Karl von Greyerz’ Briefe*

 

In: Neue Wege 47, 1959

 

*Herbert Lang, Bern.

 

Die aus dem Nachlaß herausgegebenen Briefe von Karl von Greyerz aus allen Zeiten seines Lebens bieten eine Bestätigung und Ergänzung zu der Erinnerung an den lebendigen Menschen. Wer Pfarrer von Greyerz je hat sprechen hören, dem hat sich seine Erscheinung wie sein Wort unauslöslich eingeprägt. Es war immer um ihn wie eine Flamme, als hätte sein Körper nicht ausgereicht, die Fülle und Helle seines Geistes zu umspannen. Dies Leben stand allem Göttlichen und Menschlichen offen. Sein Wort: „Ich möchte gern bis zu meinem letzten Tag die Fenster nach allen Seiten offen halten“ drückt die lebendige Weite seines Wesens und dessen Ergriffenheit von allem Wirklichen aus. Darum widerspricht es nicht dem scheinbar entgegengesetzten Wort aus einem Spätbrief an einen schwermütigen Freund, dem alle Fenster nach außen zugefallen waren: „Solche mühseligen und beladenen Menschenkinder, wie Du es bist und wie wir im Grunde alle sind...“ Denn er hat bei aller Weite seines Lebens und Verstehens immer in Demut um die engen Grenzen seines und alles Menschendaseins, wie auch um das Stückwerk menschlichen Wissens und Erkennens gewußt. Aus beidem: aus der Weite wie aus der Demut seines Lebens ist ihm die Kraft erwachsen, den Menschen echten Trost zu spenden.

Und immer war ihm das Tun mehr als das Reden. Auch wenn wir nicht aus der schönen Einleitung seines Freundes wüßten, wie unendlich viel Gutes dieser Mann an einzelnen Menschen und Schicksalen getan hat, so könnten wie aus diesen Briefen erkennen, daß die, die der Apostel die größte unter ihnen nannte, zutiefst seinen Glauben und seine Hoffnung bestimmt hat. Sein Wort: „Ja, ganz simpel einem Einzelnen rein menschlich begegnen und zurechthelfen und ihm zu fühlen geben, daß man sich um ihn kümmert, das scheint mir wichtiger als alles Predigen, soviel wert letzteres auch wäre, wenn man das aktuelle, konkrete einschlagende Wort hätte. Aber das ist uns ja fast ganz versagt.“

Dies Wort erscheint mir im Positiven wie im Negativen als das Zentrum, der Kern seines Predigens überhaupt. Er hat  sich mit seiner Verkündung wohl immer zutiefst an die Einzelnen gewendet. Denn er war ein Mensch, dem nichts Menschliches fremd war, nur daß es ihm in größerer Tiefe als anderen vertraut und anvertraut war.

Und neben der Liebe war es die Wahrheit, die sein ganzes Leben beherrscht hat. Er hat in einer problematischen Zeit um die Echtheit der Verkündung mit heißem Bemühen gerungen; er hat sich von der Schwere der Verkündung der Botschaft des lebendigen Gottes immer neu Rechenschaft abgelegt; er hat darum an seinen Predigten schwer und mühsam gearbeitet.

