Die Geistige Gestalt Georg Simmels

 

 

„Der Seele Grenzen kannst du nicht ausfinden,

und ob Du jegliche Straße abschrittest, so tiefen Grund hat sie.“

Heraklit

 

„Wir wandeln in uns selbst als die einzige Wirklichkeit

in einem Schattenreich unerlöster Möglichkeiten unser selbst.“

Georg  Simmel

 

 

Wenn wir aus unserer erregten Zeit auf die Spanne zurückblicken, in der eine Persönlichkeit und eine Philosophie wie die Simmels möglich waren, wenn wir bedenken, was alles an Katastrophen, Entdeckungen, Erkenntnissen zwischen seiner Zeit und der unseren liegt, wenn wir die heutigen Biographien bedeutender Menschen mit denen aus der Zeit Simmels vergleichen, so begreifen wir, wie schwer es ist, dem heutigen Menschen noch ein zugängliches Bild seiner geistigen Persönlichkeit zu geben. Immer kann ja die geistige Persönlichkeit, die Verbindung von äußerem Schicksal und innerem Sein, nur innerhalb ihrer geschichtlichen Stunde begriffen werden, und ihre Bedeutung wird sich daran erweisen, wie weit sie, zwar immer in ihr haftend, doch diese Stunde überschreitet.

            Simmel ist uns durch eine Fülle reifer Einsichten, Einblicke in seine eigene und auch schon Voraussichten in unsere Zeit ein lebendig Gegenwärtiger und doch auch durch jene ungeheure Entwicklung einer veränderten Epoche schon wieder weit von uns entfernt. Freilich ist auch von der Denkergeneration, der er angehörte, der philosophischen Renaissance, an der er mitgewirkt hat, wohl keiner so schwer in seiner gesamten Problemstellung zu verstehen. Dies liegt sowohl an der großen Vielfalt seiner Probleme, den zahlreichen, ganz divergenten Punkten, an denen er ansetzt, wie an der Eigentümlichkeit seines denkerischen Wesens überhaupt. Er erscheint, trotz seiner Beziehung zu zahlreichen Menschen, als der Einsamste unter all jenen Denkern.

            Wenn ich ein Bild von ihm entwerfen soll, so sehe ich ihn in zwei verschiedenen Gestalten: Die eine ist das Bild eines antiken Weisen, wie es aus Simmels Spätzeit vorliegt. Ein zeitloses Bild, das sehr deutlich seine geistige Persönlichkeit widerspiegelt. Die andere ist die von Zeit und Raum bedingte biographische, wie sie uns aus seinem Leben und Werk entgegentritt.

            Ihm selbst ist das Biographische dem Werk gegenüber immer als unwichtig erschienen. Die Geschichte der Philosophie ist ihm die Geschichte großer philosophischer Persönlichkeiten, wobei das Biographische derart ins Gedankliche umgeschmolzen sein muß, „daß es von seiner ursprünglichen Qualität als Erlebtes nichts mehr erkennen läßt“. Das Biographische als Rohstoff ist nach ihm für die Darstellung der Philosophie ohne Wert. Und doch spielt gerade auch in Simmels Werk das Biographische eine bedeutende Rolle. Nicht nur die Zeit, auch der Ort seiner Geburt im Herzen des damals schon großstädtischen, lebendig quirlenden Berlin, an der Ecke der Leipziger-und Friedrichstraße, war für sein Leben und Denken entscheidend. Vieles in Simmels Problematik scheint sich ursprünglich an dem Anblick gebildet zu haben, der sich alltäglich seinen Kinderaugen bot. Sicher hängt vor allem die einzigartige Lebendigkeit, Bewegtheit und Fülle, das Überwache seines Geistes mit diesem großstädtischen Ursprung zusammen.

            Zeitlich ist es das Wesentliche seines Lebens, daß dessen bewußter Teil sich um die Jahrhundertwende abspielte. Es war eine Zeit, in der das Leben im allgemeinen ruhig verlief, die keinen politischen Einsatz kannte, in der alle reinsten Kräfte sich in einem tatlosen, betrachtenden, nach innen gerichteten Sinnen erschöpften,– eine Zeit, die nach den heutigen wesentlich nach außen gewandten Menschen unverständlich geworden ist. Es war eine Zeit, die nicht mehr und noch nicht wieder wußte, was Wirklichkeit ist, weil sie an der Wirklichkeit kein reales Problem besaß. Die konkrete Lebenswirklichkeit verlief für die denkenden Menschen der oberen Schichten, soweit sie noch nicht vom Sozialismus ergriffen waren, an sich problemlos.

            Georg Simmel wurde am 1.März 1858 geboren und ist im Jahre 1918, kurz vor Ende des ersten Weltkrieges gestorben. Die Zeit, die zu leben und zu schaffen ihm vergönnt war, ist – zumal nach heutigen Begriffen – keine allzu lange gewesen, aber sein Leben war ein menschlich und geistig bis in die letzte Stunde erfülltes, das eine große Entwicklung umschloß.

            Simmel ist in seiner denkerischen Haltung vor allem zu begreifen aus seiner Stellung an der Grenzscheide zweier Zeiten: als einer der bedeutendsten Repräsentanten des Augenblicks, in dem die Formen des transzendentalen Denkens zerbrachen, weil sie sich nicht mehr als fähig erwiesen, die in das Zeitbewußtsein heraufdrängende neue Problematik einer Erkenntnis des Konkreten, des So-Seins der Dinge und Individuen, des hic et nunc des Lebens zu bewältigen – und im Zusammenhang damit als einer der intensivsten jener Denker, die zuerst die in der Persönlichkeit des Philosophen wurzelnde Problematik zu erforschen begonnen haben.

            Hieraus: aus dem Heraufdrängen der Frage nach dem Konkreten, Individuellen, als Frage nach der lebendigen Erscheinungen, wie als Frage nach dem ganz persönlichen Existenzgrund und aus dem Ringen um die gedankliche Bezwingung beider ist die gesamte Problemstellung Simmels zu verstehen. Man kann als den Herzgedanken seiner Philosophie, der ihn durch alle noch so wechselnden Bezirke seines Forschens und Denkens begleitet, das Wort bezeichnen, daß „die Dinge immer noch etwas sind“. Man sieht schon allein aus diesem Wort, daß er trotz aller zahlreichen aufzeigbaren denkerischen Einflüsse anderer Art und trotz seines sich wandelnden Verhältnisses zu Kant bis zuletzt von ihm betstimmt blieb. Doch suchte er zugleich ein neues Verhältnis zwischen Leben und Wissen, ein verändertes, mehr dem Erleben angenähertes Erkennen mit der Kantischen Denkformen zu bewältigen. Es wird dabei deutlich, wie das, was wir heute als seine denkerische Tragik empfinden, zugleich zu einer eigentümlichen Vertiefung und Verlebendigung der Begriffe führte, wie er in dem Ringen, immer mehr sich ihnen Entziehendes in sie zu fassen, sie dehnte und an ihre Grenzen trieb.

            Wenn er Kants Einsicht von der Unerkennbarkeit der Welt als dessen Erbe auf sich nahm und ihr sein eigenes Denken unterwarf, so hat er damit zugleich dem Denken die Wahrheit als mögliches Ziel abgesprochen. Er definiert noch schärfer und zusammenfassender als Kant: „Daß es eine Welt gibt, ist schlechthin harte Tatsache ... in die unsere Vernunft nicht eindringen kann.“ Auf der anderen Seite aber weiß er um eine, wenn auch noch nicht erschlossene subjektive Wahrheit: „Gewiß liegt ein tiefes Geheimnis darin, daß es so etwas wie Wahrheit gibt, daß sie, gleichsam mit ideellen Linien in uns vorgezeichnet, von uns nur entdeckt, nicht erfunden wird“. Weil aber die harte Tatsache der Welt doch durch uns gedeutet werden will., hat Simmel auch auf ihrem Grunde überall Probleme gesehen, die sein Denken unaufhörlich beschäftigten und doch keine letzte Lösung zuließen. Es ist, und zwar von allem Anfang an, in seinem gesamten Denken ein dunkles, tief inneres Wissen um das Ganze der Wirklichkeit am Werk, dem er aber, eben weil in seiner Zeit stehend, mit den Methoden des überkommenen Denkens Ausdruck zu geben sucht. Überall ist – das scheidet ihn von aller nur wissenschaftlichen Philosophie – sein Wissen tiefer als sein Denken. Es ist darum durchaus verfehlt, in Simmel einen Skeptiker zu sehen. Sein Relativismus stammte nicht aus dem Zweifel, sondern aus einer völlig anderen Wahrheitserfassung, denn auch noch sein äußerster Relativismus ist am Absoluten ausgerichtet.

            Einer seiner Lieblingsschüler, Bernhard Groethuysen, hat nach Simmels Tod dessen Verhältnis zum Absoluten in den schlichten Worten ausgesprochen, die er ihm selbst in den Mund gelegt hat: „Ich habe es nicht gesehen, aber es war da“. Es war da, es war immer gegenwärtig, obwohl es sein Antlitz vor ihm verbarg. Bei aller Verborgenheit des Absoluten ist es in seinem Leben und Denken dennoch immer wirksam gewesen; er hat immer um die Unerforschlichkeit der letzten Dinge gewußt und ist doch in allem der Frage nach diesem Unerforschlichen nachgegangen. Es zeigt sich bei näherem Hinsehen auch immer wieder, daß keiner der auf ihn folgenden Denker ohne das Erbe Simmels möglich gewesen wäre.

            Wie konnte es trotz aller Tiefe seiner Fragestellung geschehen, daß er im heutigen Denken fast versunken war? Es hat sich damit das Schicksal erfüllt, das er selbst in tiefer denkerischer Bescheidung und doch auch im vollen Bewußtsein seiner Leistung als Motto sei­nem nachgelassenen Tagebuch vorangesetzt hat: „Ich weiß, daß ich ohne geistige Erben sterben werde (und es ist gut so). Meine Hinter­lassenschaft ist wie eine in barem Gelde, das an viele Erben verteilt wird, und jeder setzt sein Teil in irgendeinen Erwerb um, der seiner Natur entspricht: dem die Provenienz aus jener Hinterlassen­schaft nicht anzusehen ist." Dies Wort, das wohl kaum ein anderer Denker so vorbehaltlos von sich selbst ausgesagt hätte, weist auf den Grundzug von Simmels Wesen: die Selbsterkenntnis und Selbst­bescheidung hin.

Wenn wir uns dann die weitere Frage stellen, warum jene Erb­schaft nur anonym erhalten bleiben konnte, so müssen wir nicht nur Simmels besondere Persönlichkeit, die Eigentümlichkeit seines Den­kens, sondern auch die geschichtliche Wendung, die sich unmittel­bar nach ihm vollzog und ihn von der Folgegeneration trennte, zu­mindest als einen der Gründe dafür erkennen. Es war ihm selbst aber schon durchaus klar, daß die alten Kategorien und Begriffe in jenem Augenblick nicht mehr genügten, die Entwicklung des Le­bens und der Dinge auszudrücken, wie sie sich zu seiner Zeit voll­zog. Einen g.roßen Teil der Alternativen, in die das Denken die Wirklichkeit zerlegt, erkannte er bereits als abgelaufen.

Aus dieser denkerischen Lage mag ihm der Gedanke eines Dritten gekommen sein. Es ist ihm bei seinem ursprünglich dualistischen Weltbild doch immer gewiß, daß es „im Menschen noch ein Drittes geben muß, jenseits ebenso der individuellen Subjektivität wie des allgemein überzeugenden, logisch objektiven Denkens; und dieses Dritte muß der Wurzel boden der Philosophie sein, ja, die Existenz der Philosophie fordert als ihre Voraussetzung, daß ein solches Drit­tes da sei."

