Die geistigen Tragkräfte des modernen Kollektivismus

 

In: Neue Wege 33, 1939

 

Dieser vor mehr als zweieinhalb Jahren vor den Freunden der Neuen Wege gehaltene Vortrag konnte aus verschiedenen Gründen nicht früher im Druck erscheinen. Nach dem Buche Rauschnings „Die Revolution des Nihilismus“, das, wenigstens in einer Hinsicht, sich mit diesem Aufsatz berührt, könnte heute die Veröffentlichung als verspätet erscheinen. Es kommt aber in dieser Arbeit auf etwas anderes an als in dem Buche Rauschnings: nämlich auf die Aufweisung und Klärung der geistigen Grundlagen des heutigen Geschehens in sich selbst, nicht wie dort auf ihren Ausdruck in der politischen Wirklichkeit.

Wenn ich Ihnen von den geistigen Tragkräften des Kollektivismus, vor allem des nationalistischen Kollektivismus, spreche, so denke ich selbstverständlich nicht an die Blut- und Rassentheorien, etwa an Rosenbergs „Mythos des zwanzigsten Jahrhunderts“ oder an die zahllosen ähnlichen, einen wahnhaften Nationalismus begründenden Bücher. Denn alle diese Bücher stehen zwar Schwarz auf Weiß gedruckt; aber Geist sind sie darum noch nicht; sie sind lediglich Waffen im politischen Machtkampf: Politik und Propaganda.

Die geistigen Tragkräfte, von denen ich Ihnen sprechen möchte, sind vielmehr sehr ernst zu nehmende Erscheinungen. Es sind Anschauungen verschiedener Art, die aus denselben Zeitverhältnissen hervorgegangen sind, wie die Faschismen, die Spuren dieser Zeitlage unverwischbar an sich tragen und, indem sie sich ihr nicht entgegenwandten, sondern sie gestalteten, deuteten und in dieser Gestaltung und Deutung vertieften, dem Faschismus in jeder Gestalt neben sich Raum gegeben und ihn geistig unterbaut haben. Es ist nicht Konjunkturphilosophie; denn alle diese Gebilde und Deutungen sind vor der Machtergreifung, wenigstens des Nationalsozialismus, entstanden, gleichzeitig mit den anwachsenden Faschismen. – Die Zeitgrenze dieser neuen geistigen Einstellung ist in der geschichtlichen Wirklichkeit selbst als ein tiefer, abgründig tiefer Einschnitt gegeben: es ist die des Weltkrieges. Der große Krieg ist die Wasserscheide zwischen den Welten, von der aus alle, zum Teil auch vorher schon bestehenden Strömungen des Lebens und Denkens die entgegengesetzte Richtung nehmen.

Um die Richtung, die das neue Denken genommen hat, zu klären, müssen wir uns noch einmal kurz die Lage bei Kriegsende vergegenwärtigen. Eine grenzenlos ernüchterte und verstörte Generation kam in allen Ländern aus dem Kriege zurück. Sie hatte den Zusammenbruch und die Hohlheit aller noch eben bestehenden Werte und Ziele im Kriege erlebt. Und nicht, wie man während des Krieges erwartet hatte, öffneten sich dieser Generation nach dem Ausfall ungezählter Menschenleben die von ihnen verlassenen Stellungen; sondern wie durch einen teuflischen Spuk geschah das genaue Gegenteil: die Heimat verschloß sich den Zurückkehrenden wie eine Mauer; für die Masse der ins Land zurückflutenden Truppen gab es in den durch den Krieg zerrütteten Ländern und Betrieben keine Stellungen mehr; und die im Krieg erprobte Herrschaft der Maschine verdrängte zugleich immer mehr menschliche Kräfte. Ein Heer von Arbeitslosen erfüllte die Länder. Und aus der grellen Ernüchterung, dem grauen Zynismus, vermischt mit dem Gefühl der Unwirklichkeit des Lebens in den eben erst dem Tode Entronnenen, entsprang ein wilder, ausgelassener Rausch und Taumel. Es war Karneval und Aschermittwoch zugleich. „Esset und trinket, denn morgen seid Ihr tot“, das war die Lehre, die eine verwilderte, um ihr Leben betrogene, von der Todesnähe und den Greueln des Krieges zerstörte, aus Arbeit und Beruf gerissene und von ihnen nicht wieder aufgenommene Generation aus der absoluten Ziellosigkeit und Sinnlosigkeit ihres Daseins schöpfte. Nun raste mitten aus dem Kriege heraus zügelloser tanz durch alle Lokale, nun wurde der Körper in jedem Sinne: in Tanz, Sport und Spiel, in jeder Art von Genuß anstelle des versunkenen Geistes und der verlorenen Seele als einziger Sinn des Lebens aufgestellt. Zuerst war alles nur Taumel und Raserei mit geschlossenen Augen. Dann brach die kahle Hoffnungslosigkeit sich immer mehr Bahn. Zahllose Existenzen standen vor dem Nichts, zahllose stürzen in das Nichts ab. Der Selbstmorde, der Zusammenbrüche war – vor allem in Deutschland – kein Ende. Das Einzelleben verlor jeden Wert und Sinn; denn es hatte seinen Ort und seine Aufgabe verloren; es zählte einfach nicht mehr. Und zugleich sank der Boden tiefer und tiefer ein. Mit dem beispiellosen Zerfall aller Realwerte, wie er in der galoppierenden und gigantischen Entwertung der deutschen Währung einen ebenso wirklichen wie symbolischen Ausdruck fand, ging der fortschreitende Zerfall aller sittlichen und geistigen Werte unmittelbar Hand in Hand. Die Jugendbewegung, diese bei aller Lautheit greisenhaft hoffnungslose Bewegung, die in Ermangelung jedes Wertes und Gehaltes die Jugend selbst, das bloße Jungsein, als Banner über sich aufpflanzte und die in ihrer kleinbürgerlichen Unbürgerlichkeit nicht ohne Einfluß auf die spätere Gestaltung der deutschen Wirklichkeit blieb, bedeutete im Grunde nichts anderes als die totale Absage an eine Generation, in deren Zusammenbruch sie sich selber fand.

Die große Romankunst der Nachkriegszeit, vor allem die angelsächsische: die amerikanische und englische, aber auch die der meisten anderen großen Kriegsländer, gibt ein großartig grauenvolles Bild dieser zerfallenden Welt. In allen diesen Romanen ist das Leben in den verschiedensten Gestalten als die bloße Maske des Todes gezeichnet; überall blicken Nacht und Tod und alle Mächte der Zerstörung herein und steigern den Rausch des bloßen, besinnungslosen Lebens. Die Dichter Joyce, Lawrence, O’Flaherty, Hemingway und viele andere ihnen nachfolgende haben, jeder auf seine Weise, diesen totalen Verfall der geistigen Wirklichkeit dargestellt.

Der Hauptgegenstand der angelsächsischen Romane ist der radikale Verlust des Wortes als eines Verständigungsmittels zwischen den Menschen, so daß nun nicht mehr die Geister und Seelen, sondern nur noch die Leiber sich begegnen können. Am radikalsten hat der amerikanische Dichter Hemingway diesen Verlust des Wortes in der Nachkriegszeit ausgesprochen, indem er einen seiner Helden sagen läßt, daß nach der Entweihung, Entwertung aller Worte durch den Krieg eigentlich nur noch Eigennamen, Straßennamen, Ortsbezeichnungen ihre Wahrheit behalten haben, weil nur sie eine noch bestehende Wirklichkeit ausdrücken. – So ist diese große, trauervolle Kunst in gewissem Sinne mit zu den geistigen Stützen des Faschismus geworden; denn sie hat, indem sie den Weltzerfall in seiner Wahrheit in eindringlichsten Formen zeichnete, dadurch zugleich mächtig an diesem Zerfall mitgearbeitet. Ihre Wirkungen im Leben der neuen Generation sind kaum abzumessen, und viele der neuen Nihilismen gehen auf sie zurück.

Ich gebrauche des Wort Nihilismus, d. h. Bejahung des Nichts, Bekenntnis zum Nichts. Denn wenn man unsere Zeit überhaupt, so wie sie sich vom Kriege an darstellt, charakterisieren will, so drängt sich uns von überall her das Wort auf: Nichtigkeit oder Nichts. Alles Etwas ist in ihr im tiefsten Sinne fragwürdig geworden. Aller Sinn, alle Bedeutung scheinen in ihr erloschen; die Dinge sind dunkel und leer geworden; alles taucht in wachsendem Maße in den Schatten der Weltstunde ein. Es ist, als verbliche und zerfiele die Welt als Schöpfung immer mehr, als würde das Siegel Gottes auf den Dingen von Tag zu Tag unsichtbarer.

