Auflösung und Werden in unserer Zeit


In: Der Morgen, Heft 4 (Oktober 1928)

 

Unsere Zeit ist keine Zeit des Nachdenkens, sondern eine Zeit des unbedenklichen Uns, rastlos vorwärts stürzender Geschehnisse und Entwicklungen. In den letzten 10 Jahren, den Jahren seit dem Kriegsende, hat sich der Typus Mensch so durchdringend und in einem so rasenden Tempo verändert, wie sonst kaum im Laufe eines Jahrhunderts. Nicht nur sein Denken und Erkennen: der Mensch selbst ist ein anderer geworden. Darum hat er keine Zeit zum Rückwärtsblicken, kaum zum Umsichblicken, keine Ruhe zum Betrachten. Nie gab es eine weniger kontemplative Zeit als die unsere.

Und doch ist unsere Zeit eine einzige Zeit der Frage. Nicht abstrakte geistige Probleme werden in ihr gestellt, wie in früheren Jahren, als der Geist sich selbst zu erkennen strebte, als die in sich ruhenden ewigen Ideen Zeichen ihrer selbst und des Falschen waren. Unsere Zeit kennt nicht die zeitlose Idee, nicht den Geist in sich selbst – sie kennt nur die einzige bange Frage des menschlichen Lebens nach Sein oder Nichtsein. Wie immer heute gefragt, wonach immer geforscht wird, immer und überall geht es um diese Frage: die Frage nach dem Sein des ganzen Menschen. Wer sind wir? Was ist unser Leben? Wo stehen wir? An welchen Ort in der Zeit hat uns die Geschichte gestellt? Ist es ein Abgrund oder ein Aufstieg, dem wir entgegensteuern? Haben wir das Leben zu gewärtigen oder den Tod?

Und diese Frage ist eins mit der anderen: Was ist diese Welt um uns her, diese wahnsinnige losgelassene Welt mit all ihren äußeren und inneren Erscheinungen? Diese Welt der Vorherrschaft des Ökonomischen, der Industrie, der Maschine, der Autos und Flugzeuge, dieses ganzen ungeheuren Lärms und Gerases, dieser phantastischen Beherrschung, ja Überwindung und Hinwegtäuschung von Zeit und Raum? Diese Welt der unerhörten Konstruktionen und übermäßigen Bauten, in der, wie in Amerika, die Schlösser und Gärten auf 30-stöckige Wolkenkratzer klettern, in der bei uns die Seele vom Geist durchforscht und durchfurcht wird wie einst nur die Erde vom Pflug – in der der Mensch, zur Maschine und zum Triebwesen erniedrigt, sich zugleich als selbstverständlich anmaßt, was einst nur dem Gott zukam? Was ist diese widerspruchsvolle Welt mit allem Zerfall ihrer Formen und all ihrem unsteten Tasten nach einem Neuen? Was ist sie in ihrem Kern?

Das äußere Leben, wie es in rasendem Tempo sich abrollt und aufgipfelt zur Arbeit sowohl wie zum Genuß, zu den Leistungen seines Turmbaus und zu ihrem Verbrauch, stellt keine Frage. Nie war eine Zeit so unproblematisch wie die unsere. Diese Zeit hat keine Zeit zu ihren Problemen. Vom Untergang des Abendlandes, von der Auflösung der europäischen Kultur hatten wir seit langem gehört. Aber niemand von uns vermochte sich vorzustellen, wie ein solcher Untergang, eine solche Auflösung in Wirklichkeit aussehen würde. Krieg, Revolution und Inflation mit all ihren Schrecken, mit der Zerstörung aller festen Lebensgrundlagen, mit der Veränderung aller Gefühlswerte waren doch im Grunde nur ein Vorspiel dieser radikalen Auflösung. Die wirkliche Auflösung zeigt sich erst in der unglaublichen Mühelosigkeit und Leichtigkeit, in der lachenden und brutalen Selbstverständlichkeit, mit der in unserem heutigen Leben alle noch gestern geheiligten Formen, Werte und Ideen, alle Bindungen und Probleme wie papierene Kette abgeschüttelt werden.