Was Simmel derart vom Heutigen trennt, ist das Grundschema seiner Philosophie: die Drei, die in allen Disziplinen seines Denkens wiederkehrt. Simmel hat bei seiner durch ihn im Wesen des Denkens selbst begründeten Abneigung gegen das System die Drei und das Dritte nicht in systematischer Form dargestellt. Dennoch durch­herrscht es seine ganze Philosophie. Immer ist es ein Unerreichbares, für das er Namen und Begriffe sucht und dem er sich auf den ver­schlungensten Denkwegen immer entscheidender angenähert hat.

Sein nachgelassenes Tagebuch beginnt mit den Worten: „Die ge­wöhnliche Vorstellung ist: Hier ist die natürliche Welt, dort die transzendente, einer von beiden gehören wir an. Nein wir gehören einem dritten Unsagbaren an, von dem sowohl die natürlichen wie die transzendenten Spiegelungen, Ausladungen, Fälschungen, Deu­tungensind."

Als solche Spiegelungen und Deutungen eines Dritten sind Sim­mels gesamte Denkbemühungen zu verstehen. Fälschungen nennt er sie sicher nur insofern, als die Spiegelungen des Denkens oft das richtige Bild gar nicht wiederzugeben vermögen und - wie später Kafka es am eindringlichsten dargestellt hat - notwendig die Wirk­lichkeit verfälschen.

Gerade in diesem Augenblick, wo die durch Jahrhunderte, ja durch Jahrtausende reichende Dreigliederung der Welt für die Darstellung der Entdeckungen des Menschengeistes nicht mehr aus­reicht, und die Vier von allen Seiten des Erkennens sich aufdrängt, hat Simmel noch einmal in seiner besonderen Weise die Drei und das Dritte als das Unsagbare, doch Tragende und schließlich sogar Er­lösende erblickt.

Dies Dritte reicht weit in der Geschichte und hinter sie, bis in Mythos und Bibel zurück. Es ist eine Dreiteilung des Lebensraumes, wie sie nach den frühen Visionen der Propheten, in der Dreieinig­keit des Christentums, in der GeschichtsauHassung des Joachim di Fiore, dann in Hegels System von Thesis, Antithesis und Synthesis und zuletzt unmittelbar vor Simmel in Lotzes Begriff des Gülti­gen wiederkehrt. Doch hat das Dritte bei Simmel im Ganzen des Le­bens und Denkens eine durchaus andere Funktion und Bedeutung: Es ist weder Verkündung noch Durchgangspunkt der geschichtlichen Entwicklung, noch auch das Ergebnis einer dialektischen Denkweise; es ist eine zeitlose metaphysische Versöhnung und Aufhebung zweier als ewig erlebter und so nicht ertragbarer Gegensätze in einem metaphysischen Bereich, der teils gedanklich, teils chiliastisch gefaßt ist: Subjekt und Objekt, Leben und Tod, Sein und Sollen, Wirklichkeit und Idee sollen sich in einer dritten, noch nicht ent­deckten, doch zu entdeckenden Geistes- und Lebensform versöhnen. Ja, das Dritte als ein Ausdruck des Absoluten ist nicht nur in der Form des Metaphysischen, sondern auch in der des Mystischen, sogar des Religiösen, immer der letzte Gegenstand von Simmels relati­vistischem Denken geblieben.

 

 

Simmels erstes grundlegendes, an historischem und prähistori­schem Material überreiches Werk ist die „Einleitung in die Moral­wissenschaft" . Zur gleichen Zeit beschäftigten ihn auch schon die Probleme der Geschichtsphilosophie, ein Thema, das ihn gleichfalls durch sein ganzes Leben begleitet hat. Wie bei Kant die Natur die Formung des sinnlich gegebenen Materials durch die Kategorien des Verstandes ist, so ist bei Simmel die Geschichte die Formung des unmittelbaren, nur zu erlebenden Geschehens. Die Grundfrage bleibt bei ihm immer: „Wie wird aus dem Geschehen Geschichte?" Die Kantische Trennung von Form und Inhalt des geschichtlichen Bildes, die rein erkenntniskritisch entstand, setzte sich ihm dann in ein methodisches Prinzip einer Einzelwissenschaft fort: Er gewann einen neuen Begriff der Soziologie, indem er die Formen der Ver­gesellschaftung von den Inhalten schied, vor allem in den beiden umfassenden Werken „Soziologie" und „Philosophie des Geldes".

Zugleich mit der Frage nach der Gesellschaft war es die Frage nach dem Einzelnen, die sein Denken immer bestimmte, auf die er aber erst in seiner spätesten Zeit eine Antwort in der ihm gemäßen Gestalt gefunden hat. Man spürt dies Suchen aber schon in jenem Frühwerk „Einleitung in die Moralwissenschaft", das zwar durchaus positivistisch naturalistisch begonnen ist, jedoch wieder in eine letzte metaphysische Frage: die nach dem Ich, d. h. der menschlichen Freiheit mündet. Er weiß: „ist es auch als Ganzes ein Teil der Welt, eine ihrer Einzelheiten, so gilt auch für es die notwendige Bestimmt­heit des Partiellen und Relativen. Ist also das Ich in der Welt be­schlossen, so ist es auch als Ganzes nicht frei, wohl aber wenn die Welt im Ich beschlossen ist.“

Ist aber die Welt im Ich beschlossen, so ist es schwer, alle ihre Gehalte zu einer Einheit des Ich zusammenzubringen. Diese Schwie­rigkeit hat Simmel in seinem „Konflikt der Pflichten“ geschildert, der zugleich ein klares Bild der Gesellschaft der Jahrhundertwende gibt: der Höchststeigerung und Höchstspannung einer Kultur, die sich im Moralischen gerade an dieser Erscheinung zeigt. Indem er den Konflikt der Pflichten, dieses meisterlich dargestellte Symbol der Situation der ]ahrhundertwende, in der alle Stimmen durcheinan­der redeten und, indem sie die Persönlichkeit zu sich beredeten und ineinander widersprechende Kreise verwickelten, ihre totale Einsam­keit und Isoliertheit als Gesellschaftswesen vollendeten – indem Simmel diese Lage für das Ich zum Ausdruck gebracht hat, hat er die Persönlichkeit als Gegenbild der bürgerlich-kapitalistischen Gesell­schaft und ihrer wachsenden Industrialisierung bereits so umrissen, wie später noch endgültiger in der „Philosophie des Geldes“.

Aber deutlich fühlt er, daß es für ihn unmöglich war, bei dieser Lage stehen zu bleiben. Er suchte nach dem Gesetz, das für dieses gänzlich isolierte und von allen Seiten her in eine grenzenlose Ver­einsamung gestoßene Subjekt verpflichtend wäre. Denn diese Ein­samkeit ist bis ins Mystische vertieft. Es ist überhaupt niemals klar gesehen worden, daß die allertiefste Grundlage von Simmels Denken die Mystik war. Wenn er einmal nach gründlichem Studium Meister Eckarts, die Fundamente seines Denkens, Kant und Goethe, überspringend, mit erschütterter Stimme sagte: „Wir haben seinesgleichen nicht wieder gehabt“, so geschah dies aus einem unmittelbaren Verhältnis zum Ich, das längst schon, bevor ihm der große Mystiker Zum Erlebnis geworden war, im Mittelpunkt seines Denkens stand. Die einzige menschliche Gemeinsamkeit ist ihm die unüberbrückbare Einsamkeit der Seele.

 

Unaufhörlich umkreist er die Beziehung von Ich, Freiheit und Welt, um mit ihr in den Kern des Ich-Problems einzudringen. Man spürt dies auch in seiner geschichtsphilosophischen Fragestellung, die immer mehr das Stadium der Vorfragen hinter sich läßt und, ob­wohl nie die volle Geschichtlichkeit erreichend und nur die Frage nach der Möglichkeit der Geschichte als einer Wissenschaft stellend, zu einer der tiefgründigsten Fragestellungen der modernen Ge­schichtsproblematik sich durchringt; man spürt es in dem seltsamen und großartigen Buch „Philosophie des Geldes“, in dem Simmels Re­lativismus und damit zugleich sein Verhältnis zum Absoluten seinen vollendetsten Ausdruck findet.

Von hier, von dem Werk aus, das etwa in der Mitte seines Lebens steht, wird dann die Notwendigkeit und Tiefe seiner späteren Le­benswendung verständlich, die für ihn selbst einer Umkehr gleich­kam. Denn auf dem Grunde von Simmels Relativismus lag die Lei­denschaft des Menschen, der sich selbst in der Welt sucht und der in einer geheimnisberaubten Zeit keinen Augenblick das Geheimnis seines Daseins und der Quellen seines Daseins vergißt. Dieses letzte Geheimnis, gleichfalls ein Drittes, trägt bei Simmel den Namen Seele.

Es gilt für sein Verhältnis zur Seele durdlweg jenes Wort des Heraklit: „Der Seele Grenzen kannst Du nicht ausfinden, und ob Du jegliche Straße abschrittest, so tiefen Grund hat sie.“ Rein der Er­gründung des Seelischen dient alles, was Simmel geschrieben hat. Durch sein geschichtlich bedingtes erkenntnismäßiges Denken bricht überall die Wirklichkeit der Seele hindurch. Was ist diese Seele? Ihr Name ist heute verklungen. Das Wort ist selbst in der Dichtung nicht mehr zu Hause, es erscheint dem heutigen Menschen nach allen Erfahrungen unserer Zeit als unangemessen und nicht mehr wahr. Die Seele als innerste Beschaffenheit des Menschen, als alles in sich sammelnde feste Substanz, gibt es in der heutigen Sprache nicht mehr. Die Seele Simmels ist ein letztes Sichwehren gegen die Auf­lösung durch alle Mächte von Leben und Tod, wie sie in seiner Zeit am Werke waren.

Ist diese Seele wie die des Heraklit, der Grund, der schon fast einAbgrund ist? Oder ist sie die der Bibel, die ein letztes Heil erstrebt, ist sie das Unsterbliche, dem immer ein Erdenrest zu tragen peinlich bleibt, oder ist sie das mystische Fünklein des Meister Eckart, in dem die Vereinigung des Menschlichen mit dem Göttlichen wirklich wird? Keine dieser Deutungen scheint ganz zuzutreffen. Aber das Heil der Seele, von dem Simmel besonders in seiner Spät­zeit so oft und in so wechselnden Verbindungen sprach, zeigt, wie sehr der Begriff der Seele für ihn das ganze Menschendasein trägt.

Wenn wir uns nach dem Ursprung dieser Seele fragen, so sehen wir, daß sie aus vielen sehr ungleichen Quellen stammt. Vor allem gewiß aus der Heiligen Schrift. Aber nicht nur von ihr und der späte­ren Mystik, auch vom frühen Griechentum ist der Begriff der Seele bestimmt. Und auch die mit Simmel noch gleichzeitige große deutsche Neuromantik hat sicher auf diesen Seelenbegriff eingewirkt. Es ist noch nicht ausgesprochen, worin das subjektive Sein, das Schicksal, die Existenz der Seele besteht. Aber in all dem ist Simmel in seinem Begriff der Seele und deren Schicksal der realen Existenz so nahe ge­kommen, wie keiner der anderen Lebensdenker. Zwar hat er die Grenze nicht überschritten, die alles Begriffliche vom Leben trennt, aber er ist wirklich auf allen Straßen der Seele gegangen. Und wenn er auch kein Ziel erreichen konnte, so hat er doch auf diesen Wegen all seine seltenen und erleuchtenden Gedanken gefunden.

Was in seinem Seelenbegriff ein fester innerer Zusammenhang, eine an der platonisch-kantischen Idee gebildete innere, in ihm ver­wurzelte Wirklichkeit ist, aus der das Sein wie das Sollen entspringt, das wurde dann durch die drei großen Analysen bis auf den Grund aufgelöst und zeigt vollends Simmel am Rande einer neuen Wirk­lichkeit stehend, deren zerstörenden Charakter er nur vorausahnen konnte. Was nach der Analyse, nach dem Sozialismus und nach der phänomenologischen Forschung bereits im ersten Weltkrieg begriffen war: wie tief durch äußere Schicksale und Wandlungen das einzelne Leben mitbestimmt ist, das hat, mit Ausnahme von Pascal und Kierkegaard, vor Simmel noch kaum ein Denker gewußt.

