffnung: die geeinte Menschheit, der Friede der Welt mehr als ein bloßes fernes, unbegreifliches Wort? Was soll uns eine Idee, die für keine einzige Wirklichkeit unseres Lebens mehr Urbild und Vorbild ist, die auf keine Gestalt unserer Welt mehr auftrifft? Ja, kann eine Idee überhaupt für uns noch wahr sein, für die sich konkret zu entscheiden eine bare Unmöglichkeit scheint? Denn die feindselige Haltung der Nationen ist ja nicht das einzige was uns von der Menschheitshoffnung scheidet: weit tiefer noch scheidet uns von ihr, daß wir selbst, jeder einzelne von uns, in unserer Entscheidungskraft aufgelöst sind, daß durch das Denken und Erkennen von Jahrhunderten kein Wert für uns unerschüttert ist, kein Sein mehr feststeht, daß mit dem S e i n der Wahrheit auch unsere

Entscheidung für sie zum Problem geworden ist. Es ist diese unsere heutige Lage, der Max Weber vor Jahren, unmittelbar nach dem Kriege, in einer Rede über die Wissenschaft als Beruf Ausdruck gegeben hat. Er hat in ihr die Jugend an eine rein objektive, von aller persönlichen Wertung und Entscheidung freie Wissenschaft als die einzige für den heutigen Menschen wahre gewiesen – aus der leidvollen Überzeugung heraus, daß in unserer entzauberten Welt das Geheimnis göttlicher Wirklichkeit mit der Kraft zu seiner Erfassung: dem Glauben zerstört ist, daß in ihr das Licht der Seele nicht mehr leuchtet, daß sie zu dunkel ist, das daß aus ihr der Strahl persönlicher Entscheidung überhaupt aufflammen, geschweige denn, daß er ein Stück Welt erleuchten könnte. Und es ist kein Zufall, daß der große Gelehrte die Frage dieser Weltstunde ausgesprochen hat mit dem Jesajawort: „Es kommt ein Ruf aus Seir in Edom: Wächter, wie lang noch die Nacht?“ Er hat ein alttestamentarisches Wort zur Bezeichnung unserer Not gewählt. In ihm hat er die Frage alles religiösen Harrens gesehen. Auf sie hat er, der Wächter der Stunde, die Antwort erteilt: „Noch ist es Nacht: wenn ihr fragen wollt, kommt ein andermal wieder.“

Ein furchtbares Wort: das Wort der radikalen Verzweiflung. Ein andermal. Was soll das bedeuten? Wenn wir ein andermal wiederkommen – sind dann noch wir es, die wiederkommen? Sind wir nicht die, die nie wiederkommen, deren Leben ein Wind ist, die mit dem Worte Hiobs nicht wiederkommen zu schauen das Gute, die über einem Augenaufschlag von Gott vergehen? Wenn uns, uns selbst die Antwort auf die Frage nicht gegeben wird, so erhalten wir sie niemals – wenn wir, wir heutigen Menschen, den Anschluß an das Heil, die Möglichkeit zum Heil verloren haben, so haben wir sie nicht nur für unsere Zeit – so haben wir sie für die Ewigkeit verloren. Denn es ist unser Heil – mein Heil, das Heil dieser einen lebendigen Existenz; nur in diesem einmaligen Dasein stellen wir ja, jeder mit seinem Dasein selbst, diese Frage: diese Frage, die keine andere ist als die, die von der Ewigkeit selbst an unser Dasein gestellt ist. Denn nicht nur wir fragen Gott – auch Gott fragt uns. Er fragt uns mit der Einen Frage, die er an die Entscheidung unseres Lebens richtet. Und diese einzige Frage, die von dem himmlischen Richter an jede Seele, die vor ihm erscheint, gestellt wird, lautet nach dem Talmud: „Hast Du gehofft auf das Heil?“

Damit finden wir uns in der umgekehrten Richtung; nicht mehr wir fragen nach der Hoffnung, sondern die Hoffnung fragt nach uns. Es ist uns nicht freigestellt, die Hoffnung preiszugeben; in unserer Hoffnung liegt unsere Bewährung. Nicht nur in dem Inhalt der Hoffnung ist der Prüfstein für unsere Erlösbarkeit. Der Verzicht auf die Hoffnung wird zur Sünde.