Nicht aus diesem leer und gleichgültig in sich abrollenden Leben stammt die Frage nach Sein oder Nichtsein. Sie stammt von anderswoher: aus dem gänzlich verschütteten und verdeckten Mittelpunkt unseres Lebens: der für ihre Zeit verantwortlichen Seele. Sie stammt aus der Seele der ganz Wenigen, die nicht nur leben, sondern auch lebendig sind, die sich vom Leben nicht nur tragen lassen, sondern sich ihm auch gegenüberstellen, ihm ins Antlitz sehen. Und von dieser Haltung, diesem Blick aus wird klar, daß im Antlitz unserer Zeit ein Zug fehlt: der verhängnisvolle und entscheidende Zug alles menschlichen Daseins, daß dies ganze Übermaß von sich selbst bejahendem, sich restlos ausrasendem, allein auf sich selbst gestelltem Leben uns über unsere letzte Wahrheit hinwegtäuschen will: den Tod.

Unsere Zeit kennt den Tod nicht mehr, will ihn nicht mehr kennen. Sie weiß, daß man stirbt; sie weiß nicht mehr um Sinn und Bedeutung des ganz persönlichen Todes. Sie weiß nur noch um das Leben. Und gerade seit der Krieg seinen gleichgültigen Riesenrachen aufgerissen hat, ist es, als hätte der Tod seinen entscheidenden Sinn für die Einzelexistenz noch gewaltsamer eingebüßt – als müßte er darum nun erst recht überschrieen werden vom Leben.

Aber es liegt darin nur die äußerste Aufgipfelung einer langen geschichtlichen Entwicklung, die schon seit Jahrzehnten auf den Verlust des Todes in unserer Welt drängte. „Es kann keinen treueren Interpreten und keinen wahreren Spiegel des menschlichen Lebens geben als den Tod“, sagte noch Bossuet. „Es kann keine verkehrtere Regel geben, um das menschliche Leben zu beurteilen, als den Tod. Der Gedanke des Todes täuscht uns, denn er lässt uns vergessen zu leben“, sagt Vauvenargues. Wie ist dieser gewaltige Widerspruch in der Anschauung vom Tode möglich? Was ist in den anderthalb Jahrhunderten, die zwischen diesen beiden, einander diametral entgegengesetzten Aussprüchen zweier Denker desselben Landes liegen, geschehen? – Es liegt zwischen ihnen die Entstehung der bürgerlichen Welt: das endgültige Heraustreten der Menschen aus der kollektiven religiösen Wirklichkeit der mittelalterlichen Welt. Dem gläubigen Christen war das größte, gewissermaßen das einzige Ereignis seines Lebens seine Sterbestunde: die Stunde, die sein irdisches Dasein auflöste und ihn unmittelbar vor Gott und Gottes Gericht stellte. In ihr faßte sein ganzes Leben sich zusammen, in ihr wurde er verworfen oder erlöst. Die Auflösung des kurzen irdischen Lebens war für ihn eins mit der Entscheidung über sein wirkliches, sein ewiges Schicksal. Der Tod war für ihn Mysterium, das große Mysterium, in dem seine vergängliche Einzelexistenz ihren Sinn erhielt.[i] Aber wenn auch der Tod hier in seinem Mysteriencharakter am reinsten sichtbar, am vollendetsten herausgearbeitet ist – er bedeutet nicht nur für die christliche, sondern auch für die jüdische, für jede religiös geordnete Welt das entscheidende Mysterium. Denn alle religiöse Lebenserfassung dreht sich um den geheimnisvollen schwindelnden Punkt des Daseins, wie ihn der Tod als den Wirbel des Ich aus dem bloßen verrinnenden Lebenskontinuum heraushebt.

In weniger als anderthalb Jahrhunderten der Erstakung der bürgerlichen Welt hat sich der Glaube an den Tod als Mysterium völlig aufgelöst. Der Mensch fragt nicht mehr nach dem Tod, sondern nach dem Leben. Damit fragt er im Grunde nicht mehr nach seinem eigenen Leben. Er hat den Sinn der Vergänglichkeit seines Daseins: das Gericht der Ewigkeit über seine Zeitlichkeit vergessen. Er hat gelernt, sich auf der Erde häuslich einzurichten, das Leben zu berechnen, zu beherrschen und damit sich seiner zu bemächtigen. In diese unbedingte Behauptung des Lebens passen die Fügungen Gottes nicht mehr hinein. Der Bürger verläßt sich für alles sein Leben Betreffende auf sich selbst, auf seinen Verstand und dessen Berechnungen, durch die er sich die Natur unterworfen hat.