Das einsame Fünklein, das durch jene große neue Romantik neu entzündet von ihr ergriffen, in der Einzelseele zur Flamme gewor­den war, hatte in Deutschland, vor allem in Deutschland, einen Kult der Seele entfacht, der noch weit in den Krieg hineingetragen wurde, um dann in einem ungeheuren Aschenhaufen zu erlöschen. Auch die Geschichtsphilosophie Simmels ruht letzthin auf der Seele und damit auf jenem Dritten, das nach Simmel der Wurzel­grund aller Philosophie sein soll. Mit unendlicher Feinheit ist hier herausgearbeitet, was die Seele für die Erkenntnis des geschichtlichen Geschehens bedeutet. Die eine Gefahr dieser GeschichtsauHassung, die Subjektivität, weist Simmel mit dem Hinweis ab, es sei falsch anzunehmen, man müsse, weil es um das Verstehen der Seele geht, in einem geschichtlichen Vorgang, etwa einer Schlacht, die Seelen­verfassung jedes Einzelnen verstehen, um zu begreifen, „wie es wirklich gewesen ist“. Denn eben dies ist das von Anfang an von ihm Perhorreszierte: daß die geschichtlichen Ereignisse, „wie sie wirklich gewesen sind“, überhaupt erfaßbar seien. Nicht dies ist die Aufgabe der Geschichtsphilosophie; es wäre dieselbe Verkennung, wie die, vom Kunstwerk zu verlangen, daß es die Natur, wie sie wirklich ist, wiedergeben solle, während doch gerade im Abstand von der Natur ihre wirkliche Aufgabe sich erfüllt. Daß trotzdem die Seele die Grundlage des geschichtlichen Verstehens ist, bedeutet nur, daß dies Verstehen in anderer Weise als das der Natur und alles Objektiven sich vollziehen muß: das Du ist aus allen anderen Da­seinsformen herausgehoben; ich verstehe es nicht, wie ich alles Ob­jektive verstehe, sondern wie eine andere Form meiner Selbst. Nun ist uns aber das geschichtliche Geschehen nur als Persön­liches gegeben, d. h. es stehen dem Verstehenden alle Erscheinungen in der Form des Du gegenüber. Und kein geschichtliches Verstehen ist ohne die Grundlage eines duhaften Elementes möglich, weil hier nicht Sachen, sondern Vorgänge zwischen Personen verstanden wer­den müssen.

Auch Dilthey war das geschichtliche Verstehen das Grundpro­blem seiner Forschung. Während er aber zur Erreichung des Indivi­duellen sich in alles geschichtliche Geschehen versetzt, gleichsam den ganzen Geschichtsraum um seine Gestalten her lebendig werden läßt, hat Simmel sich darauf beschränkt, die Theorie des historischen Verstehens und der historischen Zeit zu entwerfen. Beiden geht es um das historische Verstehen. Aber Dilthey will das Verstehen lei­sten, Simmel will es enträtseln, seine Möglichkeit begreifen, er will das Verstehen verstehen. Dilthey kam durch seine Methode zu dem Ergebnis der Unmöglichkeit der Metaphysik, Simmel hat seine er­kenntnismäßige Deutung des Verstehens metaphysisch unterbaut.

Besonders klar wird dies an der Auseinandersetzung mit Marx, mit dem geschichtlichen Materialismus, dem Simmel mit Recht den Namen Materialismus abspricht, den er auch als endgültige Deu­tung des geschichtlichen Geschehens verwirft, dem er aber die volle Größe einer neuen und eigenen geschichtlichen Erkenntnisweise zu­ spricht. Wenn der Hunger, die große Realität, die hinter der Marx­schen Lehre steht, nicht weh täte, also doch letzthin nicht ein nur objektives, sondern wie alles Leiden, ein seelisches und damit auch ein duhaftes Moment wäre, hätte der sogenannte historische Mate­rialismus keine geschichtliche Wirklichkeit werden können. Marx ist also hier nicht vom soziologischen, sondern vom geschichtsphilo­sophischen Standpunkt aus gesehen, und es fällt Von seiner Deutung aus ein Licht auf die ganze Erkenntnis der Geschichte, ja, wir erfah­ren Von dieser „materialistischen“ Geschichtsauffassung aus in einer euen Weise, wie sehr die Seele dem Erkennen der Geschichte zu­grunde liegt. Und gerade, weil trotz allem Kant hier wieder die letzte Basis des Simmelschen Erkennens ist, Subjekt und Objekt ein­ander gegenseitig bedingen, wird die Seele als Voraussetzung des Geschichtsbildes deutlich.

Daß das geschichtliche Verstehen dem soziologischen verwandt und doch wieder ein durchaus anderes ist, ist auch durch die Bedeu­tung der Zeit für die Geschichte bedingt. Während wir in der Natur eine umkehrbare Zeit begreifen, kennt die Geschichte nur eine un­umkehrbare Zeit, in der jedes Ereignis an einen Ort und in eine Zeit gebannt ist. „Prinzipiell durch die Ganzheit des Weltverhaltens überhaupt, an einen Ort und eine Zeit gebannt, heißt historisch.“

Einen noch größeren Raum als die Geschichtsphilosophie nimmt in Simmels Werk die Soziologie ein. Was ihn an ihr so mächtig an­gezogen und zu einer ganz neuen Erfassung der Gesellschaft ge­drängt hat, was er die Vergesellschaftung als „die objektive Form subjektiver Seelen“ nannte, der geheimnisvolle Sinn, die Struktur der Beziehung von Mensch zu Mensch, daß hier nichts für sich, alles für einander ist und sich gegenseitig bedingt und aneinander wan­delt, hat nie aufgehört, Simmel zu beschäftigen. Er sieht die Gesell­schaft letzthin als einen Kosmos einander tragender Beziehungen. „Wir sind in jedem Augenblick solche, die Getrenntes verbinden und Verbundenes trennen“; wir sind aber, so könnte man hinzufügen, auch solche, die in jedem Augenblick vom Schicksal getrennt und verbunden werden. Auch dies ist Simmel kein fremder Gedanke und ist in seiner Soziologie bekräftigt, wenn er die räumliche Nähe und Ferne als eine der Grundlagen der Verschiedenheit menschlicher Be­ziehungen sieht.

Wissenschaft und eine neue Wissenschaft ist die Soziologie inso­fern, als sie die Inhalte aller anderen Wissenschaften in neuer Weise gliedert. Es ist eine Wissenschaft vom Menschen, die ihn in einer steten Verknüpfung mit den anderen Menschen, aber auch mit den Dingen zeigt. Wechselwirkung und Beziehung ist hier alles. Keine Nuance, die Simmel entgeht, keine Beziehung, die er nicht deutet, von den objektivsten, staatlichen, amtlichen bis zu den allerpersön­lichsten und intimsten, vom offnen Wort bis zum Geheimnis be­wahrenden Brief. Staat und Familie, Freundschaft und Liebe, Treue und Dankbarkeit, alle Verhältnisse und alle Empfindungen der Menschen haben an dem Prozeß der Vergesellschaftung teil. Wie Menschen einander anschauen, wie sie einander begegnen, einander zerstören, sich für einander schmücken, wie sie sich miteinander ver­binden, sich voneinander trennen und mit alledem einer den anderen wandelt, das ergibt ein unendlich lebendiges Bild sowohl des Ein­zelnen wie der Gesellschaft. Mit größtem Scharfsinn untersucht Simmel, was in der Gesellschaft als Wahrheit möglich und was in ihr unmöglich ist, daß wir jedem Menschen unbewußt und unwill­kürlich eine andere Wesensseite zukehren, weil jeder wieder ein anderer ist, so daß wir am anderen zu anderen werden. Simmel hat die Soziologie zwischen die beiden Grenzgebiete der Erkenntnistheorie und der Metaphysik eingeordnet. Obwohl seine soziologische Frage rein formal, zeitlos, in diesem Sinne geschichts­los ist, gilt sein ganzes soziologisches Interesse dem geschichtlichen Wirklichkeitsbestand. Aber aus ihm kristallisierte er die reinen For­men der Wechselwirkung oder Vergesellschaftung in gedanklicher Ablösung von den Inhalten heraus und faßte sie, indem er sie einem einheitlichen wissenschaftlichen Gesichtspunkt unterstellte, methodisch zusammen.

In diese rein formale Soziologie sind vor allem die großen meta­physischen Mächte: Schuld, Schicksal und Verhängnis eingegangen, aber auch jede Alltagserscheinung, in der diese Mächte Wirklichkeit werden. Damit ist diese Soziologie das Werk der gleichen einsamen Seele, die Simmel aus allen geschichtlichen und soziologischen Er­scheinungen entwickelt hat. Es ist auch hier ein durchaus voranaly­tischer Seelenbegriff, aber auch ebenso wie später sein Lebensbegriff, nicht nur ein Sichaufbäumen gegen die übermacht der lebens- und seelenfremden Mächte von Technik und Maschine, sondern zugleich die objektive, doch durchsichtige Hülle für ein neues wieder herauf­drängendes Menschendasein.

Es erscheint zunächst als ein Widerspruch, daß die soziologischen Formen und Inhalte für Simmel ein Erzeugnis der Seele sind. Aber die Seele ist für ihn nicht nur das einsame Fünklein des Mei­ster Eckart, das in jedem Einzelnen verborgen glüht, sie ist auch das „Gebilde, das Geschichte hat“. Und daß aus diesem alles Mensch­liche und damit auch das Gesellschaftliche hervorgeht, das gibt seiner Soziologie bis in die „Philosophie des Geldes“ hinein das eigen­tümlich Beseelte. Von dieser rein formalen Soziologie sagt Simmel, sie verhalte sich zu dem Inhalt aller Spezialwissenschaften, wie sich die Geometrie zur Physik und Zur Chemie verhalte.

 

Der Vergleich der Soziologie mit der Geometrie ist in hohem Maße erleuchtend. Wie die abstrakten geometrischen Formen, reiner als jede Wirklichkeit es vermag, die Grundlinien und Verbindungen aller objektiven Dinge aufzeichnen, so umschreiben die bloßen Formen der Soziologie alle Verhältnisse der menschlichen Gesell­schaft. Simmel selbst hat seine Soziologie darum eine formale ge­nannt, weil in ihr alle Inhalte und Beziehungen der Gesellschaft in ein Netz strenger Grundlinien eingefangen sind.

Wie Simmel das Sondergebiet der Soziologie als einer neuen Wis­senschaft umreißt, das führt uns nicht nur in das Zentrum der Ge­sellschaft, sondern mitten in das Lebensganze, in Geschichte und Vorgeschichte hinein. Es gibt nichts, vom Kleinsten bis zum Größ­ten, vom Einfachsten bis zum Verwickeltsten, das nicht unter die­sem soziologischen Aspekt gesehen und gedeutet wäre. Diese So­ziologie ist wie ein einziger großer Reigen, in dem Gott und Mensch, Mensch und Ding, wechselnde Figuren schlingen. „Fortwährend knüpft sich und löst sich und knüpft sich von neuem die Vergesell­schaftung unter den Menschen, ein ewiges Fließen und Pulsieren. . .“

Wie alles in ihr miteinander verbunden und doch auch alles wie­der allein und für sich ist, so daß eigentlich beides: das Ich und die Vergesellschaftung im Grunde unvereinbar wären, das tritt in Sim­mels Soziologie unnachahmlich hervor. Kants erschreckendes Wort: „Das Genie ist immer ein Gestörter, den erst die Auslegung ins Gleichgewicht bringen muß“ scheint hier in den menschlichen Ver­hältnissen überhaupt schon vorgebildet zu sein. Nicht erst das Genie, auch schon der Einzelne ist der Gesellschaft gegenüber, in der uns alles Menschsein gegeben ist, ein inkommensurables Paradox und umgekehrt ist auch die Gesellschaft allem Einzelnen gegenüber para­dox. Der Mensch ist seiner Natur nach zur Gemeinschaft nicht ge­schaffen; dennoch ist sie seine Bestimmung. Darum die Verwirrung und Verstörung aller gesellschaftlichen Beziehungen, deren Versöh­nung nicht einmal durch den reinen, guten Willen Kants, sondern letzthin nur durch die echte Gemeinschaft stiftende Gnade möglich ist. Simmel hat die Problematik der Gesellschaft später in der Ein­samkeit des „individuellen Gesetzes“ zu lösen gesucht, aber doch zugleich hinzugefügt, daß dies Gesetz nur für wenige Auserlesene, für das Genie und in seltenen Fällen für die Frau gelte.