Die Hoffnung ist zur absoluten Forderung selbst geworden. Denn diese Hoffnung ist nicht wir eine andere, wie irgendeine rational begründete einzelne irdische Hoffnung. Die messianische Hoffnung ist grundlose Hoffnung; sie ist überhaupt aus nichts Irdischem abzuleiten, sie geht von keiner irdischen Wirklichkeit aus, sie ist kein Mythos, hat keine Gestalt; sie ist – als was sie mit dem steigenden Elend des Exils, der Diaspora, des Ghetto, immer deutlicher sich enthüllt – eine aller Wirklichkeit entgegenstehende, eine vollkommen paradoxe. Sie steht im Gegensatz zu allem irdischen Dasein, ist ein reines Trotzdem: eine reine Kraft der Seele. Gerade aus der dumpfsten Finsternis und Verzweiflung, aus dem Zeiten schwerster Verfehlung, radikalen Abfalls stieg immer die Flamme der messianischen Friedensverkündung am mächtigsten empor. Denn Friede bedeutet dem Judentum nicht jenes heitere Gleichgewicht aller Kräfte, das die Griechen Harmonia oder Sophrosyne nannten. Er bedeutet etwas Überschwengliches. Sein Gegensatz ist nicht wir dort Unordnung und Verwirrung, sondern er ist Unruhe und Streit, Leid und Sünde. Die jüdische Idee des Friedens ist nicht Ordnung, Ausgleich und Gleichgewicht, sondern sie ist Gnade, göttliche Versöhnung und Erlösung. Friede bedeutet Vollkommenheit, ist der Heilsbegriff der jüdischen Religion: ist als die messianische Idee der Vollendung zur Einen Menschheit, als Inhalt der paradoxen Hoffnung, selbst ein reines Paradox zu aller irdischen Existenz.

Darum ist der Friede nicht nur Gnade, sondern auch Gericht: aus ihm heraus als der messianischen Zielidee geschieht das Gericht Gottes. Und jedesmal markiert darum die Erscheinung eines Propheten geschichtlich gesehen dasselbe: die auf einen Gipfel gestiegene Verzweiflung, den radikalen Abfall und die radikale Strafe des Volkes.

Eine friedliche, beruhigte geglättete Welt kann die messianische Friedensidee überhaupt nicht begreifen; ihr ist der Friede ein freundlicher Engel mit dem Palmzweig, eine sie selbst und ihre Ordnungen beschützende Macht. Vor der messianischen Friedensidee dagegen fliegen alle Ordnungen wie von einem göttlichen Blitz berührt auf. Nur einer Welt der Verzweiflung – einer Verzweiflung, die sich selbst als Abfall inne wird, ist die messianische Friedensidee, was sie ist: absolutes Gericht zugleich und über den Abgrund herüberlohende überschwengliche Hoffnung: Hoffnung, die zugleich unbedingte göttliche Forderung an den Menschen ist, vor der er seiner Unzulänglichkeit und Nichtigkeit inne wird dadurch, daß sie ihm seine überschwenglichsten Möglichkeiten aufschließt.

Daran – und nur daran – hängt die messianische Hoffnung für jede, auch die dunkelste Zeit: daß wir der Größe des Abstandes von ihrer Verwirklichung inne werden und ihr Gericht über uns erleben. Aber wie wäre gerade das denkbar, daß wir dazu die Kraft finden könnten? Denn ganzen Abstand, die ganze Tiefe menschlichen Abfalls mißt nur der Prophet aus. Und wenn der Verfall aller absoluten Gewißheit das ganze gottverlassene Wissen von Jahrhunderten unserer Seele schon das Mark der rein persönlichen Entscheidungskraft ausgesogen hat – um wie viel radikaler muß uns die Kraft zu einer absoluten, aus Gott stammenden, die ganze Welt umfassenden Entscheidung ausgesogen sein: die Kraft zur Prophetie.