Natürlich fügt die Natur sich ihm nicht völlig. Ein Rest bleibt. Dieser Rest ist der Tod. Damit ist der Tod zu einer bloßen Natursache geworden, die das Menschliche nicht eigentlich mehr angeht. Denn als Naturtatsache ist der Tod der des personlosen, existenzlosen Tieres, nicht der des Menschen: ist der Verenden, nicht Sterben. Man spricht darum nicht gern von ihm; man möchte ihn aus dem Leben eliminieren. „Denn er läßt uns vergessen zu leben.“ Und das Leben ist ja der Wert an sich. Die Sterbestunde ist aus der Entscheidung über Verwerfung oder Erlösung zu einem bloßen blinden, gleichsam täppischen Zufall geworden. Man trauert wohl um den Verstorbenen, ja diese Trauer ist weit größer als in der religiös gebundenen Welt; denn man beklagt ja zugleich den Toten, an dem allein köstlichen Gut: dem Leben nicht mehr teilzuhaben. Aber für den Sterbenden selbst hat der Tod jeden Sinn, jede letzte Bedeutung des Anrufs und des Gerichts verloren. Er ist auch vom Geist aus gesehen einfach das Ende. Montesquieu bezeichnet den Tod als die Unterbrechung einer Kette von Gedanken. Aber auch der deutsche Idealismus weist – wenn auch von der umgekehrten Seite – die religiöse Bedeutsamkeit des Todes ab. Hegel faßt in der Phänomenologie des Geistes den Tod als bloße Naturtatsache, die als solche nur durch das Begräbnis, das die Familie dem Einzelnen schenkt, überwunden und in ein übergreifendes Ganze: die staatliche Gemeinschaft aufgenommen wird. Am radikalsten aber spricht Fichte dem Tode Sinn und Bedeutung für das Leben ab, indem der, das Christentum mit dem reinen Idealismus identifizierend, sagt: „Der Tod macht im Christentum gar nicht Epoche.“

Das Leben, das Diesseits, hatte auf der ganzen Linie – innerhalb des Geistigen sowohl wie des bloßen kruden Lebens – gesiegt. Das Jenseits einer Ewigkeit, in der der Tod als Mysterium wurzelte, war erloschen. Das Menschendasein hatte seine Wurzel aus seiner Urheimat: dem Tode losgerissen; die Zeit hatte sich aus der Ewigkeit gelöst. Das Leben hatte in seiner überwachen Rastlosigkeit sich der Nacht, die es nährt und aus der es ist, begeben. Der Nacht im doppelten Sinne der Unterwelt und der Überwelt: alles dessen, was unbegreiflich und dem Verstande nicht erfaßbar ist. Nichts Unbegreifliches, weder von oben noch von unten, ragt mehr in den großen Taumel des losgerissenen Lebens dieser Welt hinein. Die gewaltige Entwicklung der Technik, die das Leben über seine realen Bedingungen hinwegtäuscht, ist nur der letzte Ausläufer dieser Entwicklung, die alle Beziehungen auf Nacht und Tod, auf Unbewußtes und Überbewußtes und damit auf die wirkliche Verfassung der menschlichen Existenz überflogen hat.

Aber zugleich ist diese ungeheure Entwicklung der Technik doch auch ein letzter Sproß an dem Wunderbaum des Geistes, den der wache Lebenstaumel der bürgerlichen Welt ist, offenbart die ganze unberechenbare Herrlichkeit des geschichtlichen Lebens, das nicht nur auf fruchtbarem Erdreich sondern auch auf flachem Wüstensand eine Vegetation von reinster Schönheit und Größe hervorzubringen vermag.

Dieselbe Welt, die wir heute so klar als die dürre eiserne Selbstbehauptung und Selbstrechtfertigung einer Klasse durchschauen, von der wir wissen, daß sie wie in einer Art zweiten Sündenfalls aus der Gotterfülltheit der kollektiven religiösen Wirklichkeit ausgebrochen war, ist doch auch zugleich eine einzige ungeheure Anstrengung des Geistes gewesen, den „Lichtfaden, mit dem einst die irdischen Ordnungen an den Himmel geknüpft waren“, nicht abreißen zu lassen. Die ganze große deutsche Metaphysik und Dichtung vor allem ist ein einziger gigantischer Versuch gewesen, auf dem Boden einer kollektiv irreligiösen Wirklichkeit, inmitten des Zerfalls der positiven Religion das Religiöse im Geist und in der einsamen Seele festzuhalten, das im Himmel und in der Erde entwurzelte Leben in ewigen Ideen und Maßstäben des Geistes zu verankern; in grandiosen Symbolen das zu bewahren, was in der Wirklichkeit verloren war.