Auch in der Soziologie spielt die Drei eine durchaus entscheidende und zwar eine doppelte Rolle. Sie ist einmal das die Zweiheit menschlicher Verbindungen störende, verstörende Element, zum anderen das vermittelnde, und zwar von der Form des Geldver­kehrs über eine ganze Welt bis in die religiöse Sphäre. Wiewohl Simmel aus seiner mystischen überzeugung den Mittler grundsätz­lich ablehnen mußte, spielt er doch in soziologischen Beziehungen auch für ihn eine wesentliche Rolle. Das unsagbare Dritte, das Sim­mel jenseits der beiden Welten von Transzendenz und ImmanenZ immer als Lösung aufgestellt hat, ist ja selbst ein Mittleres oder auch Vermittelndes, und Simmels sehr düsteres, sehr irdisches Wort, daß keine Schuld wieder gutzumachen sei, weil jede Handlung in einer anderen Lage, unter anderen Bedingungen geschehe, auch es weist auf ein Drittes, einen Dritten in der Gestalt des Mittlers hin, wie sie die beiden Testamente in verwandter Weise kennen. Die Kraft des Menschen reicht nicht aus, seine Schuld bis hineinzutragen in Sühne und Vergebung. Ein Dritter muß sie als Gesamtschuld auf sich nehmen. Hier wächst das Soziologische unmittelbar in das Re­ligiöse hinein, mit dem es sich überhaupt auf einer höheren Ebene immer wieder verbindet.

Ein besonderes Kapitel der Soziologie ist die „Philosophie des Geldes“, Sie bedeutet einen großartigen Versuch, von der losge­lösten Wertung des Geldes aus alle Formen der Gesellschaft neu und originär zu bestimmen. In ihr hat Simmel ein vollkommenes Bild der kapitalistischen Gesellschaftsordnung gegeben, aber das dement­sprechende Wort „Sozialismus“ nirgends auch nur genannt. An Stelle des Wortes Sozialismus steht hier überall und mit gleichen, wenn auch anderen Rechten, das Wort Individualismus, zu dem er sich durchweg bekennt. Und hier hat er nun endgültig aus der industriel­len Welt das einsam gewordene Ich, die tief vereinsamte Seele ent­wickelt, die dann später zum Träger des individuellen Gesetzes wurde.

 

Die eigentümliche Weltordnung, zu der Simmel in der Philoso­phie des Geldes gelangt, ist seltsamerweise an dem Weltbild Spinozas ausgerichtet, ihm eng verwandt und genau entgegengesetzt. Er selbst hat einmal ausgesprochen, daß sein Relativismus zwar ein extremer Gegensatz zu dem Weltbild Spinozas mit seiner substantia sive Deus sei, daß er ihm aber viel näher sei, als man glauben möchte. „In einem Monismus wie dem Spinozischen sind die sämtlichen Inhalte des Weltbildes zu Relativitäten gegenüber der Substanz, die ihr Träger ist, geworden“, und nun fährt Simmel fort: „Die umfassende Substanz, das allein übriggebliebene Absolute, kann nun außer Betracht gesetzt werden und es bleibt tatsächlich die relativistische Aufgelöstheit aller Dinge in Beziehungen und Pro­zesse übrig.“

Was ist hier geschehen? Die Substanz, die Simmel hinter der Welt der Beziehungen fortgezogen hat, ist für Spinoza eins mit Gott. An ihr haben alle Dinge ebenso ihr Sein, wie sie an ihr gedacht werden können, Das Sein und das Denken sind die bei den Attri­bute, durch die wir vergänglichen Wesen, die nur Erscheinungs­weisen des unfaßbaren Absoluten sind, an ihm teilhaben. Was bleibt nun, nachdem mit dem Fortziehen der göttlichen Substanz das Sein wie die Denkbarkeit aller Dinge verlorengegangen ist? Es bleibt das reine Füreinandersein, aufeinander Angewiesensein aller Dinge, Wesen und Wahrheiten. Diese reine Welt der Beziehungen, in der alles einander trägt, alles einander hält, alles aufeinander angewie­sen ist, ist als die Welt Simmels übriggeblieben.

Er selbst scheint den Abgrund, der sich in dieser Erkenntnis auf­tut, gar nicht als solchen empfunden zu haben. Er glaubte gerade in dieser Welt einander tragender Beziehungen einen festen Denk­zusammenhang gefunden zu haben, der die Wahrheit aller Skepsis enthob. Und wirklich ist Simmels kosmischer Relativismus ein grandioser Versuch, die sich völlig auflösende Welt noch einmal zur Anschauung eines Ganzen zu bringen. Denn dieser Relativismus be­deutet nicht eine Verneinung der Wahrheit, sondern im Gegenteil den Versuch, ein Ganzes der Wahrheit aufzustellen in einer Zeit und kraft einer Methode, in der und durch die nur einzelne Wahr­heiten zu finden sind.

Aber gerade auch den Sinn und die Wahrheit der einzelnen Dinge hat Simmel nicht weniger zu ergründen gesucht. Husserls be­rühmtes Wort „zurück zu den Sachen“ gilt in sehr anderem Sinne auch für ihn. Aber während Husserl die Wirklichkeit der Welt ausklammert, um allein die Sachen in sich selbst in ihrer rein logi­schen Struktur zu ergründen, hat Simmel alles lebendig Wirkliche, die „voll sinnliche Wirklichkeit der Dinge“ gesucht. Denn dies schien ihm das noch schwerer zu Ergründende. Der Gottheit lebendiges Kleid, das der Weltgeist wirkt und von dem er zeitlebens einen Zip­fel zu erhaschen suchte, den er nach allen Seiten wandte und drehte, um sich seiner Göttlichkeit zu versichern, war ihm wirklich nur noch als der Zipfel eines leeren Kleides geblieben, nachdem der Träger ihm entglitten war. Das leere, immer noch schimmernde Kleid, des­sen Göttlichkeit er in allen Fingerspitzen spürte, so daß ihm Spino­zas „omnis determinatio est negatio“ wie eine Gotteslästerung klang, war eine der beiden Wahrheitsquellen seines Denkens. Wunderbar genug: Gott, die göttliche Substanz, durfte, ja, mußte seinem Blick entschwinden; aber das Kleid sollte seine Göttlichkeit bewahren oder wiedergewinnen.

Das rastlose Durchqueren aller Dinge ist keineswegs eine bloße Hemmungslosigkeit seines Denkens, sondern es beruht auf der Ge­wißheit, in einer unerschöpflichen Welt zu stehen, die dem Den­ken unerreichbar ist. Simmel ist wie der Wanderer, dem auf seiner Wanderung durch das Land immer Neues, immer Kostbareres sich hervortut und verbietet, beim Erreichen haltzumachen, und der weiß, daß dies nie ein Ende nehmen wird. Dies nimmt seinem Den­ken die Richtung auf ein bestimmtes Ziel, gibt ihm aber auch den lebendigen Reiz des Wagnisses und des Abenteuers.

Wohin immer Simmel die Augen wandte, wie fast wahllos hinge­rissen er in alle Einzelerscheinungen eindrang, wenn er in ihnen nicht mehr das wahrhaft Göttliche zu erfassen vermochte, so war doch das Fruchtbare an diesem Verhalten, daß er jederzeit in ihnen die Beziehung auf wahrhaft Menschliches fand. Auch in den schlich­testen und selbstverständlich gewordenen Erscheinungen geht es ihm um der Menschheit große Gegenstände: um das Sein der Seele, um Leben und Tod, Zeit und Ewigkeit, Transzendenz und Immanenz. An den Dingen selbst, mit denen der Mensch umgeht, offenbart sich sein Verhalten zum Leben. Dies gibt allen noch so verschiedenen, allen scheinbar noch so entlegenen Fragen Simmels bei allem Reich­tum, aller Verschiedenheit der Probleme, ihren einheitlichen Sinn.

Wenn Simmel nach Gegenständen fragt, um die sich sonst nie ein Denker bemüht hat: der Henkel, die Mode, die Koketterie, das Abenteuer, die Ruine, Brücke und Tür, und dies alles mit letztem Ernst, so darf man alle diese Fragen nicht losgelöst vom mensch­lichen Zentrum sehen. Im gegenwärtigen Augenblick und zugleich unter dem Antlitz der Ewigkeit ist jedes Ding, das im Alltagsleben dem Menschen dient, gesehen. Wohl am klarsten zeigt dies der Auf­satz Brücke und Tür“: die Brücke als eine ein für allemalige Fest­legung eines Weges zwischen zwei bestimmten Orten, vollends die Tür, das Hinein und Heraus unseres Lebens, der Wechsel von menschlicher Einsamkeit und der Welt draußen.

Simmel sucht nicht, wie die spätere Philosophie, neue Ausdrücke für die Dinge; das entscheidende Nachkriegswort Hemingways, daß nach der Entweihung durch den Krieg kein Wort seine Wahr­heit und Heiligkeit bewahrt habe, so daß im Grunde nur noch Eigennamen und Straßennamen ohne Lüge ausgesprochen werden dürften, ist für ihn noch nicht gesagt. Aber indem Simmel unbefan­gen, wenn auch mit strenger und oft eigentümlicher Auswahl in den alten Worten das Letzte, nicht mehr Aussprechbare einzufangen sucht, spricht seine schon schwierige, vom Unsagbaren bedrängte Sprache eine lebens- und todesnähere Wahrheit aus als die der mehr im Systematischen bleibenden früheren Denker. Zugleich wird auch in dieser Sprache wieder der Grundzug seines Wesens, die Selbst­erkenntnis und Selbstbescheidung klar.

Zwei Worte begegnen uns bei Simmel immer wieder. Die Worte „vielleicht“ und „sozusagen“. Das erste, das in der bisherigen philo­sophischen Sprache als Fremdwort erscheint, ist in dieser Stunde, da alle feste Wahrheit sich auflöst, ein Zeichen des Innehaltens vor der schriftlichen Niederlegung jeder eindeutigen überzeugung. Das zweite entspringt dem gleichen Bedenken; es sagt: Soweit wir Men­schen das aussprechen können, soweit es uns zukommt, eine Sache, einen Begriff einfach und endgültig zu formulieren. Es ist ein Wissen um die Unzulänglichkeit jedes Menschenworts darin.

Wir, die wir weder das Jenseits noch das vollsinnliche Diesseits der Dinge erkennen können, sind auch nicht mehr imstande, den dem ersten Menschen gegebenen Auftrag zu erfüllen, die Dinge des Lebens zu benennen. Gewiß hat jeder echte Philosoph von neuem diesen Auftrag zu erfüllen versucht; aber die Geschichte selbst hat ihm darin eine endgültige Schranke gesetzt.