Der wachsenden Vernichtung der menschlichen Gesichter, der wir überall begegnen, entspricht in nicht minder beängstigender Weise der verloren gegangene Blick für das Menschengesicht. Das zeigt sich im Schicksal der Einzelnen wie der Völker. Aber nicht nur in den heutigen Gesichtern, auch in den heutigen Gestalten finden wir keine Festigkeit mehr. Das sehen wir am deutlichsten an den Figuren der Männer, die die Völker über ihr Schicksal entscheiden lassen. Wie Marionetten, die an ihren Fäden nicht richtig festgehalten werden und so fortwährend wanken, schwanken und umfallen, bewegen sich die einen, wie leere Schattenbilder bewegen sich die anderen vor uns auf der Bühne des Lebens hin und her, und ganz andere Wirklichkeiten als jene, die sie zu vertreten vorgeben, scheinen durch ihre transparenten Erscheinungen hindurch. Gibt es nicht vollends in unserer Welt eine Gestalt, die deutlich an die Figur einer spanischen Legende erinnert, in der ein Ritter in schwarzer Rüstung mit geschlossenem Visier, dessen Antlitz nie ein Mensch gesehen hat, mit ungeheurem Lärm und Getöse lange Zeit durch eine blühende Gegend tobt, alles verwüstet, was ihm in den Weg kommt, und ganze Horden von Menschen in die Flucht schlägt – bis eines Tages ein einzelner, wahrhaft tapferer Ritter im Namen des Kreuzes auf ihn eindringt, sein Visier gewaltsam öffnet und die Rüstung – leer findet?

Diese Legende zeugt aber noch von etwas anderem als von dem Lärm, den das Nichts um sich her zu verbreiten vermag: sie lehrt auch, daß es falsch wäre, zu glauben, das Nichts sei ohnmächtig. Sie lehrt im Gegenteil, welche ungeheure, verheerende macht das Nichts in einer Welt gewinnen kann, in der es nicht als solches entlarvt, durchschaut ist. Und mehr noch: man begreift, wie allüberwältigend diese Macht anwachsen muß in einer Welt, die diese Entlarvung um ihrer Interessen willen nicht will und gar nicht wollen kann.

So gesellt sich zu den schwanken Gestalten, deren Visier niemand zu öffnen wagt, mit Notwendigkeit die eigentliche Dienerin und Vollstreckerin des Nichts: die Lüge. Sie, die alle Wahrheit und Wirklichkeit grundsätzlich verneint und aufhebt, hat, indem sie in unserer Welt in einer vor dem Kriege gar nicht vorstellbaren Umfänglichkeit und Schamlosigkeit gehandhabt, von der Technik in phantastischen Ausmaßen unterstützt und durch die Welt getragen wird, die ganze Wahrheit und Wirklichkeit unseres Lebens unterminiert und bereits zum größten Teil in die Luft gesprengt.

So ist die letzte Grundlage des Faschismus überall das Nichts. Wie aber ist es denkbar, daß der Geist einer solchen Wirklichkeit seine Dienste geleistet, ja, daß er sie mit erzeugt hat? Es wäre unmöglich, wenn er nicht selbst so tief in sie hineingezogen wäre. Auf Wahrheit in dem Sinne, in dem wir sie bisher verstanden, kann sich dieser Geist nicht stützen; und wirklich hat sich auch der Begriff der Wahrheit in unserer Zeit – und zwar auf allen Wissensgebieten – entscheidend verändert. Ruhte dieser Geist einfach auf der Lüge, so lohnte es weder ihn zu betrachten, noch hätte sicher trotz allem eine ganze Generation, hätten Generationen ihm zum Opfer fallen können. Es handelt sich um etwas weit Gefährlicheres, um ein Denken und Erkennen, dem der Boden der Wahrheit unter und Füßen fortgezogen ist und das sich zu dieser Boden-losigkeit im wahrsten Sinne des Wortes bekennt, dem darum die Wahrheit selbst letzthin nichts anderes bedeutet als die Einsicht in das Nichts, in dem wir stehen.

Es mag schon ähnliche Zeiten des Nichts und der Vernichtung gegeben haben wie die unsere. Vielleicht war der Untergang des großen Römerreiches – wenn auch in weit weniger gewaltigen Dimensionen – eine ähnliche Zeit. Niemals und nirgends aber – das können wir aus allen geistigen Zeugnissen aller Zeiten entnehmen – hat es eine solche Einsicht in das Nichts und ein so schrankenloses Bekenntnis zum Nichts gegeben wie in unserer Welt. Allen Theorien, allen Systemen unserer Zeit liegt – ausgesprochen oder unausgesprochen, meist aber in voller Klarheit – das Nichts und das Bekenntnis zum Nichts zugrunde.

Um mit diesem Nichts eine genaue Vorstellung zu verbinden, müssen wir uns aber zunächst über seine Art klar zu werden suchen. Denn das Nichts ist an sich ein uralter, ehrwürdiger metaphysischer Begriff – so alt wie die Menschheit selbst. Immer bedeutet es die Grenze unseres Daseins. Denn sehr schnell stößt ja unser kurzes, vergängliches Menschendasein in Raum und Zeit, in Leben und Erkennen an die Grenze des Nichts und des Todes, die für unser irdisches Dasein das Nichts ist. Überall, wo wir von uns aus ein Ganzes zu ergreifen streben (und dies Verlangen nach einem Ganzen ist dem Geist trotz der Kürze und Beschränktheit unseres Lebens unsterblich mitgegeben; ja: dies Verlange ist überhaupt der menschliche Geist) – überall da stoßen wir an die Grenze des Nichts. Unser Leben wie unser Erkennen ist ein winziger beleuchteter Ausschnitt in einer großen uns umgebenden Dunkelheit von Nichts und Tod.

Darum ist keine große Weltdeutung oder Weltdarstellung je ohne das Nichts ausgekommen. In der Bibel liegt es als Chaos der Schöpfung der Welt voran. Durch die Schöpfung Gottes aber und durch seine Offenbarung ist es ursprünglich überwunden; und es in jedem Einzelleben aus der Kraft der Schöpfung und der Offenbarung neu zu überwinden, ist in ihr als Aufgabe und Sinn des menschlichen Daseins gesetzt. – Ganz anders steht es nun aber mit der größten und in sich geschlossensten Konzeption des Nichts, die wir kennen: mit der alten Inder: der Buddhas, die ich hier streifen muß, weil in ihr das Nichts eine positiven Sinn für das Leben des Menschen hat. Dem Auge, das, in die letzten Tiefen schauend, den Tod gesehen, dem das Nichts sich gezeigt hat, dem enthüllt sich von dort aus alle Wirklichkeit der Erdendinge als bloßer, täuschender Schein, als ein bunt und verlockend gewebter Schleier, hinter dem als Wahrheit das große All-Nichts steht. Aber aus der Einsicht in die Scheinhaftigkeit der Dinge, aus dem ihnen als ihrer Wahrheit zugrunde liegenden Nichts erwächst nun dem Menschgeist eine gewaltige Aufgabe: die Aufgabe, die Welt unserer Erfahrung, die die Menschen so unendlich mit Lust und weit mehr mit Schmerz bedrängt, immer mehr als täuschenden Schein zu durchschauen, sie wie einen Traum abzustreifen, um aus ihm zu immer vollkommenerer Klarheit zu erwachen. Dieser Weg der Durchdringung des Scheins bis zum Erlöschen aller Sinnendinge, zum Erwachen zur Wahrheit ist ein einziger streng geordneter und gestufter Läuterungsprozeß des Menschen. Denn der Weg zum Nichts ist hier zugleich als der Weg zur Wahrheit, der zur Vollkommenheit, zur unendlich schwer zu erreichenden menschlichen Vollendung führt. Vom Nirwana her, das nicht nur das Nichts, sondern auch die Wahrheit, nicht nur Erlöschen, sondern auch Erlösung bedeutet, weht Reinheit, Entsühnung, Verklärung in das menschliche Leben. Und mit tiefer Klarheit und Frommheit gestaltet sich von dieser großen Lichtquelle aus auch das Leben der Gemeinschaft.

Hat man einen Blick auf diesen Nichts geworfen und kehrt man in unsere Welt zurück, so befällt einen erst das ganze Entsetzen vor dem, was das Nichts in unserer Welt bedeutet. Denn dies Nichts ist ja nicht Klarheit, Wahrhaftigkeit, Entwirrung und Vollendung, sondern es ist Verfinsterung, Lüge, Auflösung, Zersetzung, Verlust aller Werte, aller Maßstäbe und Gesetze, ein Absturz in das nicht mehr Greifbare. Es ist das Nicht einer Welt, in der das Jenseits von Gut und Böse, das Nietzsche als geheime Lehre für einige wenige geistesstarke und zutiefst vornehme Menschen aufgestellt hatte, die volle, entsetzliche Wirklichkeit Aller geworden ist.

Es ist nun eingestandenermaßen das Wesen des Faschismus – zumal in Deutschland ist das immer wieder ausdrücklich ausgesprochen worden – , daß er auf dem Nichts erwächst, daß er dies Nichts vollzieht, indem er es freilich zugleich teilweise überdeckt. In Ursprungsland des Faschismus: in Italien, ist es neben dem Franzosen Sorel, dem geistigen Vertreter des absoluten Machtgedankens (in einem konkreteren politischerem Sinne als bei Nietzsche), ein Dichter gewesen, der dieser Denkweise ganz real vorgearbeitet und den heutigen Faschismus mitbegründen hat: Gabriele d’Annunzio. Indem er, der selbst eine Stadt erobert hat, einen rauschhaften dichterischen Enthusiasmus der Vaterlandsliebe, einen schrankenlosen nationalen und persönlichen Egoismus in eins mit dem politischen Machtgedanken verkündet hat, hat er das begangen, was ein bedeutender Franzose, Julien Benda, bald nach dem Kriege in einem Buch, das ein Gericht über die Intellektuellen der Nachkriegszeit ist, „La trahison des clercs“[i] genannt hat. Die italienische Philosophie dagegen hat in ihrem weitaus bedeutendsten Vertreter Benedetto Croce diesen Verrat der Geistigen nicht begangen; er ist, obwohl, gewiß andererseits auch weil, Nachfolger Hegels, der großen Tradition des europäischen Denkens treu geblieben. Geringere Erscheinungen, die dem Faschismus erlegen sind, interessieren uns hier nicht; denn nicht das Denken, das dem Faschismus erlegen ist, sondern das, das ihn mitbegründet und trägt, kommt hier in Frage.