So hat sie einen ganzen geistig-seelischen Kosmos hervorgezaubert, in den wir aus der geistigen Ordnungs- und Richtungslosigkeit des Heute trotz alles Wissens um ihre aufgelockerten Grundlagen mit stummem Heimweh zurückblicken. Gerade weil die bürgerliche Welt diese unerhörte Blüte des Geistes und der Seele aus sich hervortrieb – weil sie in der Innerlichkeit selbst eine Welt schuf, war es für sie so schwer, sich selbst und ihre eigenen Voraussetzungen zu durchschauen. Generationen von Denkern und Dichtern haben denn auch an dem Zerreißen des dichten Schleiers gearbeitet, der die Grundlagen der bürgerlichen Welt vor ihren eigenen Augen verhüllte. Die gesamte große Dichter- und Denkergeneration von der Mitte des vergangenen Jahrhunderts an hat sich in diesem Ringen verblutet. Nie haben Menschen einsamer, hoffnungsloser gelitten. Sie alle erkannten, daß das Leben nicht mehr stimmte, daß seine Grundlage falsch war. Aber sie alle erfaßten als einzige Rettung die Notwendigkeit des freien persönlichen Opfers für die Wahrheit, die sie suchten. In ihnen allen lebte noch der Traum, das Ideal eines persönlichen Heroismus. Sie alle waren noch tragisch-heroische Menschen: ein Typus, der in unserer Zeit seinen Lebensraum verloren hat. Sie sahen noch die Revolution, wie sie in der vorleninistischen Epoche Kerenski gesehen hat, als er sagte: „Revolution – das heißt die Sünden der Vergangenheit büßen und sich für die Zukunft opfern.“ Sie sahen die Revolution nicht, wie wir sie heute erleben: als gleichsam selbständige, selbstverständliche Auflösung der bisherigen Ordnung, in der das freie persönliche Opfer seinen Sinn verloren hat. Erst mit einer Auflösung, in der Einzelne nicht mehr zählt, ist das idealistisch heroische Menschenideal entthront. Sein Einsatz ist sinnlos geworden, weil die über das Individuum hinweggehenden geschichtlichen Mächte selbst sich der Entwicklung bemächtigt haben. Dies ist unsere heutige Lage. –

Niemand von uns – auch nicht, wer sie bejahte und ihnen diente, kannte zuvor in Wahrheit diese Mächte, mit denen wir heute Auge in Auge stehen. Eine im Ideal und in der Ehrfurcht vor dem Geist erzogene Generation vermag sich auch heute trotz aller Einsicht in die Notwendigkeiten der Geschichte, trotz alles sich Bekennens zur Totalität der Menschheit, im Grunde unter dem proletarischen Leben, das wir als Macht heraufkommen sehen, nicht etwas Wirkliches vorzustellen. Formlos und drohend dringt es uns entgegen.

Und ebenso wenig vermögen wir, trotz aller Einsicht in die Notwendigkeit der Sprengung des reinen Geistes, des bloßen Bewußtseins, uns die ganze Macht der ungeheuren, aus dem Dunkel des unterbewußten Lebens heraufflutenden Wirklichkeit zu vergegenwärtigen, die Freuds Entdeckungen entfesselt haben. – Niemals vermochten wir ganz die Rache des geschichtlichen Lebens zu durchschauen, die sich hier von allen Seiten zugleich vollzog: dieses gewaltige Zurückströmen des von seinen Gründen abgeschnürten Lebens in seine Totalität.

Heute erkennen wir, daß es vor allem drei große Hauptströmungen sind, in denen das geschichtliche Leben sich gegen diese Abschnürung von seinen Gründen empörte: gegen das geschlossene Leben einer abgesonderten Klasse in Gestalt der in das geschichtliche Leben heraufdrängenden bisher verborgenen Hauptmasse der Menschen – gegen die Diktatur des reinen Geistes, die Verbannung der Nacht und des Todes aus dem Leben in Gestalt der jäh enthüllten unterirdischen Nachtwelt der Triebe – gegen die Herrschaft der rein männlichen abstrakten Ordnungen in Gestalt des dunklen, wirklichkeiterfüllten und aller Geistigkeit als ihr tragender Lebensgrund unterbauten Lebensreiches der Frau.