Daß Simmel die von Menschenhand geschaffenen Dinge als eine besondere Offenbarung des Menschendaseins erfaßte, ist eine seiner soziologischen Erschließungen. Diese eigentümliche Beziehung auf die den Menschen umgebenden Dinge hat selbst ein Meinecke nicht verstanden. Er beschließt in seinen Erinnerungen den Bericht über einen Besuch Simmels mit den Worten: „Aber da sprang aus dem Gespräch mit dem übergescheiten Manne für mich nicht viel heraus, oder doch nur Funken, die rasch verglühten. Ich bot ihm, wie er kam, den Stuhl an, er aber blieb stehen und fing an, eine Philosophie des Stuhles und des Stuhlanbietens sich aus dem Armel zu zupfen.“

Dies ist eines der großen Mißverständnisse, denen Simmel immer wieder begegnet ist. Denn natürlich wußte er, daß ein Stuhl zum Sitzen da ist, und daß man einem Gast einen Stuhl anbietet, aber er war nicht in jedem Augenblick bereit zu sitzen, weil jeder Gegen­stand, auch der unbedeutendste, auch der rein zum Gebrauch be­stimmte, ihm zunächst als Problem gegeben war und eine Stellung­nahme seines Geistes forderte. Keineswegs hat er sich die Philoso­phie des Stuhles und des Stuhlanbietens aus dem Armel gezupft, sondern es überfiel ihn die Frage nach der menschlich-soziologischen Bedeutung dieses Dinges, das, von Menschenhand geschaffen, sich wieder dienend dem Menschen zur Verfügung stellt und das für Simmel immer wieder zum Anlaß einer Frage wurde. Hätte Mei­necke das soziologische Denken Simmels ganz erkannt, so hätte er gewußt, daß eine solche Betrachtung Simmels Geistesart entsprach, und daß dieser spielende Intellekt als Strahl aus einer metaphysi­schen Tiefe aufstieg. Tief innen brannte das mystische Fünklein, das in dem modern empfindenden, großstädtischen Denken nach außen in tausend Funken versprühte. Meinecke hat nur diese Funken, die rasch verglühten, gesehen, nicht das Fünklein, dem sie entstammten.

Simmels ganze Soziologie, in der „die Seele das Bild der Gesell­schaft und die Gesellschaft das Bild der Seele ist“, ruht damit letzt­hin auch auf einem Dritten. Denn auch die Seele ist für ihn ein Drit­tes, wie alles, was unter- oder übergedanklich die erlebte Zweiheit des Lebens trägt.

 

Der erste Weltkrieg hat ein neues Begreifen dieses letzten Dritten erzwungen. Es wurde in seinem Verlauf bis zum Entsetzen deut­lich: Wir leben nicht nur, wir existieren, und zwar in einer Um­welt, die uns so tief mitbestimmt, daß wir sie von unserem Eigen­sten nicht lösen können und erst eine äußerste Entscheidung die bei­den Seinsweisen voneinander trennen kann, eine Entscheidung, zu der wir aufgerufen werden, obwohl wir die Stimme, die uns ruft und den Ort, von dem wir aufgerufen werden, nicht erkennen. Wie­viel Stimmen und Rufe und Schreie sind in das Wort „Nichts“ ein­gegangen.

Und doch liegt es als ein Gemeinsames allen Lebensphilosophien zugrunde; gemeinsam ist ihnen allen die Wendung gegen das durch­gehende abendländische Denkprinzip: die Ratio, die helle, feste, gesetzhafte allmenschliche Vernunft. Denn mit der Welt selbst hatte auch die Vernunft ihr Antlitz gewandelt. Sie ging nicht völlig un­ter; sie starb nicht, aber sie rückte ganz an den Rand und bezog sich nur noch auf Dinge der Technik und des materiellen Geschehens. So kam eine große Leere in die Welt, und man kann die eine Seite der Lebensphilosophie auch als die geistige Spiegelung der realenSehnsucht des losgerissenen modernen Menschen sehen, in einer ihn geistig entwurzelnden Welt wieder wurzeln zu dürfen, wieder Hei­mat zu haben.

Das Leben ist für Simmel schon lange bevor er sich zu ihm be­kannte, immer das Erste gewesen. „Das Letzte, das wir erkennen können, ist immer nur das Vorletzte.“ Das bedeutet nicht nur eine denkerische Relativierung der Wahrheit, es bedeutet den unbeding­ten Primat des Lebens vor dem Denken, die immer erneute Heraus­forderung des Lebens an das Denken und zugleich die Unmöglich­keit, das Sein durch das Denken zu erreichen.

Eben für diese Unmöglichkeit setzte Simmel das Wort Leben. Denn daß die Dinge, das Sein zwar durchaus nicht denkbar, aber geistig erfaßbar seien, war seine Grundüberzeugung. Darum bedeu­tete für ihn alle Philosophie nur einen Ausschnitt aus den unend­lichen Fragen und Antworten des Geistes. Simmel hat nicht, wie die großen idealistischen Systemdenker vor ihm, die Metaphysik in objektiver Form dargestellt, er konnte auch nicht wie Schopenhauer eine Welt als reine Vorstellung betrachten, nicht wie Nietzsehe aus dem reinen Nichts Schopenhauers einen Menschgott heraufbeschwö­ren; er konnte nur, wie fast alle wesentlichen Denker seiner Zeit, seine Grundfrage an das Leben richten.

Und indem er dies tat, übersprang er nach rückwärts alles Den­ken bis zu Kant. Indem er auf dessen erkenntnistheoretische Ein­sichten zurückging und sie auf allen Gebieten neu belebte, gab er der Metaphysik ihre schweigsame, königliche Rolle zurück, die aber ihm mit der Rolle des Lebens, der unerforschlichen Mächte von Leben und Tod, zusammenfiel. Aber obwohl all dies Forschen ein existentielles war, hat er es doch immer nur als essentielles ausge­sprochen, wenn auch die seelischen Gehalte immer nah daran waren, diese Wirklichkeitsschau zu sprengen.

Die Bedeutung des dem rationalen Denken entfremdeten Wor­tes Leben ist bei jedem der Denker, die in ihm ein neues Erfassen der Wahrheit erkannten, verschieden. Ihnen allen aber hat es Gott geraubt und ein Göttliches wiedergegeben. Bei allen anderen Lebens­denkern trägt das Leben noch einen anderen Namen, sei es der blinde Wille, der Wille zur Macht, die Geschichte oder die Zeit - bei Simmel trägt es einzig den Namen Leben, Leben im subjektiven wie im objektiven Sinne. Denn wenn Simmel den ganzen Komplex des zu Erfragenden und zu Beantwortenden in seiner Spätzeit „Leben“ nannte, so war dies nicht, wie noch bei seinen Vorläufern, ein zum Teil biologischer Begriff, sondern diese begrifflich gefaßte Sphäre lag immer schon dicht an der Grenze einer existenziellen Daseins­erschließung.

Simmels Übergang zum Lebensbegriff, zum Teil sicher ein Tri­but an seine Zeit, ist doch auch unmittelbar aus seiner Wesensart zu verstehen. Es war nichts Unlebendiges in seinem Dasein. Und der Lebensfülle des Wirklichen, wie der Positivismus sie beigebracht hatte, trat die Grundstimmung des Idealismus, der Glaube an den schöpferischen Charakter des Geistes wie des Lebens zur Seite. Die Wurzeln des idealistischen Schöpfertums stecken aber nicht nur bei Simmel, sondern auch bei allen anderen Lebensdenkern, tief und ursprünglich in ihrem Begriff des Lebens. Während aber der schöp­ferische Charakter des Lebens bei Nietzsche die Vorbedingung zu seiner Verewigung durch den Menschen ist, während er bei Berg­san die Bedingung zum Werden der Welt und zugleich zur Mög­lichkeit ihrer intuitiven Erfassung ist, während er bei Dilthey die Bedingung zur Entfaltung des geschichtlichen Lebens und zugleich zu dessen Verständnis ist, ist er bei Simmel die identische Quelle des Doppelstroms von Sein und Sollen, Wirklichkeit und Wert.

Was Simmel vom Lebensbegriff verlangte, war, daß er die Pro­blematik des cogito nicht nur überwinden, sondern zugleich auch annehmen und in der tieferen metaphysischen Wirklichkeit eines um­fassenden vivo gründen solle. Die rationale Position ist bei ihm nicht wie bei den anderen Lebensdenkern völlig überwältigt und ausge­löscht, sondern sie selbst hat ihren Ursprung schon im Leben. Das Leben ist hier überall von kategorialen Formungen durchzogen, da nach Simmel alle Logik und alle Psychologie im Leben selbst ihren Ursprung hat.

 

So ist der Begriff des Lebens der große Versuch einer Welterfas­sung, der alle Denk- und Wirklichkeits gehalte in sich schließt, und dem man darum einen jeden unterlegen kann, der den Zusammen­bruch aller Ratio bedeutet, die Simmel doch aus ihm selbst wieder­zugewinnen strebt, obwohl dies nie bis zum Ende gelingen kann.

„Der Apfel vom Baum der Erkenntnis war unreif“; Erst vom Baum des Lebens kann nach der Überzeugung Simmels und aller Lebensdenker die volle Wahrheit gewonnen werden. Die Erkennt­nis bleibt als unreife Frucht hinter der Reife der Dinge zurück.

Indessen: Der Mensch hat vom Baum der Erkenntnis gegessen, aber vom Baum des Lebens zu essen, ist ihm versagt. Darum liegt in der erkenntnismäßigen Erschließung des Lebens, wie sie alle jene Denker unternommen haben, eine metaphysische Gefahr, und alle haben sie dies in irgendeiner Weise empfunden. Simmel, der Philo­soph kat exochen, hat mehr als einmal achselzuckend gesagt: „Es ist nichts mit der Philosophie“. Er hat allen Lösungen des bloßen Den­kens entgegen immer das Bedürfnis gehabt, „noch einmal zu den Müttern hinabzusteigen“. Ja, aus diesem tieferen Wissen heraus, hat er angesichts der Todesmosaiken von Ravenna einem nahen Freunde gesagt, daß er sich als Denker sündig fühle. Sündig sicher darum, weil er, dessen Denken immer in der wissenschaftlichen Form verblieb, wußte, daß nicht Wissenschaftsprobleme, sondern die Mächte Leben, Liebe, Leid und Tod die letzten Fragen des Denkens sind. Auch aus dieser Gewißheit entsprang ihm immer wieder die Sehnsucht nach einem Dritten, und aus diesem Grunde hat er auch beklagt, daß die Liebe und der Schmerz so wenig Raum in der bis­herigen Philosophie einnehmen.

Mit alldem liegt eine tiefere Schicht als alles Aussagbare unter dem Denken Simmels: ein tieferes Wissen um das Menschliche, ja, auch ein tieferes Wissen um das Göttliche, das er mit dem Verstande aufgegeben hatte, und das er doch in allem Lebendigen immer wie­der aufzufinden suchte.

Simmel hat das Ganze des Lebens als ein kontinuierliches Fließen gesehen, das doch selbständige, in sich zentrierte Gebilde aus sich erzeugt, „und deshalb eine immer begrenzte Gestaltung ist, die ihre Begrenztheit dauernd überschreitet“. Aus dieser Kraft Objektives immer neu aus sich hervorbringen, ist es zugleich „mehr Leben“ und „mehr-aIs-Leben“. Die Lebenstranszendenz selbst wird so in die Immanenz des Lebens als dessen eigenster Charakter aufgenommen.

 

Je klarer das Leben in den Blick tritt, um so klarer steigt auch der Tod herauf. Denn der Tod ist für Simmel nichts außerhalb des Le­bens, er ist selbst ein form gebendes Element des Lebens, ohne das nichts in ihm, so wie es ist, denkbar wäre. Es hängt für das Erkennen des Todes alles dar an, daß man sich von der „Parzenvorstellung“, dem Wahn des plötzlich von außen abgeschnittenen Lebensfadens, auch von der Vorstellung des Knochenmannes, ja selbst von der der realen Sterbestunde als vereinzeltem Ereignis befreit. Jeder Augen­blick, jede Stunde unseres Lebens ist vom Tode mitbestimmt; so­ bald wir geboren werden, sind wir Sterbende. Das Paradox unseres Menschendaseins, daß mehr Leben auch mehr Tod bedeutet, ist so sehr sein eigenes Wesen, daß der Tod gleichsam zur Auszeichnung für das höhere Leben wird. Je mehr und stärker, je individueller das Leben ist, um so mehr ist es darum wahrhaft todesfähig; nur das wirkliche, das höhere Leben stirbt, so daß man mit Simmel sagen kann: „Sterben können ist das Siegel der höheren Existenz“.