Als eigentlicher und sozusagen klassischer Vertreter der faschistischen Philosophie Italiens tritt uns nun kein Geringerer entgegen als Mussolini selbst. Wir besitzen von ihm eine knappe Zusammenfassung der heutigen italienischen Philosophie „La dottrina del Fascismo“.[ii] Es ist der Grundgedanke dieser Philosophie, daß der Mensch außerhalb der Geschichte – wie es zunächst ausgedrückt wird – nichts, wirklich nichts ist. Der Einzelne, das Individuum, erhält hier wie in jeder faschistischen Denkweise seinen Abschied als ein Begriff, eine Fiktion des verpönten 19. Jahrhunderts und seiner Ideale: des Liberalismus und Idealismus. Es ist ein überaus lehrreiches Schauspiel, den ganz realen Zerfall des Einzellebens, der Individuen als selbständiger Wirklichkeiten hier als eine geistige Konzeption wiederzufinden. Denn durchaus behauptet Mussolini, daß der Faschismus nicht nur ein Regierungssystem, sondern vor allem ein Gedankensystem „un sistema di pensiero“ sei. Ja, er bezeichnet ihn auch durchaus als eine ethische Konzeption, und zwar, „insofern er den wesenhaften Wert der Arbeit anerkenne, mit der der Mensch die Natur besiegt und die menschliche Welt schafft“.

Wie sieht sie aus, diese menschliche Welt des Faschismus? „Seria, austera, religios, ernst, streng religiös“, verkündet Mussolini. „Der Faschismus verachtet das bequeme Leben. Antiindividualistisch, ist die faschistische Konzeption für den Staat und ist für das Individuum, insofern es mit dem Staat zusammentrifft, Universalbewußtsein und Unversalwille des Menschen in seiner geschichtlichen Existenz.“ Ja, wir erfahren – wir trauen unseren Augen nicht – : „Der Faschismus ist für die Freiheit“, nämlich, so wird sofort hinzugefügt: „für die einzige Freiheit, die eine ernsthafte Sache sein kann: die Freiheit des Staates und des Individuums im Staat.“

So wird die Freiheit des Staates, die die vollendetste Unfreiheit des Individuums bedeutet, ohne weiteres mit der Freiheit des Individuums, wir die menschlich-geschichtliche Existenz ohne weiteres mit der staatlichen gleichgesetzt. Der realen Machtergreifung durch den Staat unterschiebt sich die geistige. Der Punkt, in dem das Individuum mit dem Staat zusammentrifft, gilt als sein allein wirkliches, geschichtliches Dasein. Und als das „religiöse“ Element diese „ernsten, strengen“ Dienstes bleibt allein die passive, fraglose Einordnung in den Staat.

Wir sehen, wie sich hier alle Begriffe, wie von einem einzigen Wirbel erfaßt, gegen ihre eigentliche Bedeutung herumdrehen: der des Individuums, der Geschichte, der Freiheit und damit notwendig der des Ethischen und Religiösen.

Zugleich aber haben wir damit die Elemente der faschistischen Weltauffassung in der Hand. „Fehlt leider nur das geistige Band“, könnten wir mit Faust fortfahren. Dafür ist das reale um so sichtbarer. Denn deutlich können wir erkennen, wie sehr alle Begriffe diesen Systems der vorliegenden Wirklichkeit unmittelbar entnommen und ihr wiederum angepaßt sind. Der Mensch, der, von geschichtlichen Mächten überrannt, erfahren hat, daß sein Einzeldasein keinen Sinn mehr hat, ja, daß es überhaupt nicht mehr zählt, sieht sich plötzlich als „geschichtliche Existenz“ wieder zu einer Wirklichkeit, ja zu einem Sinn gelangen. Der Mensch, der jede Bindung an eine Gemeinschaft verloren hat, sieht sich plötzlich von einem Staat, der ihm Aufgaben gemeinsamer Art schenkt, aufgenommen. Einer Welt, in der die Arbeit Sinn und Wert verloren hat, in der es für eine große Zahl von Mensch Arbeit überhaupt nicht mehr gibt, tritt eine Welt, die sich ausdrücklich eine Welt der Arbeit nennt (und die ja auch in einer ganz bestimmten Art Arbeit zu vergeben hat), gegenüber. Einer Zeit, die alle festen Werte und Maßstäbe eingebüßt hat, wird plötzlich eine strenge Werteinteilung gegeben. Einer Welt, die keine Hingabe mehr kennt, bietet sich ein Gegenstand der Hingabe bis zur Selbstaufgabe. – Und zugleich damit wird auf der anderen Seite den Existenzen, die die Verantwortung für das eigene Leben und das ihrer Nächsten nicht mehr tragen können, die Verantwortung abgenommen und ihnen eine Scheinverantwortung auferlegt, die darin besteht, daß in einer bedingungslosen Unterordnung alle eigene Verantwortung aufgegeben wird, „Consapevole, mitbewußt, mitverantwortlich“, das ist das immer wieder gebrauchte, zutiefst irreführende Wort Mussolinis. Denn Mitbewußtheit, Mitverantwortlichkeit sind doch Begriffe, die in dem totalen Staat, den er allein leitet, ihren Sinn verloren haben. Wohl aber wird mit diesem völlig ausgehöhlten Wort einer Generation, die die Ungültigkeit aller bestehenden Ideale durchschaut hat, etwas geboten, das den moralisch erschöpften Existenzen als eine neue Ethik einleuchten mag. Was endlich die immer wiederholte Absage an ein bequemes Leben betrifft, so ist damit doch ganz einfach ein Ausdruck und eine Bejahung der bestehenden Lage gegeben. Denn das ist ja eben die Lage dieser Generation, daß ein bequemes Leben für sie nicht mehr möglich ist. So enthüllen sich alle Begriffe dieses neuen Gedankensystems als aus der empirischen Lage gewonnene reine Dekrete und zugleich als ebenso viele Köder. Denn Mussolini stellt diese Gedanken nur einfach auf. Er gibt ihnen nirgends eine tiefere Begründung. Sein Gedankensystem hängt gedanklich in der Luft. Er schiebt die Begriffe einfach wie Figuren auf einem Schachbrett willkürlich hin und her. Er ist kein Philosoph; sein Gedankensystem ist nicht durchdacht.

Darum ist seine Philosophie, obwohl es die des leitenden Staatsmannes selbst ist, als solche, d. h. rein geistig gesehen, weit ungefährlicher als die deutsche, in der die faschistischen Grundbegriffe durch und durch zu Ende gedacht, auf allerletzte Kategorien des Geistes zurückgeführt sind. Denn dadurch lauert in ihnen für den Geist die weit tiefere Gefahr. Daß aber diese Begriffe in Deutschland wirklich mit strengem Ernst durchdacht worden sind, daß so die neu heraufkommende Wirklichkeit mit den Mitteln eines subtilen Denkens unterbaut worden ist, das wäre nicht möglich gewesen, wenn dies Denken nicht einerseits vom selben Wirbel des Geschehens erfaßt und um sich selbst gedreht worden wäre wie die Politik, wenn nicht andererseits dies Denken ein sehr weites und mächtiges Erbe angetreten hätte, in dem die Auseinandersetzung mit der wachsenden Weltveränderung schon begonnen und zu einem großen Teil geleistet war. Ganze Ströme durchdachten Lebens mündeten von allen Seiten in es ein. Stromweise sind vor allem die Auflösungen und Vereinungen in dies Denken eingeflossen. Als Auflösung aller festen Werte und Gesetze wirkte schon die Lebensphilosophie in all ihren ganz verschiedenen Gestalten, indem sie das sich sinn- und wertfremde Leben anstelle der bisher gültigen gesetzhaften Vernunft zur Basis des menschlichen Daseins und Erkennens machte. Dazu gesellten sich als eine noch unheimlichere Erbschaft die drei großen Analysen. Als erste die der Gesellschaft, die in Marx, den bisherigen bürgerlichen Verschleierungen gegenüber, die wahre und zutiefst fragwürdige Struktur der modernen Gesellschaft aufdeckte und, indem sie damit den bis dahin unterhalb der Geschichte verborgenen großen Hauptmassen der Menschen den Eintritt in das Tageslicht des geschichtlichen Daseins erzwang, diese selbst zum Träger des geschichtlichen Daseins machte und so das Individuum in wachsendem Maße aus dem Zentrum des Geschehens verdrängte. Als zweite die Analyse der menschlichen Seele, die, indem sie in Freud gleichfalls ein bisher verborgenes, dunkles Unterreich des Menschlichen mit seinen Kräften und Gesetzen erschloß und das Licht des Wissens in das bis dahin nur in Traum, Mythos und Dichtung geahnte geheimnisvolle Reich des unterbewußten Daseins fallen ließ, das allein durchforschte bewußte Leben nur als einen Teil, einen winzigen Ausschnitt des Menschenlebens enthüllte, und so gleichfalls die Substanz der einzelnen Seele, der persönlichen Ich bis tief hinab auflöste. Als dritte kam schließlich die phänomenologische Analyse, die ursprünglich, in ihrem Entdecker Husserl, sich streng auf die Ergründung des reinen Denkens beschränkte, um von ihr aus zu einem tieferen Wahrheitsgrund vorzudringen, die dann aber von seinen Schülern und Nachfolgern immer entscheidender auf die Phänomen der menschlichen Wirklichkeit angewandt wurde.