Indem aber dieser dreifache Einbruch eines bisher verhehlten unbekannten Dunkels in die klar geordnete Welt der Gesetze, der Ideen und Werte mit beängstigender Gleichzeitigkeit und ohne einen klaren Aspekt von Grund und Folge sich vollzog, war der Anblick unseres Lebens das Chaos. Denn wohl ist keine dieser drei Wirklichkeiten das an sich Gesetzlose. In jeder kündigt ein verborgenes Gesetz sich an; aber in ihrer wirren Vermischung verzerrten sei einander und das Leben, das sie bedrängten, bis zur Unkenntlichkeit.

Alles Bekannte war zunächst von Grund auf in Frage gestellt. das Bild der Welt, des Menschen, der Wirklichkeit, mit dem wir nun plötzlich Auge in Auge stehen, ist uns unbekannt und erschreckend. Welten sind in ihm aufgerissen, in die wir hülflos wie in Abgründe starren. Unsere Ideen sind ins Wanken geraten; der Gegenstand tritt aus seiner Ordnung. Die Gesetze und Maßstäbe sind zerbrochen, die Grenzen des bisherigen Denkens sind gesprengt. Der Wahnsinn ist uns vertrauter geworden. Die klare Ordnung des Tages versinkt. Das Reich der Mütter rückt dunkel und unbegriffen herauf.

Keine Metaphysik, kein Ideenbau, keine klare Lebensordnung vermag dies mehr aufzunehmen und zu gestalten. Wie im Beginn der Renaissance der Mensch heraustrat aus der Enge der bisher bekannten klar gegliederten Wirklichkeit, als der, der neue Länder zu entdecken geht, so stehen auch wir wieder vor einem neuen entscheidenden Lebensabschnitt der Menschheit. Und wie damals, als die Welt aus den bekannten Ordnungen des Glaubens herausbrach, allem Geisterschrecken, allem Spuk- und Zauberwesen: lauter Bildern einer noch verwirrten Phantasie, einer noch nicht wieder geordneten Welt, in denen fremde unbegriffene Mächte sich mit den zerstiebenden Bildern des Glaubens verschlangen – Tür und Tor geöffnet war; wie die Menschen damals in ihrem größten Dichter der Wahrheit inne wurden, daß es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als unsere Schulweisheit sich träumen läßt – so ist es auch heute das Irrationale, das Seltsame, Fremde, Groteske, Verzerrte, Unheimliche und dem Wahnsinn Nahe, das das Lebensgefühl unserer Zeit ausdrückt. Tragik, diese reinste Gestalt einer nach Ideen, nach Gesetzen geordneten Welt, die aus dem Zusammenprall des Gesetzes des Einzelnen mit dem des Ganzen entspringt, ist in unserer Zeit nicht mehr möglich. Eher hat sie noch Raum für das Wunder, das unbegriffen, unbegreifbar, fremd dem Gesetz aus fremden Welten hereindringt. Und in dem Hereinbrechen des Fremden, Unbegreiflichen in unser Leben verliert der Mensch selbst seine Gestalt. Sein fester Umriß löst sich auf; er verliert seine Identität; er ist ebenso sehr ein anderer geworden wie er selbst. Er ruht nicht mehr in der Person. Das Individuum – seit dem Austritt aus dem Mittelalter Sinn und Wert aller Weltgeschichte – löst sich auf; es rinnt in die allgemeine Wirklichkeit zurück.

Aber diese allgemeine Wirklichkeit, die das Individuum in sich zurückschlingt, hat für uns noch keine feste Gestalt, keinen zusammenfassenden Sinn. Noch ist sie vieldeutig und fremd. Noch ist sie eine einzige Frage. Nichts als die einzige ungeheure Frage, unter die alle einzelne Existenz in diesem Augenblick gestellt ist. Denn nichts, was der einzelne Mensch, das Individuum und sei es das größte, dachte, glaubte, gestaltete, scheint in diesem Augenblick mehr zu stimmen; alles ist unwahr, vorläufig, hohl und dunkel geworden. Unsere alte Welt reißt wie ein Vorhang auseinander und gibt den Blick in neue fremde Ordnungen des Lebens frei. Und wir erkennen, daß wir auf diesen Vorhang unser Bild von Mensch, Welt und Gott nur aufgemalt hatten, damit es uns das Unerträgliche verhülle: das Unerträgliche, das eben darin liegt, daß wir uns selbst nicht mehr zu finden vermögen.