Aber gegen dieses Verhängnis – und gerade aus ihm – erhebt sich eine Frage: Ist denn das Antlitz Israels, das die Propheten mit der Gewalt ihrer richtenden Hammerschläge aus der Masse des Volkes herauszumeißeln strebten, schon zu irgendeiner Zeit vollendet? Ist Israel je zu dem geworden, wozu es bestimmt war? Ist es je zur Verwirklichung seiner Botschaft gelangt? Dann wäre es nicht mehr da. Denn die Erfüllung seiner Sendung wäre ja sein Aufgehen in den anderen Völkern, in der im Frieden geeinten Menschheit. Das bloße Dasein Israels beweist, daß seine Sendung nicht erfüllt ist. Es beweist aber zugleich auch, daß seine Sendung noch lebt. Denn Israel ist seinem Wesen nach nichts als diese Sendung.

Die Verheißung der Propheten liegt also – auch wenn Jahrtausende uns von ihr trennen – nicht hinter uns; sie liegt noch vor uns. Denn ihre Forderung ist noch nicht erfüllt. Wir bedürfen keiner neuen Propheten; die alten Propheten sind Antwort noch auf unsere Frage, sie haben die Tiefe unseres Abfalls für uns mit ausgemessen. Jedes Wort der Propheten des alten Israel trifft auf die Wahrheit unserer Zeit auf, als ob es eben erst gesprochen wäre. Gilt es nicht uns, uns heute lebenden Menschen aller Nationen, wenn Jesaja sagt: „Sie kennen den Weg des Friedens nicht und ist kein Recht in ihren Gängen; sie sind verkehrt auf ihren Straßen; wer darauf gehet, der hat nimmer Frieden“? Gilt es nicht uns, wenn Gott durch Jeremia sagt: „Mich, die lebendige Quelle, verlassen sie und machen ihnen hier und da ausgehauene Brunnen, die doch löcherig sind und kein Wasser geben“? Und hören wir nicht das Schluchzen unseres eigenen Lebens bei den Worten über Zion: „Siehe, ihre Boten schreien draußen, die Engel des Friedens weinen bitterlich“? Es ist keines unter all den prophetischen Worten, das nicht uns und unseren Abfall, unsere Entfremdung vom Göttlichen mitmeint. Wir, wir selbst stehen noch so radikal wie irgendeine Zeit unter der prophetischen Forderung. Aber damit stehen wir auch unter der messianischen Verheißung.

Das bedeutet nicht, daß uns die Frage nach der geschichtlichen Wahrheit unserer Haltung erspart bleibt – im Gegenteil: die einzige Form, in der wir die prophetische Wahrheit auf uns beziehen können, ist die geschichtliche Wahrheit. Wir heutigen Menschen können die Frage, wo wir stehen, nicht wie der Prophet unmittelbar vom Absoluten aus stellen und beantworten, weil wir es nicht mehr berühren; wir können sie nur stellen innerhalb des geschichtlichen Lebens, in dem allein wir uns zu erfassen vermögen: als Frage nach dem, an das wir kraft unseres Standortes heranreichen, was wir mit unserer eigenen, an diese Zeit, an diesen Raum gebundenen Existenz berühren. Dies ist die einzige Frage, die uns zusteht: ob wir als geschichtliche, geschichtsbezogene Menschen, als uns wandelndes und nur im Wandel uns erfassendes Dasein einen wahrhaftigen Anschluß an die messianische Verheißung zu gewinnen vermögen, ob und wie wir sie lebendig auf uns zu beziehen imstande sind.

Und es gibt eine eigentümliche Bürgschaft für ihr Bezogensein auf uns in der abendländischen Geschichtsentwicklung selbst. Uns ist mitten in unserer Auflösung, in unserer radikalen Entfremdung von aller religiösen Wirklichkeit aus der abendländischen Wissenschaft selbst ein eigentümliches und wunderbares Geschenk in dem Schoß gefallen, das die ganze Macht religiöser Wirklichkeit in aller geschichtlichen und gegenüber aller nur geschichtlichen offenbart. Unserer religionslosen Zeit – nicht zum wenigsten Max Weber selbst – war es vorbehalten zu erkennen, daß alle Wahrheiten, alle Formen und Organisationen unseres europäischen Lebens Umwandlungen, Verweltlichungen, Säkularisierungen ursprünglich religiöser Wahrheiten sind. Wir haben sehen gelernt, wie schließlich alle Wissens- und Lebensformen der modernen Welt, wie sogar noch der Kapitalismus, und dann wieder der atheistischste Sozialismus ihrer selbst unbewußt abgeleitet, umgeschlagen sind aus der christlichen Idee des Gottesreiches – dieser Idee, die selbst wiederum ihre letzte Wurzel hat in der messianischen Idee: dem großen Friedensreiche der Propheten.