Der Tod ist also nicht weniger unser Schicksal als das Leben. Ja, man könnte sagen, daß er mehr unser Schicksal ist, denn das Leben ist das uns Selbstverständliche, während wir am Tode leiden und ihn fliehen. Simmel beschreibt das mit den Worten: „Wir sind wie Menschen, die auf einem Schiff in der seinem Lauf entgegengesetz­ten Richtung schreiten: indem sie nach Süden gehen, wird der Bo­den, auf dem sie es tun, mit ihnen selbst nach Norden getragen.“

Obgleich deutlich von Simmel beeinflußt, ist das Heideggersche „Vorlaufen zum Tode“ dieser Haltung genau entgegengesetzt. Heid­eggers Vorlaufen zum Tode ist einmal eine Umkehrung der Rich­tung, die vom Menschen dem Tod gegenüber gefordert ist, es ist aber eben damit auch ein aktives Verhalten, das Heidegger gegen­über dem passiven von Simmel fordert. Es ist, als hätte durch die neue Rolle, die durch Krieg und Verfolgung in die Welt gekommen war, der Tod ein Neues und Entscheidendes vom Menschen gefor­dert: er soll ihn nicht nur als Schicksal hinnehmen, er soll von sich aus zu ihm stehen und ihn im eigenen Leben vorwegnehmen. Er selbst muß bewußt die Bewegung leisten, die unbewußt mit ihm vollzogen wird.

Der Tod ist aber für Simmel nicht nur insofern die Grenze des Lebens, als er das Leben des Menschen beendet; er sondert aus dem verfließenden Leben auch dessen objektive Inhalte heraus. Ohne ihn würden wir die Formen und Gehalte, die das subjektive Leben über­schreiten, gar nicht erkennen.

Und wieder macht sich auch hier bei Simmel die Drei geltend. Nach dem Hegelschen System von Thesis, Antithesis und Synthesis baut Simmel den Lebens- und Todesvorgang auf. Leben und Tod stehen in ihm auf einer Stufe. Aber über ihnen wölbt sich ein Drit­tes, Höheres, das ohne den Eingriff des Todes nicht möglich wäre.

„Die Hegelsche Formulierung, daß jedes Etwas seinen Gegensatz fordert und mit ihm zu der höheren Synthese zusammengeht, in der es zwar aufgehoben ist, aber eben damit, zu sich selbst kommt, ­ läßt ihren Tiefsinn vielleicht nirgends stärker, als an dem Verhältnis zwischen Leben und Tod hervorleuchten.“

Neben den Todesgedanken tritt dann in verschiedenen Abwand­lungen der Gedanke der Unsterblichkeit. In ihm ist nichts aus reli­giösen Lehren übernommen, sondern alles ist aus dem Leben und Wesen des Menschendaseins selbst entwickelt. „Aus dem Hinaus­reichen des Lebensprozesses über jeden einzelnen seiner angebbaren Inhalte entsteht das allgemeine Gefühl einer Unendlichkeit der Seele, das sich mit ihrer Sterblichkeit nicht vertragen will.“ Eine weitere Begründung des Unsterblichkeitsgedankens ist: „Die tiefe Sehnsucht, das Zufällige zu überwinden, der Zwang, mit dem das Verhältnis der Seele zu ihrer Umwelt uns in eine Richtung führt. . .“ diese Sehnsucht kann sich nicht reiner erfüllen als „mit jener mysti­schen Vorstellung von dem Ich, das alle einzelnen Inhalte überlebt und damit die ganze Zweiheit der Daseinselemente abgetan hat, aus der dem Leben seine Zufälligkeit kommt.“ Auch darin zeigt sich wieder das ursprüngliche Verhältnis Simmels zu einem Dritten.

Die Kriegswirklichkeit hat ebenso wie die Rolle des Einzelnen und der Gemeinschaft auch das Verhältnis zu Leben und Tod ver­ändert. Die Gestaltung des Einzellebens, die Eroblematik der einzel­nen Seele ist in die Forderung der GesamtgestaltUng umgeschlagen, und die Soziologie fragt nicht mehr nach den Beziehungen zwischen Mensch und Mensch. Aus dem Osten stellt sich die Frage nach dem Grundbegriff des Westens: dem Individuum, bedrängend und neu. Sie stellt sich seit langem, doch immer verstörender steigt sie in un­serem Leben herauf. Die Lebensdenker haben sich bemüht, das menschliche Individuum zu erhalten, ohne die Macht, die ihm den Odem eingeblasen hat. Einen solchen entscheidenden Versuch hat auch Simmel aus tiefster europäischer Gewißheit unternommen, und sein Seelenbegriff ist ihm dabei ebenso leitend gewesen wie der frühe griechische Begriff des Seins.

Wenn er in der Lösung des Parmenides, dem „Sein“, die größte philosophische Leistung aller Zeiten fand, so lag dies dar an, daß hier „die unsagbare Fülle der Welt, deren Vielheiten und Fremdhei­ten niemand zu einer wirklichen Einheit zusammen denken kann, nun doch in einen Ring geschmiedet ist, unter das Joch dieses einen Gedankens: daß dies ist, - einheitlich gebeugt.“

Und wenn so die Entdeckung des Seins von ihm, dem das Werden das Nähere war, als die höchste philosophische Tat aller Zeiten er­kannt wurde, hatte dies auch den weiteren Grund, daß gerade in der Entdeckung des Seins für ihn auch der Ursprung aller Kultur lag. „Der Primitive unterscheidet nicht zwischen Traum, Phan­tasma und Sein; daß etwas sich dadurch von allem Nichtwirklichen unterscheidet, daß es ist, - das läßt jene in sich geschlossene Kugel des Seins entstehen, die uns das wirklich Bestehende als Bestehendes offenbart“, und nur von dieser geschlossenen Kugel aus, die alles nur Scheinhafte von sich weist, ist uns die Gestaltung von Wirklichkeit, die sich damals Kultur nannte, möglich.

Kultur - dies Wort war nicht nur im Denken, es war auch im Leben Simmels ein zentraler, fast religiöser Begriff. Und es ist sicher vor allem dies, was die unmittelbar auf ihn folgende Generation an ihm so sehr mißverstanden hat. Denn in der Kultur steckt keine Entscheidung, und Entscheidung war das Zentrum, um welches das Denken der Nachkriegsgeneration kreiste. Jenes Sein, das Simmel als Kultur bezeichnete, war für ihn nicht nur das, was alles wahrhaft wirklich werden läßt, es war vor allem der  „Weg der unentfalteten Seele zu ihrer Entfaltung“, für die neue Generation dagegen war Kultur das, was in den Untergang einer sich selbst zertrümmernden Welt geführt hatte. Sie sah daher in Simmels Kulturbegriff nur dies, sie sah nicht, daß der große Geschichtsphilosoph und Soziologe Simmel, der so weite Spannen des Geschehens durchforscht hatte, dod1 auch deutlich die Krisis der Kultur, die ihn geformt und an der er weitergeformt hatte, erkannte und den Weg zu einer zentralen Tiefe unterhalb alles Kulturellen suchte, Leben und Tod und das menschliche Ich erreichen wollte.

Kultur ist aber von einer ganz anderen Seite gesehen für Simmel das aus dem Kern objektiver Wachstums gebilde - wie etwa des Baumes - durch die Hand des Menschen Emporentwickelte, in das Lebendige vom Menschen Eingepfropfte, das was so aus der Gemein­samkeit von Ding und menschlichem Tun hervorgeht, und umgekehrt wird die menschliche Seele nur durch die objektiven Gebilde, die sie selbst mitgeschaffen hat, zu ihrer letzten Reife geführt.

Der große Zusammenhang der Kultur selbst: dieses Sprechen der Geister von Gipfel zu Gipfel wurde Simmel gleich Nietzsche zum Sinn des Lebens überhaupt. Und als er sich zuletzt dem Leben zu­wandte und in ihm den Urgrund alles Denkens und Gestaltens, alles Gedachten, Gestalteten aufzuweisen suchte, da war es die Schau der großen schöpferischen Individuen, die bei seinem Lebensbegriff Pate gestanden hatte. Denn Leben und Tod waren ja für ihn nur im Individuellen in seiner höchsten Form verwirklicht.

In dieser Haltung, die uns heute fast als ein geistiger Hochmut erscheint, weil sie das einfache, schlichte Dasein der Ewigkeit ent­zieht, liegt zugleich wieder eine tiefe denkerische Bescheidenheit. Die Haltung Simmels dem Leben gegenüber ist zwar der Nietzsches ver­wandt, der, weil er das Nichts, das sich ihm enthüllt hatte, nicht er­trug, den eigenen schöpferischen Geist dem Leben zu seiner Ver­ewigung hinschenkte; aber in dieser Verwandtschaft der beiden Halnmgen wird zugleich das eigentümliche sich selbst Zurückstellen von Simmel klar. Nicht den eigenen Geist glaubte er schöpferisch beseelend in das entleerte Leben einsetzen zu müssen - sondern er selbst trat schweigend zurück und ließ den Geist der Großen spre­chen, die einmal das Geheimnis und Wunder des Lebens tiefer als andere erschaut hatten. Wenn aber Simmel das Schöpferische im Le­ben, im Menschen, in der Kunst verehrte, so wußte er doch auch ganz um den Verlust, der mit dem Primat des bloß menschlich Schöpfe­rischen der Welt geschehen war. Die Erde war reich, der Himmel arm geworden, und wenn Simmel um die Tragödie der Kultur wußte, so war es darum, weil er erkannte, daß in einer solchen rein menschlichen Kultur auch der Keim zu ihrem Untergang lag.

Die Generation nach dem ersten Weltkrieg hat den Begriff der Kultur, der Kunst, der Schönheit in dem Maße verändert, daß Franz Rosenzweig, der nur noch im Wirklichen leben wollte, allen bisherigen Kunsttheorien entgegen als Grundfrage der Asthetik aus­sprechen konnte: „Können Künstler selig werden?“

Mit Simmels Bekenntnis zur Kultur ist sein tiefes Verhältnis zu Kunst und Schönheit verbunden. Sein Sinn für Schönheit, dies helle Licht, das über sein Denken ausgegossen ist, entstammt sicher dem Tiefsten und Dunkelsten seiner Natur. Er sah, er fühlte bis zur Ver­zweiflung das Unvollendete, das in der Welt und in ihm selber lebte, und liebte darum die Schönheit, die Kunst um so sehnsuchtsvoller, als aus ihnen der Duft ihn anwehte, den die vollendeten Dinge ausströmen.

            Zu Simmels Begreifen der Kultur gehört darum auch sein Ver­hältnis zur Schönheit. Schon allein, was für Simmels Denken dieForm bedeutet, läßt sich sowohl an seiner Deutung Kants, wie an der Goethes ablesen. Es ist die Form im platonischen Sinne als ewiges, unveränderliches Bild über dem zeitlichen Geschehen. Der große Traum von Simmels Leben, die bereits von Kant endgültig zerstörte Einheit zwischen Sein und Sollen, Idee und Wirklichkeit wiederzugewinnen, konnte sich am reinsten im Ästhetischen erfül­len: im Bild, im Schein, in der Gestalt. So formte sich ihm statt der gebrochenen Wirklichkeit, in der er lebte, das reine Bild eines höhe­ren Daseins.