Die starke, klangvolle Sprache dieser Briefe scheint auf das Gegenteil hinzuweisen; man könnte glauben, daß ihm durch die Macht über sie das Predigen leichter als anderen geworden sei. Diese Sprache scheint zunächst ein naturhaftes Erbteil zu sein; aber es ist doch weit mehr noch die Unmittelbarkeit des Wortes, die ihr den großen Rhythmus gibt, der als der lebendige Herzschlag des Schreibenden selbst erscheint. Doch er mißtraute immer dem eigenen schönen und starken Wort; denn er wollte nicht das eigene, sondern allein das Wort des lebendigen Gottes verkünden. Er hat um der Wahrheit willen jedes zu große, ja fast jedes zu heilige Wort gescheut; er hat die herrschende theologische Sprache nicht angenommen. Als der Abschied von seinem Amt nahe war, schrieb er seinem Freund: „Was das heißt, ob einer Vollmacht hat, seinen Mund aufzutun und Gottes Gericht und Barmherzigkeit zu verkünden, das hat sich mir immer schwerer auf die Seele gelegt und mir vor aller Kanzelrhetorik einen Schreck eingejagt.“ Aber dieser Schreck hat seine Verkündung nicht nur erschwert, er hat sie auch geläutert. Er hat seinen Worten alles nur Theologische ausgetrieben und dadurch seine Rede den Menschen nähergebracht. In demselben Brief sagt Greyerz: „Mich dünkt, wir Theologen laufen alle auf Stelzen, und darum danke ich dem Himmel, daß ich diese Stelzen in die Ecke stellen und wie andere wieder ganz gewöhnlich gehen darf.“

Er hat nach dem Niederlegen seines Amtes noch in vielfacher Weise fruchtbar geschaffen und gewirkt. In seinem letzten Vermächtnis, das im Angesicht des Todes mit der ganzen Freiheit des gläubigen Menschen geschrieben ist, hat er der knappen Darstellung seines Lebens die demütigen Worte vorausgeschickt: „Ich tue es im tiefen Bewußtsein, was für ein Stück- und Stümperwerk es war, aber mit tiefem Dank gegen den, der den glimmenden Docht nicht ausgelöscht und das zerstoßene Rohr nicht zerbrochen hat.“

Dies Vermächtnis, in dem er sein Leben noch einmal überblickt, ist, obwohl er derer, die ihm nahe waren, und vor allem derer, die ihm die Nächste war, in dankbarer Liebe gedeckt, nicht nur ein persönliches Bekenntnis. Er überblickt und kritisiert alles, was er in seiner Zeit als verwerflich erkannt hat: vor allem „die Unvereinbarkeit der Nachfolge Christi mit dem heutigen Kriegssystem“. Das Rüstungs- und Kriegsproblem steht vor ihm als Sündenfall des Christentums, das seit der Zeit Konstantins sich immer mehr von einer christlichen Orientierung gelöst hat und nun in unserem Jahrhundert zur brutalen Skrupellosigkeit und Unmenschlichkeit entartet ist. Und er fügt, wieder zum Persönlichen übergehend, hinzu: „Alle, die mich näher gekannt haben, wissen, daß ich diese Entwicklung und Entartung als einen Abfall von dem Meister und Herrn verkündigen mußte, nach dem wir uns nennen, auf dessen Namen wir unsere Kinder taufen und unterweisen, als eine ungeheure Schuld der christlichen Kirche.“ Und fast die Vergebung seiner Gegner erbittend, sagt er: „Meine Einstellung zu den Sozial- und zu den Rüstungsproblemen hat es mich gebracht, daß ich in diesen brennenden Fragen mich zu einer kämpferischen Haltung der offiziellen Kirche gegenüber gedrängt und verpflichtet fühlte und manchen Kirchengenossen, selbst Amtsbrüdern zu einem Anstoß und Ärgernis geworden bin. Ich darf versichern, daß diese Kritik an der Haltung der Kirche in der Liebe zu ihr und dem mir aufgetragenen Evangelium wurzelte.“

In der Liebe zu dem ihm Anvertrauten wurzelt die Wahrheit seines ganzen Lebens, und durch sie hat er bis zum letzten Tage die Fenster nach allen Seiten offen gehalten. Er hat um dieser Liebe und ihrer Wahrheit willen seine kämpferische Haltung der Welt gegenüber bewahrt. Daß er aber für sich selbst den Frieden Gottes gefunden hat, das zeigt der schon sein ganzes Leben durchziehende Hinweis auf den Schluß des 13. Kapitels des 1. Korintherbriefes, der nun auch am Ende seines Lebens wiederkehrt: seine feste Hoffnung nach dem Stückwerk irdischen Erkennens auf das Erkennen und Erkanntwerden von Angesicht zu Angesicht.