Diese drei Analysen strebten jede auf ihrem Gebiet zu einer neuen Echtheit und Wahrheit des Denkens und Lebens. Und indem sie sich dann alle mit der Lebensphilosophie wieder verschlangen, stellten sie gemeinsam in ungeheurer Verdichtung nach dem Kriege zum erstenmal eine seit langem verstummte Frage: die Frage des Menschen nach seiner eigenen Wirklichkeit.

Es ist selbstverständlich, daß mit der Frage: „Was ist der Mensch?“, sobald sie in ihrem vollen Ernst gestellt wurde, auch eine andere, seit langem im Denken verstummte Frage wieder heraufkam: die Frage nach Gott. Wohl war diese Frage lange vor dem Kriege von den beiden Blumhardts und vom ganzen religiösen Sozialismus nicht so sehr als Frage gestellt wie in prophetischem Geiste beantwortet und in einer gottfremden Zeit mit tiefster Lebendigkeit gelebt worden. Das weltliche Denken aber, die Philosophie, wußte zu jener Zeit, in der noch Nietzsches verzweifelter Triumphschrei: Gott ist tot! nachhallte, nichts mehr von Gott und einer Ergründung des Göttlichen. Und im Kriege gellte dann der Aufschrei Nietzsches millionenstimmig aus den Tiefen der unseligen Menschheit selbst auf, ward Gott wie nie vorher in der christlichen Welt zur reinen, brennenden, schreienden Frage. In dieser Form: als verzweifelte Frage einer verlorenen Welt wurde sie von einer neuen Theologie aufgenommen, die zwar ursprünglich gleichfalls von Blumhardts und des religiösen Sozialismus echtem, lebendigem Gotteswissen ausgegangen war, die aber unter der zerstörenden Gewalt des Kriegs- und Nachkriegserlebnisses allein noch den Schrei, die Frage vernahm und, indem sei sich aus ihm heraus einer langen deutschen Denktradition entgegenwandte, sich schnell und mit großer Wucht auf den entgegengesetzten Weg, in die schroffste Einseitigkeit des Daseins begab und so erst die gefahrvolle Erbschaft des deutschen Denkens nach einer entscheidenden Seite hin vollendete. Indem sie die zu enge Verknüpfung von Göttlichem und Menschlichem in allem Idealismus und Individualismus gewaltsam löste und mit unerbittlicher Strenge vor allem auf den erfahrenen, unermeßlichen Abgrund zwischen Gott und Mensch hinwies, hat sie die Nichtigkeit, das Nichts alles Menschendaseins mit einer weit größeren Gewalt und Unmittelbarkeit als jede andere Bewegung dieser Zeit enthüllt. Denn sie hat es unter einem Zeichen getan, das keine der anderen Konzeptionen des Nichts mehr erblickte und bejahte: unter dem Zeichen und dem Gericht des Kreuzes. Und indem so die Beziehung zwischen Gott und Mensch in eine ungeheure Fragwürdigkeit eintauchte, hat zugleich das starre Haften am reinen Wort diese Theologie aus dem Kreise des Lebens und Wirkens entrückt.[iii]

Es war das Zwingende dieser Lehre, daß sie Gott, daß sie das Kreuz über einer in schwarze Nacht und Zerstörung gesunkenen Menschenwelt mit um so größerer Gewalt und Leuchtkraft wieder sichtbar gemacht hat – fast möchte ich sagen: das Kreuz, aber nicht den Gekreuzigten. Nicht den im Tode Lebendigen, vom Kreuz Genommenen, Auferstandenen, unter dem das leere Kreuz als bloßes Zeichen zurücksinkt und der sich nun als der ewig Lebendige wirkend und fordernd in der Menschwelt zu erkennen gibt: nicht als den, der gekommen ist, unser Leben umzugestalten – sondern für unser irdisches Dasein rein als Gericht, als Frage und als völlig unwägbare, unerreichbare Gnade.

Gewiß war dies Weltbild im Entsetzen der vom kriege zerrütteten Welt von einer ungeheuren Überzeugungskraft, der selbst die Passivität, zu der es den Menschen letzthin verurteilte, mit diente. Gewiß hat es das in einem Meer von Greueln untergehende Sündenbewußtsein der Menschen wieder erweckt und mächtig gestärkt. Aber indem es nur dies Bewußtsein stärkte und die Sünde, die Sündensituation der Menschheit derart als das unausweichliche Teil der Menschheit zeigte, lähmte dieses Denken, weit mehr noch als zu seiner Zeit das Luthers, auch wieder das Entsetzen vor der Sünde, erstickte es jeden Versuch zum tätigen Sich-Entwinden aus dieser entsetzlichen Lage, jeden Antrieb zur Tat. Denn was ist im Einzelnen noch Sünde, wenn alles Leben Sündhaftigkeit und Sünde ist? Was ist Krieg, was Mord, wenn jeder Mensch – wie es der deutsche Theologe Gogarten in zahllosen Wiederholungen ausgesprochen hat – schlechthin ein Mörder ist, wenn er es so sehr ist, daß zwischen dem virtuellen Mörder, der jeder Mensch ist, und dem wirklichen Mörder im Angesicht seiner Tat kein Unterschied besteht?

Mit dem abgründigen Nihilismus, den diese Theologie so für alles Menschliche heraufgeführt hat, mit ihrer Entwertung der Entscheidung, mit ihrer Hinnahme und Anerkennung des bloß Tatsächlichen schuf sie dem Faschismus und jeder Art von Gewaltherrschaft neben sich Raum. Ja, sie mußte ihm und seiner Vernichtigung des Einzeldaseins grundsätzlich zustimmen; denn aus dem Gedanken heraus, daß der Mensch als solcher völlig verloren ist, bejaht sie, wie Luther, den Staat als eine Form der göttlichen Schöpfungsordnung, geschaffen um der Bosheit der Menschen willen, damit sie einander nicht völlig wie wilde Tiere in Stücke reißen. Die Wirklichkeit eines Staates: ob er wenigstens dem Wollen, dem ihm innewohnenden Geiste nach gerecht oder ob er prinzipiell gegen die Gerechtigkeit gerichtet ist und aller Menschlichkeit Hohn spricht, entfällt dabei grundsätzlich völlig. Es ist das extreme Wiederaufleben der Staatskonzeption Luthers, die über die Staatsvergottung Hegels hinweg das ganze Deutschland politisch ruiniert und die deutschen Menschen von jeder Verantwortung für ihre gemeinsame Wirklichkeit abgeschnitten hat.

Diese Theologie ist als ein entscheidendes Element miteingeströmt in diejenige deutsche Philosophie, in der sich alle Haupt- und Grundströmungen des deutschen Denkens: die Lebensphilosophie, die drei großen Analysen und eben die negative Theologie selbst wie in einem weiten Becken gesammelt haben: die Philosophie Martin Heideggers. Diesem Denker gaben die verschiedenen Denkrichtungen, in die er hineingestellt war, alle Möglichkeiten zu einer Ergründung des Menschendaseins in die Hand, wie sie in der Geschichte das menschlichen Geistes so noch nicht gegeben waren. Heidegger hat der im Schatten des Todes stehenden Generation zwischen zwei Kriegen: dem eben vergangenen, dessen Folgen noch ihr Leben verwüsten, und dem kommenden, der ihr durch seins ungeheuerlichen Vorbereitungen jede Lebenshoffnung nimmt, eine reine Philosophie des Todes und des Nichts geschenkt. Eines Nichts, das nun nicht mehr vom Kreuz aus gesehen und so trotz allem vom Strahl einer fernen Gnade gestreift wird, eine Nichts noch weniger im Sinn des erlösenden indischen Nirwana, sondern eines Nichts, das – als Überrest und zugleich als Gegensatz einer christlichen Weltanschauung – das reine, ziel- und richtungslose Nichts schlechthin ist: „die schlechthinige Verneinung der Allheit des Seienden“, wie Heidegger selbst es bezeichnet hat. Und doch ist in dieser Welt des Nichts die Spur des Kreuzes noch sichtbar: es ist die christliche Welt, wie sie nach dem Fortziehen des Kreuzes über ihr zurückbleibt. Das Kreuz erlischt, die Vernichtigung durch das Kreuz bleibt. Jeder Blickpunkt außer und über der Welt ist dem Menschen verloren. Dort, wo als ewiges Zeichen noch eben das Kreuz stand, ist nichts mehr zu finden. Und doch erkennen wir in den letzten Tiefen dieses Weltbildes deutlich noch seine vom Christentum bestimmte Struktur.

Was Heidegger zu ergründen strebt, worauf allein es ihm ankommt, ist das menschliche Dasein. Er nennt es auch mit Kierkegaards Wort die Existenz. Es geht ihm also nicht um ein abstraktes, losgelöstes Wissen, sondern er sucht wirklich zu verstehen, wie und woraus der Mensch lebt und wie er leben soll. Auch er begreift – wie schon Kierkegaard – die menschliche Existenz grundsätzlich als eine geschichtliche, d. h. als eine solche, die nur als ganz konkrete, in die gegenwärtige Lage mit allen ihren Bedingungen verwobene und von ihr geprägte zu verstehen ist. Und von dieser Voraussetzung aus ist es tief bedeutsam, daß dem erkennenden Menschen dieser Zeit das Menschdasein (das Heidegger selbst freilich doch wieder als das Dasein überhaupt zu fassen meint) sich enthüllt als gebunden und bestimmt vom reinen Nichts.