Aber obwohl sein Kulturbegriff weithin ästhetisch geprägt ist,war Simmel keineswegs ein Asthet, wie ihn die ]ahrhundertwende in verschiedenen Formen hervorgebracht hat. Er liebte die Schön­heit, und er Wußte um die Gesetze des Schönen, so tief, daß gerade er durch dieses Wissen das Leben aus dem leeren Ästhetizismus der Jahrhundertwende hinausgeführt hat in die lebendige Schönheit: Schönheit als die erscheinende Tiefe und Echtheit des Seienden selbst.

Und hier kam ihm der geschichtliche Augenblick mit voller Ge­genwärtigkeit entgegen. Einmal entfaltete sich zu seiner Zeit eine große neue Kunst, bildende Kunst und Dichtkunst vor allem. Fer­ner hatten seit Kants großartiger „Kritik der Urteilskraft“ sich Lehren vom Schönen und ein Wissen um das Schöne in der deutschen Gedankenwelt entwickelt, wie es seit Augustin nicht mehr dage­wesen war. Simmels Schönheitssinn ist Von so durchdringender Tiefe und Leidenschaft, daß er sagen konnte: „In das Gleichgültigste, das uns in seiner isolierten Erscheinung banal und abstoßend ist, brau­chen wir uns nur tief und liebevoll genug zu versenken, um auch dies als Strahl und Wort der letzten Einheit aller Dinge zu empfin­den, aus der ihnen Schönheit und Sinn quillt und für die jede Phi­losophie, jede Religion, jeder Augenblick unserer höchsten Gefühls­erhebungen nach Symbolen ringen.“

Es ist überhaupt heute nicht mehr in vollem Umfange nachzu­erleben, was die Kunst und das Aufnehmen des Künstlerischen injenem Augenblick für das europäische Dasein bedeutete. Für Simmel wurde vor allem durch sie die neue Wirklichkeit mitbegründet, die er mit dem für uns Heutige nicht mehr aussprechbaren Namen des Dritten Reiches bezeichnete, das ein letzter Ausdruck seiner Bezie­hung zum Dritten war. Hier zeigt sich am offensten ein Element, das sonst nur verborgen in Simmels Denken lebt und ohne das es doch nicht möglich wäre: das messianische, das jeder echte Jude in sich trägt. Wir glauben in seinem rastlosen Denken immer den Schritt des verhüllten Messias zu hören, der ewig das Unerreichbare suchend, ewig an ihm vorübereilen muß. Denn, daß dieses von ihm ersehnte dritte Reich weit über die Kunst und alles Künstlerische hinausgeht, zeigt am klarsten der Schluß seines Aufsatzes über Mi­chelangelo, der den ewigen Dualismus, der auch diesem gewaltigen Genius den letzten Zusammenklang der Wehen versagte, darin be­gründet, „daß die Menschheit noch das dritte Reich nicht gefunden hat.“

Hier, wie auch in seinem Goethe, seinem Rembrandt, seinem Ro­din, hat er nicht das Verständnis der geschichtlichen Erscheinungen als solcher, sondern das Verständnis ihres einzigartigen Wesens ge­sucht, das Urbild, die Urform ihres Daseins, den Sinn ihrer indivi­duellen Form überhaupt, das, was er selbst ihre Idee genannt hat.

Mit all diesen Erschließungen eines Letzten ist auch Simmels Ver­hältnis zur Religion berührt. Simmel gehört zu jener Generation, deren Gottesglaube nicht nur erschüttert war, sondern die, wie neben ihm in sehr anderer Weise Freud, wußte, daß man in einer solchen Welt den Namen Gottes nur eitel nennen konnte. Und doch kannte er den ganzen Wert der Religion, wußte, was es bedeu­tet, daß jedes Haar auf unserem Haupt gezählt ist, daß kein Sper­ling ohne den Willen Gottes vom Dache fällt.

Zwar hat er die Religion auch als soziologische Erscheinung, als eine Welt von Beziehungen metaphysischer Art gesehen, daß aber sein Verhältnis zur Religion keineswegs nur ein soziologisches war, zeigt schon sein klares Wissen: „Denn die Aufklärung würde Blind­heit sein, meinte sie in ein paar Jahrhunderten der Kritik an den religiösen Inhalten eine Sehnsucht zerstört zu haben, die die Mensch­heit von dem ersten Aufdämmern ihrer Geschichte an und vom nied­rigen Naturvolk bis zu den äußersten Kulturhöhen beherrscht hat.“

Nicht nur sein Buch über die Religion, sein Verhältnis zur reli­giösen Kunst, vor allem auch seine tiefsinnige Abhandlung über die Persönlichkeit Gottes enthüllt den religiösen Kern seines Wesens. In ihr untersucht er mit seiner ganzen Denkkraft den letzten Sinn dieser Gotteserfassung. Die Lösung, zu der er hier gelangt, kann selbstverständlich kein wie immer geartetes Dogma, kein Symbol, keine Form der Transzendenz sein. Er spricht es aus: „Wie eng und dürftig erscheinen. . . die Dogmen, die religiösen Begriffe, die fixier­ten Kußerungen des Glaubens, wenn man sie an der Glut und Inten­sität des religiösen Erlebens ihrer Schöpfer mißt, das uns aus impon­derablen Symptomen entgegenleuchtet oder aus der Analogie eige­nen Erlebens intuitiverfaßbar wird!“

Mit diesem allem Dogmatischen und Symbolischen fremden Ver­hältnis zum Religiösen hat Simmel sich der Zeit, in der er lebte, ein­gefügt. War es anderen Denkern seiner Zeit vergönnt, zuletzt noch den Namen Gott auszusprechen und die Wirklichkeit an ihm zu messen, so hat Simmel nie die geschichtliche Distanz, die ihm vor dem Letzten die Lippen verschloß, vergessen können. Und doch hat sein Geist nie aufgehört, das Letzte zu umkreisen und die zu benei­den, die dies Wort noch ohne Vorbehalt, in der vollen Gewißheit des Glaubens aussprechen konnten. Er selbst aber setzte an die Stelle des Gottgläubigen, d. h. die Transzendenz in einem bestimmten, gestalthaften Symbol sammelnden Menschen, die aus sich selbst reli­giöse Seele. So hat er dem lebendigen Ich ein Ursprüngliches in dieser gestaltlosen, in das rein Innere gesunkenen Transzendenz ge­sichert.

Noch kein abendländischer Denker ist wohl je so weit in der Auf­lösung aller Transzendenz gegangen, daß aus dieser Auflösung selbst ein neuer Glaube, und zwar nun ein Glaube an das dem Menschen einwohnende Religiöse gewonnen worden ist. Nicht Reli­gion als Glaube an ein Übersinnliches ist, was er suchte und fand, sondern Religion als Qualität eines religiösen Daseins. Es ist die reine Transzendenz ohne einen Jenseitsbegriff, die fast an die Wahr­heit des Alten Testamentes gemahnt.

Zum Sein zurückzufinden, zu einem göttlichen Sein, war ihm in dem Maße versagt, daß er glaubte, von Gott nicht einmal das Le­ben aussagen zu dürfen. „Auch der vorsichtigste V ersuch einer posi­tiven Bestimmung Gottes überschreitet unsere Denkrechte“, heißt es in Simmels letztem Buch. Doch immer ist ihm die Gewißheit geblie­ben: „Wenn auch die Religionen vergehen, so bleibt doch die Reli­gion bestehen, wie ein Baum, nach dem immer wiederholten Abneh­men seiner Früchte.“

Am Ende von Simmels Leben und Werk, in dem letzten Kapitel seines letzten Buches vollzieht sich erstaunlicherweise noch einmal eine grundlegende Auseinandersetzung mit Kant. Es ist das Kapitel der „Lebensanschauung“ über das individuelle Gesetz. Daß das Sol­len für Simmel das kategoriale Urphänomen ist, das verbindet ihn zutiefst mit Kant. Und wie bei Kant das Göttliche, das Übersinnliche, das durch das theoretische Erkennen auf keine Weise mehr erreich­bar ist, gleichsam von der anderen Seite her im Sittengesetz wieder einströmt (denn das Sittengesetz ist es, „in dem allein dem Men­schen sich das Übersinnliche entschleiert“), wie man darum sagen kann, daß das göttliche Prinzip weit ursprünglicher, gewisser als in den Postulaten von hier aus in das menschliche Ich hereinstrahlt, so ist bei Simmel mit dem Sollen, das dem Sein unmittelbar verbun­den und mit ihm eins ist, das Übersinnliche von derselben Seite her: dem reinen Innen, wieder eingeströmt. Nur, daß es bei ihm an Stelle der allgemeinen eine rein individuelle Form annimmt. Doch obwohl der Vereinigungs punkt von Sein und Sollen hier Leben heißt, ändert dies nichts an der Strenge der Gesetzlichkeit dessen, was hier indi­viduell gefaßt ist.

Kants Wort, die allein sittliche Handlung sei die, die für alle Menschen verpflichtend sein müsse, ist das von Simmels Lebensbe­griff aus grundsätzlich bekämpfte. In den Wurzeln des lebendigen Individuums selbst entspringt das für es gültige Gesetz. „Daß der­selbe Mensch die ungleichsten Taten tun und sein Wesen von Grund auf verändern kann, das ist dadurch möglich, daß er ein Lebender ist, daß ihn das flutende Leben durchströmt.“ Denn nicht nur objektive Gebilde bringt der Strom des Lebens aus sich hervor, sondern auch innere Wandlungen des Menschen. Und so tief ist hier das Sollen als ein Individuelles erfaßt, daß man sagen könnte: „Das jeweilige Sollen ist eine Funktion des totalen Lebens der individuel­len Persönlichkeit. Dies ist vielleicht der tiefere Sinn der mystischen Vorstellung, daß jeder Mensch seinen besonderen, ihn von Fall zu Fall führenden Engel oder Genius habe, der gewissermaßen die ,Idee' seines Lebens darstellt.“ . . . Dieser Gedanke ist Simmel sicher auch mit aus den großen Engelgedichten Stefan Georges gekommen.

Zugleich verteidigt Simmel das Individuelle gegen alle Subjekti­vität. Das, was er mit einem Wort Schleiermachers, doch in ganz anderer Bedeutung als dieser, das „individuelle Gesetz“ nennt, ist keineswegs ein Subjektives, sondern hat durchaus objektive Geltung, obwohl es sich auf ein Subjektives bezieht. Gemeint, gewußt ist mit der Erfüllung des individuellen Gesetzes die Vollendung der einem Menschen zubestimmten Lebensgestalt. Aber es ist, als hätte Simmel hier den Grundbegriff des unbeseelten Atoms mit dem der beseelten Monade verwechselt. Denn gerade dieses individuelle Gesetz kann nicht allein aus dem Leben stammen. Es kann sich im Leben nur höchstens zeigen, nicht von ihm her sein. Nur die Gnade könnte dem Leben diese Fackel einsetzen, die es von innen her erleuchtet. Und wenn Simmel es aus dem Leben schöpft, so hat er damit schon in den Begriff des Lebens selbst zuvor ein Oberlebendiges, Über­seiendes aufgenommen.

Mit dem Augenblick, wo das Leben und damit das Individuelle in das Zentrum von Simmels Denken tritt, hat Goethe in ihm eine nicht minder entscheidende Rolle gespielt als Kant. Schon sein großes Goethebuch legt ein entscheidendes Zeugnis davon ab. Mag man es auch zuweilen als eine mehr gedankliche Deutung empfinden, so gibt es doch, in dieser besonderen Form, Wesen und Wahrheit Goethes wieder, wie wir sie in keiner anderen Darstellung finden. In seiner reinsten Form hat Simmel das Individuelle und die Erfüllung eines individuellen Gesetzes in Goethe gesehen. Es ist nicht das Individu­elle, wie es in der Natur mit ihren wechselnden Formungen angelegt ist, es ist das der ganz besonderen Geisteswelt Goethes, die sich in allen seinen Gestalten und Einsichten offenbart. Simmel sieht in Goethe durchweg eine Gestalt, die groß ist, ohne übermäßig, gewal­tig, ohne monströs zu sein, tröstlich für alles Menschendasein: der übergroße Mensch in der Form des allgemein Menschlichen.