So sieht unsere glaubensfremde Welt sich plötzlich wider Wissen und Willen überall und in allem angeschlossen an ihre von ihr so radikal verleugnete religiöse Vergangenheit. So machtvoll sind die ursprünglichen religiösen Wahrheiten durch alle profanen Wahrheiten unserer Welt durchgedrungen, daß sie wie die ursprüngliche Schrift eines immer wieder überschriebenen Palimpsestes durchgeschlagen scheinen durch die Züge all der vielfältigen und gegensätzlichen Erkenntnisse, Ordnungen und Gestaltungen unserer Welt.

Gewiß, sie sind darin durchaus zu etwas anderem geworden; die realen und die gedankliche Entwicklung haben den Grund der religiösen Wahrheiten gegen sich selbst herumgekehrt. Aber diese Entwicklung ist trotzdem kein Verdrängen von Abgestorbenem durch wesensmäßig Anderes, sondern sie ist eine lebendige Dialektik, in der der ursprüngliche Lebensgehalt auch im Gegensätzlichsten in irgendeinem, wenn auch noch so verhüllten Sinne immer wirkend geblieben ist, so das aus ihm allein alles Spätere in seinem Gewordensein letzthin erschlossen werden kann.

Und so erkennen wir seltsamer- und wunderbarerweise als den tiefsten und festesten, als den eigentlich tragenden Grund, der unserem glaubenslosen, friedlosen heutigen Leben unterbaut ist, die messianische Verheißung des Weltfriedens. Die Geschichte selbst, die uns losgerissen hat von unserer höchsten Hoffnung, schließt uns so dennoch wieder an sie an. Uns aber bleibt demgegenüber immer noch die Frage: Wie kann das Wissen um dies tausendfach Verdeckte und Verhüllte für uns wieder Leben werden? Wie können wir die bis zur Unleserlichkeit überschriebene und verwischte Urschrift der messianischen Hoffnung wieder erreichen? wie jeder einzelne lebendige Mensch eine unmittelbare Beziehung zu ihr gewinnen? Sollen wir die ganze verwirrte, tausendfältig verschlungene Schrift der Geschichte auszulöschen streben, um zu der Schrift des Ursprungs wieder durchzudringen?

Das hieße wiederum an der geschichtlichen Wahrheit – und das ist an uns selbst, an unserer eigenen Wahrheit vorbeigehen. Es hieße uns selbst ignorieren als die, die wir sind, die wir geworden sind: die Denker unserer Gedanken, die Täter unserer Taten. Die messianische Hoffnung aber fordert uns nicht als abstrakte Wesen, sie fordert uns selbst: die wirklichen realen, geschichtlichen Menschen. Vermöchten wir nicht uns selbst, unser Jetzt und Hier in die Hoffnung hineinzuführen, sie wäre nicht unsere Hoffnung. Und damit wäre sie das reine Nichts. Denn es gibt keine andere Hoffnung als die unsere. Nur aus dem vollen Aufsichnehmen der Gegenwart kommt darum die echte Entscheidung für die Zukunft.

Und die Geschichte selbst ist Bürge unserer Hoffnung. Denn Geschichte ist ja nicht nur das Geschehene, sondern auch das Kommende. Die Geschichte zeigt uns nirgends Verwirklichung, aber sie weist uns überall auf das hin, was verwirklicht werden soll und um dessentwillen sie ist. Die verdeckende Schrift selbst deutet überall hin auf die verdeckte Urschrift, die so gesehen nicht Vergangenheit, sondern selbst reine Zukunft ist.