Heidegger hat die Metaphysik, diese Wissenschaft des Menschen von dem, was über ihn hinausliegt, dies Suchen des Geistes nach sich selbst und seinen Quellen, bezeichnet als ein „Sich-los-lassen in das Nichts“. Das Nichts, die Todverfallenheit des Lebens, wird damit zu dem, was allein es letzthin zu ergründen gilt. Das Nichts ist als das erkannt, was allem Menschleben vorausliegt und ihm darum die Richtung geben soll. Und das nimmt nun bei ihm eine seltsame und tiefe Form an. Der Unheimlichkeit und Leere, der Todverfallenheit und Nichtigkeit des Menschendaseins entsprechend ist sein Grundgefühl die Angst. Und diese Angst (die gleichfalls in dem großen Angstbegriff Kierkegaards wurzelt) ist wiederum ein in seinem Ursprung durchaus christlicher Begriff. Denn es ist nicht allein die Angst vor dem Nichts, vor dem Leben in steter Gegenwärtigkeit einwohnenden Tod, der es vernichtigt; sondern es ist die Angst vor dem Nichts in einem sehr viel tieferen Sinne: es ist die Angst der Existenz um ihren Sinn. Es ist die Angst um den Weg, den wir zu gehen haben, die furchtbare Angst um das Verfehlthabenkönnen des eigenen Lebens, ja um die Wahrscheinlichkeit dieses Verfehlens in der Weglosigkeit und Maßstablosigkeit des Nichts, dem wir preisgeben sind.

Wie kommt es aber vom Nichts aus überhaupt zu einem möglichen menschlichen Weg? Etwas zutiefst Christliche ist in dieser gottverlassenen Welt übriggeblieben: Das Nichts ruft uns. Denn es ist kein bloßes, abstraktes Nichts, kein bloßer Begriff; es ist ein wirkliches, wirkendes Nichts, das sich uns offenbart. Das Nichts wirkt; Heidegger scheut nicht zurück vor dem seltsamen selbstgeprägten Wort: „Das Nicht nichtet.“ Dieses Nichten, diese Selbstoffenbarung des Nichts äußert sich in unserem Dasein als Anruf aus der letzten Tiefe des Seins: als Anruf des Todes an das menschliche Gewissen.

Nicht mehr gibt es Gott, nicht mehr Christus, nicht mehr das Kreuz; alles noch so ferne Heil ist versunken; nicht mehr gibt es einen bestimmten Gehalt des Lebens, nicht mehr ein klares Gut und Böse. Alle Maßstäbe sind zerbrochen und verloren. Gott hat in seinem Sturz die sittliche Weltordnung mitgerissen in das Nichts.

Und doch lebt noch die Sehnsucht nach dem Heil und etwas wie eine dunkle Verantwortung für das Heil. Denn nicht anders können wir das Seltsame und geheimnisvolle verstehen, daß aus dem Nichts uns ein Ruf, ein Anruf kommt, und daß er uns gerade dann kommt, wenn wir uns ganz „in da Nichts loslassen“. Denn das bedeutet doch: wenn wir alles, nur täuschend Unsere, alles Vorläufige, alles nur Halbwahre, alles, was auf bloßer Übereinkunft der Menschen beruht, alles, dem wir im bloßen Dahinleben verhaftet sind, aufgeben, um den Ruf, der uns ganz allein in unserem Letzten, Geheimsten, Eigentlichsten: im Gewissen angeht, zu vernehmen.

Es ist nicht zu leugnen: es steckt etwas Unerhörtes in diesem Anruf aus dem Schwiegen und der Leere des Nichts – aber auch etwas ungeheuer Verwirrendes. Es ruft uns, aber niemand weiß, wer ruft. Niemand kann mir sagen, wozu ich gerufen werde, und doch vernehme ich den Ruf. Da es aber der Anruf des Nichts aus dem Nichts ist, ist eines gewiß: was dieser Anruf an unser Gewissen unweigerlich fordert, ist, daß wir vom Nichts – und das bedeutet: vom Tode, von unserem Tode als dem uns einzig Gewissen aus – leben sollen. Auch dies ein tief christlicher, ein säkularisierter christlicher Gedanke. Aber er bedeutet hier eben als säkularisierter, vom Nichts ganz überfluteter Gedanke doch auch noch etwas anderes, als daß wir aus dem allein Wesentlichen leben sollen, so wie es einst von der christlichen Sterbestunde aus mit schwerem, drohendem Ernst gefordert wurde; er bedeutet auch zugleich das ganz andere, daß wir vom Tode als von der Grenze des menschlichen Daseins aus, d. h. vom Äußersten des Lebens, von seinen letzten, verwegensten Möglichkeiten aus unser Dasein gestalten sollen.

Und damit kommt unausgesprochen – vielleicht unbewußt – ein auflösendes, tief rauschhaftes Element in diese Konzeption. Das Nichts – so erkennen wir – als letzter Sinn des Lebens birgt ein Element des Rausches, der Ekstase, des Außer-sich-seins. Auf dem Grund und Abgrund des Nichts wird alles möglich. Auf dem Boden des Nihilismus ist von je der wildeste Lebenstaumel erwachsen. Wo nichts Festes, Bindendes mehr besteht, wo Nichts und Tod allein leiten, wo jeder feste Standort verlassen ist, da haben Rausch und Taumel ihren Ort. So erkennen wir hier auch im Denken jene Trunkenheit, Rauschhaftigkeit wieder, wie sie der in die Unwirklichkeit gesunkenen Nachkriegsgeneration gemäß ist, wie sie aber auch, bei der eigentümlichen Unwirklichkeit des deutschen Denkens, in fast jeder großen deutschen Philosophie durchbricht, so daß selbst ein so rein logischer Denker wie Hegel einmal die vollendete Wahrheit bezeichnet als den „Taumel der Wahrheit, an dem kein Glied nicht trunken ist“.

So erst, indem in einer ohnehin dem Nichts verfallenen Welt der geistige Rausch und Taumel mit dem ganz realen sich mischte, konnte jene wilde, zügellose Wirklichkeitsgestaltung aus dem Rausch des Nichts entstehen, die in keiner geschichtlichen Zeit ihresgleichen hat. Derselbe Rausch des Nichts, der die aus dem Kriege Zurückkehrenden in Tanz und Ausgelassenheit, in Maske und Verkleidung bis hart an die Grenze des Wahnsinns und oft genug über sie hinausführte, dieser Todesrausch hat in Deutschland eine ganze Generation in ihrem Leben und Denken, auf der niedrigsten wie auf der höchsten Ebene geprägt. Gerade unter den Geistigsten, den Suchendsten, die sich darum am radikalsten von allen Werten der Vergangenheit losgerissen fühlen, begreifen viele nur ihr radikales Ausgeliefertsein. „Ungeborgene, im Rasen des Weltwindes Ausharrende“ nennen sie sich selbst, die das Schicksal ihrer Weltstunde, die Vernichtung und Vernichtigung alles Seienden als ihr Lebensschicksal auf sich genommen haben, denen die Schrecklichkeit und Leere des Lebens selbst zu seinem Gehalt geworden ist.

Und doch wird dort gesucht, ja es wird brennend gesucht. Es wird in der Angst des Herzens, in Furcht und Zittern philosophiert, wo nicht vorgegeben ist als das Nichts und der Tod. Diese Generation, die an nichts mehr glaubt, nimmt zugleich nichts hin, sie läßt sich nichts vormachen, sie will alles sehen, selber sehen; das ist zum eigentlichen Sinn der Phänomenologie geworden, die die Methode Heideggers und dieser ganzen Generation ist und die man vielleicht kurz zusammenfassend Sach-Ergründung nennen könnte. Da, wo keine Gesetzmäßigkeit, wo keine Idee, kein Wert mehr die Dinge zusammenhält und erleuchtet, muß jedes Ding in sich selbst erforscht, durchdrungen, bis auf den Kern ergründet er hellt sein, bis es aus sich selbst einsichtig wird. Jede Aussage über eine Erscheinung ist immer noch vorläufig; an jeder haftet noch etwas von der Übereinkunft der Menschen über ihre Bedeutung; jede will darum in dem, was ihr allein eigen ist, von dem Forschenden mit dem Einsatz seines Selbst in immer tieferer Prüfung errungen werden. Denn – und hier leuchtet abermals etwas Großes auf – alles, was in dieser geistigen Durchdringung erhellt wird, erhellt zugleicht, da wir selbst es erhellen, unsere eigene menschliche Existenz. Und darum: um „Existenzerhellung“, das bedeutet: um Erforschung dessen, was das menschliche Dasein ist, was es als geschichtliches und was es rein in sich selbst ist, geht es hier letzthin in der Erforschung aller noch so menschenfernen Dinge. So geben diese Menschen sich jeder Erscheinung des Lebens als einer Erschließung des eigenen Daseins mit ganzer Seele hin. „Auch nur mit einem Stein ganz zu leben“, schrieb ein junger Deutscher, „dünkt mich der Mühe und Arbeit eines ganzen Daseins wert.“

Aber ist das nicht Wahnsinn? – Es ist unbezweifelbar: Hinter dieser Ergriffenheit, dieser wahren Besessenheit vom Phänomen, dieser Dämonie des Phänomens, steht letzthin wiederum die tiefe Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung einer Generation. Denn dieses Denken hat aller Entscheidung entsagt, ja es schließt sie von sich aus. „Das Leben ist viel zu schrecklich, als daß man in ihm irgendeinen Wert festhalten oder feststellen könnte.“ Mit diesem Wort desselben jungen Mannes, das für die Überzeugung vieler anderer steht, ist eine Situation bezeichnet, in der Entscheidung unmöglich ist. Alles vorurteilslos, rein in sich selbst, als bloßes Phänomen zu betrachten und zu ergründen, das ist die greisenhafte Losung dieser jungen Generation, deren Verzweiflung zum Rausch geworden ist, die jedes Unterscheidungsvermögen und Entscheidungsvermögen nicht so sehr verloren, wie ausdrücklich aufgegeben hat.