Besonders erleuchtend ist es, wie Simmel das Individuelle der Shakespeareschen Gestalten dem der Goetheschen gegenüberstellt. Hinter den einzelnen Gestalten Goethes, in ihren größten Gegen­sätzen, liegt seine ganze eigene Welt und in jeder seiner noch so ver­schiedenen Gestalten offenbart sie sich. Shakespeares Gestalten wachsen rein aus sich selbst, aus ihrem eigensten Kern empor, keine gemeinsame Welt verbindet sie. Der Schöpfer tritt ganz hinter seiner Schöpfung zurück; es ist kein Zufall, daß wir von Shakespeare kaum mehr als den Namen und den Ort seiner Geburt wissen, und daß selbst sein Name bestritten ist, während wir Goethes ganzes persönliches Leben kennen. So hat Simmel auch im Bereich der Kunst das Ganze seiner Lebenserfassung bestätigt gefunden. Ja, man kann sagen, daß sie sich ihm im Kunstwerk am vollendetsten offenbart hat und zwar in der großen Kunst, die noch seiner Epoche und der ver­gangenen Weltzeit zugehörte.

Simmels Tod am Ende des ersten Weltkrieges bezeichnet die Grenze, von der ab eine neue Form des Denkens einsetzt. Man kann diese neue Form des Denkens daraus begreifen, daß in den beiden großen Kriegen der Mensch sein Antlitz verloren hatte, und dies nun wieder gesucht wurde. Damals begann ein Exodus aus der bis­herigen Philosophie. Nicht zufällig wurde in diesem Augenblick von mehr als einer Seite das gesamte Denken von Parmenides bis Hegel, als nicht auf die wahre Frage des Menschen antwortend, verworfen. Die abendländische Philosophie als Ganzes war wirklich an ihrem Ende angelangt. Es bedurfte eines neuen Denkens und einer neuen Sprache, um die Probleme einer neuen Zeit auszudrücken.

Ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Denkweisen besteht aber auch darin, daß für Simmel alle philosophische Schau immer ein Blick vom Zentrum in das Ganze war, der nur einen Sek­tor aus dem Kreise herauszuschneiden vermochte. Dies Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen nannte Simmel die „Attitüde“ des Den­kers. Jede Attitüde bedeutet ihm das Verhältnis eines Geistes zum Ganzen der Welt, das aber „angesichts der Maße des Individuums und der Welt als ein Widersinn, ja ein Irrsinn erscheinen könnte“, und eine metaphysische Rechtfertigung nur durch das Gefühl erhält, „daß wir in den Grund der Welt gelangen, wenn wir uns in den Grund der eigenen Seele versenken“. Diese Überzeugung ist wieder eine rein mystische.

Im Denken der neuen Generation gibt es keine Mystik und keine „Attitüde“ mehr. Es gibt nur die unmittelbare, persönliche Bezie­hung zum Menschen und die verzweifelte Frage nach ihm. In die neue Philosophie ist durch diese ursprüngliche und alles umfassende Beziehung zum Menschen durchweg ein Faden von Theologie ein­gewebt.

Simmel war nun der letzte gewesen, der noch die alte Denk­weise vertrat, wenn er sie auch überall zu sprengen suchte. Fragt man sich, was die Seele Simmels, die von Meister Eckart an durch alle wechselnden Gestalten europäischer Metaphysik und Kunst geformt worden ist, von dem nach dem Krieg heraufkommenden Begriff der Existenz unterscheidet, so ist die Antwort: Während die Seele ein von allem Außen unabhängiges und ihm im Grunde fremdes Innen ist, umfaßt das Wort „Existenz“ von innen aus alle auch äußeren Bedingungen, die ein Menschenleben gestalten. An die Stelle der Seele ist damit in der neuen Generation nicht nur eine andere Be­zeichnung, sondern eine ganz andere Wirklichkeit getreten. Die Denker nach dem ersten Weltkrieg hatten nur noch einer chaotischen wieder zu lichtenden Wirklichkeit Ausdruck zu geben und griffen darum ausgesprochen oder unausgesprochen auf den Begriff der Existenz zurück. Eine Kultur im Sinn Simmels, auch eine Gesell­schaft, wie er sie faßte, gab es zu jener Zeit nicht mehr. Und auch der Einzelmensch hatte seine Bedeutung verloren, das Heil der Seele, das individuelle Gesetz, alle Begriffe eines rein persönlichen Lebens waren für diese Generation zerstört.

Wenn Simmels intensivste Frage in seiner Spätzeit immer mehr die nach dem „Heil der Seele“ wurde, so haben die auf ihn folgenden Denker nicht mehr nach dem Heil der Einzelseele, sondern durch das intensive geschichtliche Gemeinschaftserleben, nach der gesamten Heilsgeschichte gefragt. Und auf der anderen Seite haben alle mit der in die Geschichte heraufdrängenden Hauptmasse der Menschen verbundenen Probleme und Denkrichtungen eine andere Wahrheits­erfassung als die Simmels erzwungen.

„Die Leiden und das Böse in der Welt, zu dem auch das Verfloch­tensein des Todes in das Leben gehört“, alle existenziellen Katego­rien sind bei Simmel nur weniger klar formuliert ausgesprochen, liegen aber all seinen Deutungen des Lebens zugrunde. Im Indivi­duellen wie im Sozialen klafft hier zwischen Simmel und der Nachkriegsgeneration ein breiter Graben. Es kommt aber noch ein anderes hinzu. Das Schicksal des deutschen Juden ist im Existenz­grund Simmels unverkennbar. Er, ganz und gar ein Deutscher, der deutsch gedacht und deutsch geschrieben hat, der, obwohl er seine jüdische Abstammung nie verleugnete, an Deutschland als sein Vaterland noch glaubte, als er die ganze europäische Kultur bereits zusammenbrechen sah, hat doch in allen seinen Beziehungen das Schicksal des deutschen Juden erfahren. Als das Schicksal des Frem­den überhaupt hat er es in seiner Soziologie unübertrefflich darge­stellt. Er hat sich als Deutscher und als Jude, als ganz Beheimateter und doch als Fremder empfunden, nicht „als der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern als der, der heute kommt und morgen bleibt... der so die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat“.

Alle Nuancen von Nähe und Ferne sind in diesem Bild des Frem­den enthalten. Fremd ist immer der von außen Kommende, der bei aller Nähe nicht im selben Boden wurzelt, was eine ganz andere Art der Beziehung begründet. „Der Fremde ist eben seiner Natur nach kein Bodenbesitzer, wobei Boden nicht nur in dem physischen Sinne verstanden wird, sondern auch in dem übertragenen einer Lebens­substanz. Auch in den intimeren Verhältnissen von Person zu Per­son mag der Fremde alle möglichen Attraktionen und Bedeutsam­keiten entfalten; aber er ist, so lange er eben als Fremder empfunden wird, in dem Anderen kein ,Bodenbesitzer'.“

Simmel war in der Tat auch da, wo eine warme Freundschaft be­stand, in der Beziehung zu seinen deutschen Ereunden kein „Boden­besitzer“. Er hat dies gewiß auch in seiner Ehe empfunden: in der Verbindung mit einer ihm geistig ebenbürtigen, von ihm geliebten und ihn nicht minder liebenden Frau, die aber als reine Deutsche doch eine ihm in der Tiefe fremde war.

Und so wie im Privaten mußte er auch in der Offentlichkeit im­mer wieder erleben, daß er trotz aller begeisterten Zustimmung, die er in seiner Vaterstadt erfuhr, in ihr nicht völlig aufgenommen war, da er, einer der gefeiertsten Philosophen seiner Zeit, dort nie ein Ordinariat erlangte.

„Mit der Eigentümlichkeit des Nah- und Fernseins des Fremden hängen zwei weitere Eigenschaften, die Beweglichkeit und die Ob­jektivität zusammen.“ Eine Beweglichkeit, die dem Deutschen seiner Natur nach nicht eigen ist, weil sie eben in jener fortwährenden Lö­sung von allem Bestimmten und Tragenden ihren Ursprung hat. „Dazu kommt weiterhin die Objektivität, die gleichfalls in dieser Form nur dem eignen kann, der ein freieres, gelösteres Verhältnis zu den Dingen hat, durch das ihm die Menschen auch wieder ein eigentümliches Vertrauen, bis zur persönlichen Beichte entgegenbrin­gen, wie sie es den ihnen eng Verbundenen niemals erweisen würden.“

Hätten wir nicht die unmenschliche Katastrophe des deutschen Judentums erlebt, so wäre das Bild des Juden in Deutschland in die­ser Darstellung des Fremden vorweggenommen. Als die äußerste Steigerung dieser Nähe und Ferne erscheint uns Heutigen die Gestalt Rathenaus, der um seiner Liebe zu den Deutschen willen von den Deutschen ermordet wurde. Simmel hat etwas Derartiges noch nicht vorausgeahnt. Der erste Weltkrieg war ihm die Sache seines eigensten Herzens. Er hat den Krieg, den Ausbruch des Krieges die „absolute Situation“ genannt, weil dieser eine unbedingte Entscheidung jedes Einzelnen forderte, und weil er selbst von ihm, als von dem größten Ereignis seines Le­bens ergriffen war. Und dies war nicht nur ein realer, sondern ein geistiger Aufbruch für alle denkenden Deutschen. Bedenkt man da­bei, wie schon die ganze geschichtliche Vergangenheit durch das Verlegen aller Werte in die reine Innerlichkeit Deutschland in eine zwar metaphysisch großartige, aber politisch unmögliche Freiheit hineingeführt hatte, so wird es verständlicher, wie vollkommen un­wirklich damals die Entscheidung der deutschen Intellektuellen fiel. Und daß dies besonders bei den deutschen Juden der Fall war, daß sie patriotischer waren als die große Mehrzahl der Deutschen, ist nur auf den ersten Blick befremdlich, denn dieser Patriotismus war darum so echt, weil Deutschland für sie nicht nur die Heimat, son­dern zugleich die Fremde war. Man kann ja sich selber nie so lieben, wie man das Fremde lieben kann. Das hat jeder der großen jüdischen Philosophen Deutschlands in einer besonderen Weise erfahren. Soviel Künftiges Simmel durch seinen philosophischen Scharfblick vorausgesehen hat, im Politischen traf er darum eine Entscheidung, der die Geschichte nicht recht gegeben hat.

Die Revolution nach dem ersten Weltkrieg, das Heraufkommen und die Herrschaft des Nationalsozialismus, das „Dritte Reich“, die Schändung des Wortes und seines Begriffes, der letzte Vollendung meinte, hat Simmel nicht mehr miterleben müssen. Bei alldem hat er, der nie ein Politiker gewesen ist, als seherischer Mensch, den Zerfall der abendländischen Kultur zumindest von der Mitte des ersten Weltkriegs an vorausgesehen.

Mit allem, was Simmel gelebt und geleistet hat, war sein Dasein der Doppelversuch eines lebendigen Philosophierens und eines philo­sophischen Lebens, mit dem er Ernst machte bis in den Tod. Unmit­telbar vor seinem Ende hat er, all seinem Wissen um die Tragik und Verzweiflung des Lebens zum Trotz, die lebenverklärenden Worte niedergeschrieben: „ich bin doch ein Götterliebling gewesen und ich gebe gern mein Sterbliches an den Kosmos zurück“.

Er war ein Götterliebling schon darum, weil ihm trotz aller Auf­lösung, die er erkannte, die seltene Kraft geworden war, diese zer­fallende Welt noch als heilen Kosmos zu erleben. Er hatte Leben und Tod nicht nur erfahren, sondern auch mit seltener Denkkraft gedeu­tet. Ein Götterliebling auch, weil ihn bis zuletzt die Liebe geliebter Menschen umgab und schließlich auch darum, weil ihm gewiß war, daß er der Welt das gegeben hatte, was in ihm angelegt und ihm aufgetragen war.