In dem Wort des Jesaja: „Gedenket nicht an das Alte und achtet nicht auf das Vorige“, ist die reine Forderung an den jüdischen Menschen gegenüber der Geschichte angesprochen: die Entscheidung gegen das Tote, die Entscheidung für das Lebendige. Es bedeutet nicht, daß wir das Geschehene nicht sehen und nicht darum wissen sollen; wir sollen es wissen und sehen; denn wir sollen uns und unsere Aufgaben daraus kennen lernen; aber wir sollen nicht daran gedenken, nicht daran haften bleiben mit unserem Leben. Unser Wissen mag – ja, es muß der Vergangenheit gehören: unser Leben, unsere Gegenwart, unsere Entscheidung gehört allein der Zukunft. In der aufrufenden Weisung an die Zukunft liegt das ganze gewaltige Ethos des Judentums; in ihr wird der Mensch aufgerufen zu sich selbst – nicht zu dem, was er geworden ist, sondern zu dem, was er sein kann, was er sein soll.

Die reine Weisung an die Zukunft bedeutet: Was immer war – nichts ist noch geschehen, alles bleibt zu tun; alles muß getan werden. Daß die Zeit des Judentums die Zukunft und daß sein höchster Wert die Tat ist – das ist eines und dasselbe.

So wäre die Tat das, was die reine Schrift unseres Ursprungs durch die verwirrte der Geschichte hindurch wieder zum Aufleuchten zu bringen vermöchte, wäre sie das, was die übermächtigen Visionen der Vorzeit lebendig mit der flüchtigen verfallenen und abgefallenen Existenz des einzelnen, auch des heutigen Menschen zu verbinden vermöchte? Durch sie – und nur durch sie – würde die überschwengliche messianische Hoffnung zur Hoffnung auf das Heil jedes einzelnen geschichtlichen Menschen? Läge hier das Band zwischen der einzelnen Existenz und den menschheitgestaltenden Visionen der Propheten?

Aber muß nicht auch die Tat – und gerade sie – uns ein bloßes Wort bleiben bei der unermeßlichen Ferne und Übergröße der prophetischen Visionen von der menschlichen Zukunft? Liegt nicht gerade hier das schwerste Problem? Können wir sie denn auch nur fassen, diese Vision von der Einen geeinten Menschheit, von den Schwertern, die zu Pflugscharen, von den Speeren, die zu Sicheln umgeschmiedet werden – von dem Wolf, der friedlich neben dem Lamm weidet, von dem Löwen, der Stroh ißt wie ein Rind, und von dem kleinen Knaben, der sie beide führt? Wie unermeßlich, überschwenglich fern klingt uns diese Verheißung: Friede in der kriegerischen, bluttriefenden Menschenwelt – Friede in der grausam entzweiten Natur selbst: Friede, Liebe, Erlösung überall.

Es sind Visionen, so fremd und unbegreiflich unserer Welt und ihrer Wirklichkeit, daß jede Brücke fehlt. Es sind Visionen, so nah dem schlagenden, lebendigen Herzen, daß, wenn wir sie neu, zum erstenmal hören können, sich jedes Auge mit Tränen füllen müßte.

So nah als sind sie uns, diese unermeßlich fernen Bilder? So schlagen sie an die verschlossenen Tore unseres Lebens selbst? Unser innerstes Leben schlägt mit ihnen gleichen Schlag? Wir fänden sie – diese übermenschlich großen fernen Träume in uns selbst, in unseren Herzen wieder? Der finstere Abgrund unseres Seins, auf den sie aus dem Überlicht mit der ganzen Gewalt des Unvollziehbaren auftreffen, wäre selbst das Reich ihrer Geburt und Erfüllung? Die tausendfältig bis zur Unkenntlichkeit überschriebene unterste Schrift des Palimpsests der Geschichte: die messianische Botschaft vom Friedenreich, vom Gottesreich, wäre keine andere als die tausendfältig überschriebene unterste Schrift unseres Herzens?