Das ist der geistige Untergrund, auf dem die heutige Ordnung ungestört ihre Triumphe feiern kann. Von hier aus wird das Unbegreifliche: wie geistige Menschen, Menschen einer subtilen Geistigkeit, eine solche Wirklichkeit stützen können, wenigstens stützen konnten, begreiflich. Aber noch sind wir nicht am Ende. Der Rest von Christentum, von christlicher Struktur in der Heideggerschen Weltauffassung mußte vom Nichts aus getilgt werden. Aber auch kein Heidentum kann eine echte Begründung des Nationalsozialismus sein. Das haben die Machthaber in ihrer Gegnerschaft gegen den Verkünder des deutschen Heidenglaubens: Hauer, sehr gut begriffen. Auch das Heidentum ist ja gläubig, kennt Götter und Göttliches.

All das ist radikal ausgelöscht in einem deutschen Weltbild, das nicht rein gedanklich formal ist, sondern das offenbart, wie das Nichts, in der konkreten Wirklichkeit, als konkrete Wirklichkeit sich darstellt, wie eine Welt aussieht, in der das Nichts vollzogen und selbst zum Formungsprinzip geworden ist. Es ist das einige Jahre nach dem Hauptbuch Heideggers, 1932, erschienene Buch von Ernst Jünger: „Der Arbeiter“. Auch dies Buch ist das Werk eines wahrhaft bedeutenden Geistes. Es ist ein grandioser Spiegel und eine grandiose Deutung unserer Zeit als einer Übergangszeit aus einer alten in eine neue Lebensform bis in jede ihrer Erscheinungen hinein: des Übergangs aus der Form bis in jede ihrer Erscheinungen hinein: der Übergangs aus der bürgerlichen Welt in die Welt des Arbeiters. Der Arbeiter aber nun nicht mehr verstanden in irgendeinem bisherigen Sinn, nicht im Sinne einer Klasse, geschweige denn der Klasse der Unterdrückten, des proletarischen Arbeiters – das sind alles nur der bürgerlichen Welt entstammende Teilgestalten der alle Stände und Klassen übergreifenden totalen Gestalt des Arbeiters, die hier als eine die ganze Welt umformende gemeint und gewollt ist. Hier handelt es sich um alles andere als um eine Gerechtigkeit irgendeiner Art; es handelt sich allein um eine totale Welt der Arbeit, um der Arbeitscharakter, der einer ganzen Weltepoche seinen Stempel aufprägt und in all unseren Daseinsformen aufzuprägen schon begonnen hat. „Arbeit“, so heißt es hier in ekstatischen, rauschhaften Worten, „ist das Tempo der Faust, der Gedanken, des Herzens, das Leben bei Tag und Nacht, die Wissenschaft, die Liebe, die Kunst, der Glaube, der Kultus, der Krieg; Arbeit ist die Schwingung des Atoms und die Kraft, die Sterne und Sonnensysteme bewegt.“

Es bleibt also nichts, gar nichts außerhalb der Arbeit übrig. Arbeit ist alles. Die ganze Welt, von der Arbeit der Faust bis zu der der heutigen Wissenschaft, die noch im letzten Kern des Atoms Arbeit, Aktivität entdeckt hat, und also bis in dies Atom selbst, ist als ein einziger rasender, hämmernder und zugleich rauschhafter Arbeitsrhythmus erfaßt. Arbeit ist hier begriffen als uferlose Aktivität, als Kampf, als Revolution, als Schöpfertum in einem vollkommen außerpersönlichen, außermenschlichen wie außergöttlichen Sinne. Selbst die Liebe ist nichts Persönliches mehr: sie ist das „Tempo“ des Herzens, Arbeit, Aktivität. Jünger geht es allein und einzig um dies: eine neue durchgehende Weltgestaltung aus reiner rasender Aktivität, die einem neuen Verhältnis zur Sache entstammt und es ausdrückt. Der Arbeiter, so könnte man sagen, ist der Mensch, der im Zeitalter der Technik und des Krieges den Erdkreis durch ein neues Verhältnis zur Sache umschafft.

Dem neuen Verhältnis zur Sache also begegnen wir auch hier; aber nun gewinnt es ein anderes, ein höchst konkretes und furchtbares Gesicht. Die restlose Hingebung an die Sache, die hier herrscht, ist die an eine Sache, die sich selbst gegen den Menschen herumkehrt und seine bedingungslose Unterwerfung fordert: den Golem der menschgeschaffenen Technik, dem man den Zettel, auf dem das belebende Menschenwort steht, aus dem Munde genommen hat und der nun blind und gleichgültig über die Menschen hinwegstampft. Es ist die Hingebung an eine Sache, die das Menschenleben unter sich begräbt: an die Sache, die maßlose, die entsetzliche Sache des Apparates, der Maschine, der Technik in jedem Sinne, die unser Leben mehr und mehr beherrscht und herrschen soll. Die Sache, die der Tod des Menschen ist, soll den Menschen überflügeln. Die neue Welt der Arbeit bedeutet die reine Revolution der Sache. Erst sie ist wirkliche, vollendete Revolution. Eine andere gibt es für Jünger nicht. Alle bloß menschliche Revolution gehört einer versinkenden Welt an.

Darüber, daß außerhalb Deutschlands schon eine Welt des Arbeiters, der Arbeit existiert, die in sehr schroffem Gegensatz zur bürgerlichen Welt steht, fällt darum in dem ganzen Buch kein Wort. Denn diese ist ja, so sehr sie in vielen Erscheinungen an die Arbeitswelt Jüngers mahnt, keineswegs die Welt des Arbeiters und der Arbeit, die Jünger meint. Denn diese Welt ist nicht unmittelbar und einzig hervorgewachsen aus dem totalen Arbeitscharakter, der technischen apparathaften Struktur und der totalen kriegerischen Aufrüstung unseres Zeitalters, nicht aus jener radikalen, menschenfremden, menschenmordenden Revolution der bloßen Sache, die ihm allein als die echte Revolution gilt, sondern sie ist – was immer aus ihr geworden sein mag – hervorgewachsen aus dem Willen zur sozialen Gerechtigkeit, den Jünger als liberalistischen Schwindel des verblasenen Humanismus der 19. Jahrhunderts abtut. Es ist mehr als erstaunlich und es ist ungeheuer bezeichnend, daß in diesem wahrhaft geistesmächtigen Buch, genau so wenig wie in dem Gedankensystem Mussolinis, irgendwo hinter das 19., allerbestenfalls mit knappen Andeutungen hinter das 18., das Jahrhundert der Aufklärung, zurückgegangen wird; daß nirgends der Ursprung der großen und ewigen Begriffe des Humanismus, das Freiheitsgedankens und des Idealismus untersucht und dann ihr Herabsinken in der bürgerlichen Welt gezeigt und motiviert wird. Dadurch hat das Buch, das trotz seiner Entsetzlichkeit eine geniale Geschichtskonstruktion ist, von vorneherein doch auch den Charakter einer Geschichtsfälschung.

Das neue Weltbild aber, das es im Kampf gegen alle Lebens- und Geistesformen der bürgerlichen Welt entwirft: das Einbrechen des Unheimlichen, Elementaren und Gefährlichen in allen gesicherten Zonen des bürgerlichen Lebens, das Verdrängtwerden von immer mehr lebendigem Boden durch unsere menschenmordenden Städte, der großartig drohende Anblick dieser Städte selbst, das Rasen der Maschinen, die Wandlung und Wendung zur Sache und zur Sachlichkeit in allem Heutigen, von dem Wandel der Baukunst an bis in den der bürgerlichen Kleidung hinein (die heute bereits überall von der Arbeitskleidung verdrängt wird) – dies Bild ist grandios. Es ist wirklich das Gesicht unserer Welt in ihrer ganzen atemraubenden Furchtbarkeit, ihrer Prägung durch lauter Totes, durch Sache, Maschine, Organisation, kalten, fühllosen Befehl, dieser Welt, in der kein Menschenantlitz mehr das andere ansieht, in der die Menschen in Reih und Glied stehen, in der es nichts mehr gibt als Herrschaft und Dienst, Befehl und Unterordnung, keine Beziehung von Mensch zu Mensch, nur noch marschbereite Kolonnen.

Denn da diese neue Arbeitsgestaltung nicht teilhaft, auch nicht mehr national gemeint ist, sonder „planetarisch“, da sie mit anderen Worten den Erdkreis umfassen soll, so bedarf sie zu ihrer Ausbreitung des Imperiums, der Macht, des Befehls. Darum taucht in ihr eine neue Herrenschicht auf: eine gepanzerte, eherne Menschenschicht, eigentlich ein Mittelding zwischen Sache und Mensch, eine metallene sprechende Sache. Und darum wird auch die Gesellschaft, abermals als ein Begriff des bürgerlichen 19. Jahrhunderts, zugunsten des Staates völlig abgedankt. Denn nur der Staat hat die Macht, das Weltreich der Arbeit zu erobern, von dem unsere heutige Welt erst der Beginn, der Keim ist. Und dieser Welt der Arbeit, dieser neuen Ordnung hat alles zu dienen; denn was in ihr entstehen soll, ist ein neuer Stil der Erde.

Um diesen allein geht es in diesem damit letzthin doch rein ästhetischen, mörderisch-ästhetischen Weltbild: um eine neue Gestalt der Erde, der der Mensch als Einzelner bedingungslos geopfert werden muß. Ausdrücklich ist hier (wahrscheinlich im bewußten Gegenschlag gegen das große, allen Menschwürde begründende Wort Kants: daß der Mensch nie zum Mittel gemacht werden dürfte) gefordert, daß der Mensch nicht Ziel, sondern Mittel sein soll.

So wird in dem neuen Arbeitsstaat das höchste menschliche Daseinsform – als höchste! – die Selbsthinopferung des Menschen für die leblose Sache gefordert. „In diesem Sinn“, so heißt es hier, „ist der Motor nicht der Herrscher, sondern das Symbol unserer Zeit, das Sinnbild einer Macht, der Explosion und Präzision keine Gegensätze sind. Er ist das kühne Spielzeug eines Menschenschlages, der sich mit Luft in die Luft zu sprengen vermag und der in diesem Akte noch eine Bestätigung der Ordnung erblickt. Aus dieser Haltung, die weder dem Idealismus noch dem Materialismus vollziehbar ist, sondern die als ein heroischer Realismus angesprochen werden muß, ergibt sich jenes äußerste Maß an Angriffskraft, dessen wir bedürftig sind. Ihre Träger sind vom Schlage jener Freiwilligen, die den großen Krieg mit Jubel begrüßten, und die alles begrüßen, was ihm folgte und folgen wird.“

Dieser heroische Realismus, der alles andere ist als heroisch, wenn man das Wort in seinem Ursinn, im Sinn der griechischen Antike: des alles Menschliche auf sich nehmenden „göttlichen Dulders“ Herakles nimmt – und alles andere als real, weil er nicht einen Funken echter Wirklichkeit enthält, der ein leerer Rausch des Nichts im Nichts ist, dieser Wille zum totalen Krieg, zur Ausrottung des Menschen aus der Welt beschreibt das letzte Ziel des Faschismus. Aller Faschismus ist ein Ordnungsversuch das Chaos und, da er ohne jede Bindung an ein Übergeordnetes, Ordnendes unternommen wird, selbst ständig vom Chaos bedroht und in es hineingerissen. Denn das Chaos ist mächtiger als der Mensch; rein vom Menschen aus kann seine Bezwingung und Ordnung nie gelingen; es dringt in jeden menschlichen Ordnungsversuch ein und wendet sich gegen der Menschen zurück. Das ist nirgends deutlicher sichtbar als hier.

Ganz gewiß liegt auch dieser düster leeren Weltkonzeption, die man als einen wahnsinnig gewordenen Spenglerianismus bezeichnen könnte, das Nicht-mehr-leben-wollen, Nicht-mehr-leben-können nun mit außerordentlicher Geisteskraft als Gehalt eines neuen Lebens entwickelt ist. Dies ist der Gipfel des menschlichen Nichts. Dieser Menschenschlag, der sich dem Motor unterordnet, der sich selbst mit Luft einer toten Sache gleich um einer toten Sache willen in die Luft sprengt – dieser ist der echteste Träger des geist-, wert- und sinnfremden Faschismus. Diese Welt ist die Welt ohne den Menschen. Uber ihr steht mit flammenden Lettern das Wort, das über dem Eingang zu Dantes Hölle steht: „ihr, die Ihr eintretet, laßt jede Hoffnung fahren.“ Ernst Jünger selbst hat gleichsam im Vorübergehen, als rein formale stilistische Unterscheidung, seine neue Welt, von der Zelle eines mittelalterlichen Mönches aus gesehen, als die Welt des Antichrist bezeichnet.

Es würde trotz ihrer geistigen Bedeutung bei der maßlosen Schwächung und Zerstörung alles Menschlichen, die diese Weltbilder mit sich führen, nicht lohnen, sie zu betrachten, wenn nicht in ihnen ein so tiefes Stück unserer heutigen Wirklichkeit steckte. Denn das Furchtbarste an ihnen ist: wir haben in diesen Weltbildern wirklich unsere Welt gesehen, die Welt, in der wir leben und in die wir alle mit unserem ganz realen Leben einbezogen sind, die Welt des Nichts.

Eines Nichts, das sich uns nunmehr deutlich enthüllt hat als das, was es ist: die vollendete Beziehungslosigkeit – und eben damit als das reine Gegenbild der Welt Gottes. Denn das, zu dem ich überhaupt keine Beziehung habe, ist für mich reines Nichts. Das, zu dem ich eine Teilbeziehung habe, ist mir ein Etwas; das, auf das mein ganzes Dasein bezogen ist, ist das Geliebte oder das Du. Und das höchste Du, den Inbegriff aller Beziehung, den Mittelpunkt, in dem alle Beziehungen aller Leben zusammenlaufen, nennen wir mit dem Namen, der in unserer Welt des stetig anwachsenden trennenden Zwischen, in dessen totem Leerlauf Beziehung um Beziehung zerrieben wird, immer mehr verstummt: Gott.

So zeigt es sich, daß es in keiner Weise zufällig ist, daß der Sammlungspunkt aller Beziehung in den die Persönlichkeit auflösenden kollektiven Weltgestaltungen jeder Art radikal preisgegeben wird. Aber – darüber dürfen wir uns nicht täuschen – diese Preisgabe bedeutet nichts anderes als den Weltuntergang, den Untergang der Menschenwelt selbst. Gott, Mensch und Welt können nur zugleich preisgegeben werden. Wo kein Gott ist, da ist auch kein Mensch, und wo kein Mensch ist, da ist auch keine Welt. Denn der Mensch ohne Gott sinkt in die Tierheit, ja, da er nicht zum Tier geschaffen ist, unter das Tier hinab. Und das Tier hat keine Welt, es sieht nur das Nächste; es sieht (wie Bergson es einmal ausgedrückt hat) „nur Beute“. Gibt nicht dieser Nahblick, der nicht imstande ist, etwas anderes als den nächsten persönlichen Vorteil zu erfassen, eine furchtbar deutliche Beschreibung des heutigen Daseins in seiner Gesamtheit?

Aus dem Nichts des modernen Kollektivismus scheiden somit Gott, Mensch und Welt gleichermaßen aus. Als der Bolschewismus die Gottlosenbewegung proklamierte, da meinte er in einem wahnsinnigen Mißverständnis damit gerade den Menschen zu retten. Der Faschismus hat nie etwas dergleichen auch nur beabsichtigt. Er begann umgekehrt mit der Ausrottung des Menschen, und von da aus betrieb er mit strenger Folgerichtigkeit immer entscheidender die Ausrottung Gottes.

Es geht also in dem heutigen Geschehen um weit mehr als um politische Wirklichkeiten; es geht um das Leben oder Sterben der Menschheit. Nirgends so deutlich wie an der Todeserfassung einer Welt können wir ihr wahres Bild ablesen. Die Art, wie eine Zeit, ein Land, eine Gemeinschaft den Tod und das Nichts meistert, ihnen die Grenze anweist, zeigt die Höhe ihrer religiösen, geistigen und moralischen Weltgestaltung an. In dem Maße, in dem die dunklen, zerstörenden Gewalten, die zu jeder Zeit den Rand des Menschdaseins umlauern, in eine Welt eindringen und sie überwältigen, verliert sie ihren Sinn, ihren Wert und ihre Form, wird sie selbst zum Chaos, zum Nichts. Der Tod, bestimmt, Rand und Grenze des gefügten Menschendaseins zu sein, von der aus es sich erfaßt und erkennt, ist heute von allen Seiten und in unzähligen Formen: als physischer, geistiger und seelischer Tod in unser Leben eingedrungen und bedroht das Ganze unserer Welt mit Vernichtung. –

Und damit erhebt sich aus tiefster Not die Frage: Was können wir tun, um diese furchtbar drohende Entwicklung aufzuhalten, ihr entgegenzuarbeiten? Sie hat sich in so kurzer Zeit mit solcher Vehemenz und Hemmungslosigkeit ausgebreitet und eine so ungeheure moralische Lähmung in der Welt erzeugt, daß die Rettung fast unmöglich scheint. Von einer politischen Wendung scheint in dieser Welt dunkler Verstrickungen nichts mehr zu hoffen. Wir können nur warten auf jenen „Stein aus der Höhe“, von dem hier so oft die Rede war: auf das Wunder. Aber auf das Wunder hoffen, kann ja für uns niemals bedeuten, daß wir die Hände in den Schoß legen und nach oben starren dürfen. Es muß im Gegenteil bedeuten, daß es unsere einzige und ganze Aufgabe ist, dem Wunder zum Durchbruch zu verhelfen, indem wir uns selbst mit aller Kraft in seine Richtung drehen, das heißt: uns dem Geschehen unserer Welt entgegenwenden und ihm mit Kräften völlig anderer Art entgegenwirken.