Das ist das Wunder, das die Prophetie bestätigt. Denn die Taten, die die prophetische Verheißung zu ihrer Erfüllung von den Menschen verlangt, sind nicht heroische Kämpfe und machtvolle schöpferische Umgestaltungen der Welt. Sondern wunderbar: den überschwenglichen Visionen vom Weltfrieden entspricht als Forderung an den einzelnen Menschen das Allerschlichteste: die Forderung der Gerechtigkeit, der schlichten menschlichen Güte. So spricht der Herr: „Haltet Recht und Gerechtigkeit und errettet dem Beraubten von des Frevlers Hand und schindet nicht die Fremdlinge, Waisen und Witwen und tut niemandem Gewalt und vergießt nicht unschuldiges Blut.“ Diese einfachen, unscheinbaren, fast selbstverständlichen Forderungen: Forderung an die reine Menschlichkeit des Einzelnen sind es, die im Zusammenhang mit den gewaltigen prophetischen Visionen von der Endzeit immer wiederkehren. Nichts anderes wird zur ihrer Verwirklichung vom Menschen verlangt und immer wieder verlangt als Gerechtigkeit, einfache menschliche Güte. Wie nach dem Psalmwort „Gerechtigkeit und Friede sich küssen“, so fügt sich die geringste Tat der Gerechtigkeit wunderbar in den mächtigen Zusammenhang des Weltfriedens, der Menschheitserlösung ein. Und alle Drohungen göttlicher Strafgerichte, grausamster Verwüstungen und Zerstörungen gelten allein dem Unterlassen der Erfüllung dieser allerschlichtesten Forderung an den Einzelnen gegenüber dem Einzelnen. Der Weg zum Leben und zum Tode, den Gott seinem Volke durch den Propheten vorlegt, ist kein anderer als dieser: Entscheidung für oder gegen den Frieden, zu dem der einzige Weg die schlichte menschliche Gerechtigkeit ist. – Die Entscheidung für das Leben, die Entscheidung für die Hoffnung, die Entscheidung für den Frieden und für die Gerechtigkeit sind eins.

Nicht um eine einzelne Entscheidung handelt es sich hier – sondern um ein Entschiedensein des gesamten Lebens, das allen einzelnen Entscheidungen und Handlungen vorausliegt. Und wenn nun wieder aus einer verworrenen Zeit, in der nichts mehr feststeht, in der alles Gesetz und aller Wert aufgelöst ist, die Frage herauftaucht: Wie aber können wir uns für die Gerechtigkeit entscheiden, da wir nicht einmal wissen, was Gut und Böse, was Recht und Unrecht ist? – so ist nun die Antwort: Diese Entscheidung setzt kein Wissen um bestimmte Werte, setzt kein Erkennen objektiver Zusammenhänge und keine bestimmte Struktur des Geistes voraus. Denn es handelt sich bei ihr nicht um die schwankende unsichere menschliche Gerechtigkeit, die auf menschlichen Gesetzen, menschlichen Erwägungen und Einsichten ruht – es handelt sich um die göttliche Urschrift unseres Lebens selbst: um die ursprüngliche Güte des Herzens, in der die Zukunft der Menschheit geborgen, der sie anvertraut ist: um die reine menschliche Güte, die eins ist mit der unzerstörbaren Hoffnung auf das Heil, die aller Menschengeschichte zugrunde liegt, weil sie aller Einzelexistenz zugrunde liegt.

Aber darum darf die Schlichtheit dieser Forderung uns nicht darüber täuschen, daß sie das Allerschwerste ist. Denn das Erreichen der reinen Urschrift unseres Herzens wäre ja nichts anderes als die Verwirklichung des messianischen Friedensreiches selbst, von der uns die gesamte Menschengeschichte trennt. Eins aber ist in unsere Hand gegeben – hier und jetzt inmitten der Geschichte: die Entscheidung unseres Seins für oder wider das Leben, für oder wider die Hoffnung, für oder wider den Frieden der Welt. – Ist es wenig? ist es viel? Es ist das Unsere. Und wo wir einen Menschen finden, der entschieden ist für den Frieden, dessen Gerechtigkeit und Güte durch all sein Leben und Denken hindurchschimmert, da haben wir heute wir immer das gefunden, dessen die Menschheit bedarf, damit ihre Hoffnung nicht sterbe.