Vielleicht kann ein eigentümliches Naturgeschehen uns gleichnishaft einen Weg dazu weisen. Vor nicht langer Zeit kamen aus Australien Berichte von einer fast an frühbiblische Vorgänge gemahnenden Erscheinung: von einer Art Kakteenpest. Es hatte sich dort ein Kaktus in wenigen Jahren mit so ungeheurer Wucht und Schnelligkeit ausgebreitet, daß er auf weite Landstrecken hin schon ganze Kulturen zerstört hatte und die gesamte Landwirtschaft des Landes, ja des Erdteils mit Vernichtung bedrohte. Kein Gegenmittel half. Bis plötzlich in eine der Pflanzen ein winziges Würmlein sich einnistete, das nun seinerseits mit noch größerer Gewalt und Schnelligkeit als die Kakteen selbst sich ausbreitete und in kurzer Zeit die ganze üppig aufgeschlossene Schädlingswelt zerstörte.

Ist es nicht, als hätte dies kleine Würmchen uns ein Vorbild, ein Beispiel gegeben, wie allein solches wild wachsende Unheil zu zerstören sei? Nicht von außen her ist es zu bekämpfen; sondern wie dies winzige Lebewesen müßte ein unsichtbares Lebendiges aus eigener Kraft sich an die wuchernde Vegetation des Nichts der kollektiven Weltgestaltungen ansaugen und sie von innen her vernichten. Dies unsichtbar und übergewaltig Lebendige kann allein die menschliche Seele sein, die das ungeheure Maß der Verantwortung begreift, das jedem Einzelnen gerade durch eine Entwicklung, die ihn von sich selbst und damit von aller eigenen Verantwortung abzuschneiden droht, um so unerbittlicher auferlegt ist.

Aber damit stellt sich eine weitere bange Frage: Hat denn die heutige, von außermenschlichen Kräften so gewaltsam bedrängte, überrannte, an den Rand des Lebenkönnens gedrängte Seele überhaupt noch die Kraft, sich in diese unaufhaltsame Todesentwicklung einzusetzen, sich ihre entgegenzustemmen und so den stetig anwachsenden Tod zurückzudrängen? Bedürfte es nicht, um dies Äußerste zu vollbringen, die Welt wieder zum Leben zu erwecken, zu dem gestorbenen Menschen dieser Zeit das „Stehe auf und wandle!“ zu sprechen, der ganzen Kraft des lebendig gegenwärtigen Christus?

Kann aber die bange, verschüttete heutige Seele die gewaltige Kraft, deren sie bedarf, nicht wiederfinden gerade im Blick auf dieses Wunder, das ja letzthin nur der Ausdruck der steten Gegenwart Gottes im Leben bis hinein in den Tod ist? Denn daraus muß ihr die unumstößliche Gewißheit kommen: Niemals kann ja der Weg und Wille Gottes – wie tief er uns verhüllt sein mag – in der Geschichte aussetzen. Irgendwie muß er auch noch in diesem ihm entgegengewandten Bemühen ergreifbar sein. Daß diese Zeit eine Zeit des Gerichtes und damit der Offenbarung ist, daß in ihr Gut und Böse mit einer Gewalt und Klarheit sich scheiden wie nur in apokalyptischer Zeit, daß wir Begriffe ein unendlich vertieftes Wissen um Gut und Böse gewonnen haben, so daß wir heute deutlich wie vielleicht nie eine Zeit begreifen, warum uns in der Schrift von Gott das Gute als das Leben, das Böse als der Tod vorgelegt worden ist, -- das allein ist eine Erweckung und Stärkung unserer lebendigen Kraft, die uns im Grunde jener ganzen Todeswelt gewachsen sein lassen müßte. Doch diese Einsicht, so stark und flammende sie zu uns spricht, kann unserem Sein und Tun nur die innerste Richtung geben; in der Ausführung wird sie immer wieder verwischt werden, weil in jedem einzelnen Fall wieder die Welt der Organisation und Überorganisation, des toten Zwischen, die als reine Gegenwelt dem Reiche Gottes entgegensteht, mit ihren Forderungen und Bedrängnissen in unser Tun einbricht. Denn wir können und dürfen ja diese Welt nicht einfach ignorieren. Selbst wenn wir es vermöchten – wir dürfen um unseres Kampfes, um unserer Arbeit selbst willen nicht aus unserer Welt heraustreten. Wir müssen ihre ganze Gegenkraft an uns erfahren und ihre Wirkungen auf uns nehmen. Nicht von außen, allein von innen her können wir sie ja bekämpfen. Wir müssen sie tun als die, die wir sind, die wir geworden sind, unter den uns auferlegten Bedingungen und an den Mitmenschen, wie wir sie vorfinden; denn nur das Wirkliche zählt im Reiche Gottes. Wir können die Geschichtsentwicklung an keinem anderen als genau an dem Punkt ergreifen, an dem sie uns übergeben ist, an dem wir in sie hineingestellt sind.

Und das bedeutet, daß wir in ihr nicht nur unsere Aufgabe, sondern daß wir in ihr doch auch etwas wie eine Anweisung zu ihrer Erfüllung in ihr suchen und finden müssen; es bedeutet, daß wir uns die Frage vorlegen müssen, ob wir nicht trotz all ihrer Furchtbarkeit aus dieser Zeit doch auch etwas für unser Sein und Tun gelernt haben. Denn auch vom Feind gilt es zu lernen. Nur der erkannte, durchschaute Feind ist besiegbar, und nur mit seinen eigenen, heute so unermeßlich geschärften Waffen können wir ihn zu schlagen hoffen. – Und es unterliegt keinem Zweifel: wir haben, recht betrachtet, von der Sache und von dem Gesetz der Sache, das sich uns auferlegt hat, von dem Verhältnis des Menschen zur Sache etwas gelernt, das frühere Zeiten so nicht kannten: die Nüchternheit, die Anspannung, die Kraft und die Exaktheit im Dienst am Wirklichen, das vollkommene Absehen vom eigenen Selbst. Darin sind wir vergangenen vageren, sentimentaleren Zeiten weit voraus. Das zeigt sich nicht nur an einer neuen Klarheit, Präzision, einer neuen durchgehenden Strenge in allen Wissenschaften und Künsten, wie sie früher nur die Größten intuitiv kannten und übten; es zeigt sich auch und muß sich zeigen an unserem Verhalten im Leben. Und wenn nun hier das Verhältnis umgekehrt wird: wenn aus dem Dienst an der Sache der Dienst am Lebendigen wird, und wenn dieser Dienst mit genau derselben Strenge, Anspannung, Sachlichkeit, Gewissenhaftigkeit, mit demselben Absehen vom Selbst abgetan wird, wie etwa ein Lokomotivführer seine Maschine bedient, die bei der Unaufmerksamkeit auch nur eines Augenblicks in Tod und Zerstörung hineinführen würde – dann wird aus der bloßen Anpassung, Anspannung und Gewissenhaftigkeit des Daseins innerste menschliche Verantwortung, der Kern der lebendigen Liebe. Denn nicht wie wohl in ruhigeren, lyrischeren Zeiten in Weichheit, Überschwang und Schwärmerei, nur in strenger, wissender Verantwortung gegenüber dem Wirklichen ist heute Liebe, helfende, erweckende Liebe möglich. Ein Funke von dem übermächtigen: „Stehe auf und wandle!“ muß dem Menschen unserer Zeit gegenüber in jeder lebendigen Liebe am Werk sein. Um dem Tode gewachsen zu sein, muß die Liebe stark sein wie der Tod.

Stark wie der Tod und unerschütterlich wie der Tod. Denn nicht allein den Anderen, sondern auch uns selbst in unserem Gewordensein gilt es ja den Todesmächten unserer Zeit zu entreißen. Aber dies ist ja die tiefe, geheimnisvolle Wahrheit aller echten Leibe, daß in ihr die Erweckung des Selbst mit der des Anderen eins ist. Nur im vollkommenen Absehen vom eigenen Selbst kann das Selbst zurückgewonnen werden; nur auf den Spuren des Menschenbruders können wir die eigene lebendige Seele wiederfinden.

In einer so schlichten wie tiefen Erklärung zum zweiten Buch Mose heißt es: „Wo immer du die Fußspur eines Menschen findest, zieht Gott vor dir her.“ Dies Wort ist niedergeschrieben in einer Zeit und an einem Ort, wo die Füße sich dem weichen Erdboden eindrückten. Auf dem Pflaster der Großstädte und in den modernen Betreiben lassen die Füße der Menschen keine Spuren zurück. Darum müssen wir den Menschen nicht weniger, sondern unter den unendliche erschwerten Bedingungen unseres Daseins um so intensiver, mit um so heißerer Mühe und Verantwortung, mit einer Liebe, die wie oft schon der Verzweiflung gleich ist, suchen. In einer menschenfremden Zeit die verlorene Fußspur des Menschen aufzufinden, ist unser einziger Weg aus Tod und Nichts zum lebendigen Gott und seinem Reich.

 

 

 

 

 



[i] „Der Verrat der Berufenen.“ Die Red.

[ii] „Die Lehre des Faschismus.“ Die Red.

[iii] Es ist in der langen Zeit, die zwischen diesem Vortrag und seiner Veröffentlichung liegt, in den „Neuen Wegen“ soviel und Wesentliches über diese Theologie gesagt worden, daß ich mich mit einigen kurzen Hinweisen begnügen kann, die für mein Thema unbedingt erforderlich sind.