Wer sind wir? Wo sind wir? Was ist es, das diese Zeit von uns fordert? und wie vermögen wir in ihr uns selbst zu ergreifen? An diesen Grundfragen unseres Lebens dämmert es auf, um was es in dieser dreifachen Revolution des Proletariats, des unterbewußten Lebens und der Frau letzthin für uns geht: um den Bestand nicht nur unseres gesellschaftlichen und geistigen sondern unseres allerpersönlichsten Lebens, um eine letzte Tiefe der Auseinandersetzung mit jeder dieser Strömungen in bezug auf uns selbst: um die Problematik der rein menschlichen Existenz und ihrer Verantwortung in der Geschichte.

Aus der Tiefe der Leere und Verzweiflung, der namenlosen Bedrohung unserer Welt, in der der Mensch sich selbst und sein eigenes Bild nicht wieder findet, entbrennt heute überall ein letztes Ringen gerade um den verlorenen Mittelpunkt des Daseins selbst. Alle jene existentialen Kategorien, die den Menschen auf sich selbst, auf sein eigenes Dasein beziehen und um es sammeln: die Begriffe der Sorge, der Angst, der Entscheidung, der Verantwortung werden neu umkreist und als die letzten Probleme unseres heutigen Lebens erkannt. Gerade das aus seiner persönlichen Form gleitende Leben begreift sich wieder als auf die schmale Spitze der eigensten Entscheidung gestellt: als das Zünglein an der Waage der Welten. Nie wurde der Begriff und der Sinn der persönlichen Existenz, ihrer Verantwortung und Entscheidung banger, sehnsüchtiger umkreist als heute, wo sie sich in der hereinbrechenden kollektiven Wirklichkeit aufzulösen droht.

Denn nur in der geschichtlichen Wirklichkeit kann ja der heutige Mensch ganz bewußt seine eigene, von dieser Wirklichkeit tausendfach bedrohte Existenz zu ergraben und wiederzugewinnen suchen, und nur in seiner Existenz findet er den Sinn und die Wahrheit der geschichtlichen Wirklichkeit. In dem geheimnisvollen Wirbel des sich selbst suchenden und verstehenden Daseins wenden alle jenen dunklen unterirdischen Strömungen aus dem Reich der Mütter gegen sich selbst zurück, indem sie sich entschleiern als das, was sie ihrer letzten Möglichkeit nach für uns und durch uns sein können. Aus bloßen dunklen Mächten werden sie in der sich selbst verantwortenden Existenz zu menschlichen Aufgaben. Und so: als Möglichkeiten für uns, als von uns zu ergreifende Aufgaben enthüllen sie zugleich das Gesetz, das sich in ihnen verbirgt. Es ist in ihnen allen, in verschiedener Gestalt, das Zurückdrängen zur Totalität des Menschlichen. – Die nackte, naturhafte, geistig und seelisch unbetroffene, formlose Wirklichkeit des proletarischen Daseins schenkt uns in diesem Sinne die Möglichkeit einer neuen Unmittelbarkeit, fast möchte ich sagen: einer neuen Unschuld des Lebens. Denn hier müssen wir alles Erstarrte, Festgewordene, bereits geistig Gedeutete und Geordnete, das uns als Rest einer zerfallenden Welt von der Unmittelbarkeit des Daseins abschnürte, vergessen lernen; hier ist es nicht mehr wahr. In der proletarischen Welt ist nichts bereits Begriffenes; hier soll alles erst werden. In ihr ist nichts als Mensch und Mensch in gemeinsamer Arbeit. Die Menschen stehen in ihr nicht übereinander, nicht einander gegenüber; sie stehen nebeneinander. So müssen wir aus ihr ein neues Raumgefühl gewinnen; wir alle fühlen, wie sehr es schon in unsere Welt einzudringen und unser Weltbild zu verändern beginnt. Hier versagen alle Abstraktionen. Nicht das Subjekt steht dem Objekt kalt und unverbunden gegenüber – sondern allein die lebendige unmittelbare Partizipation aller an allen: die ungeschiedene räumliche Kontinuität könnte die Form dieses neuen Raumgefühls, dieses neuen Weltgefühls sein.

Liebe? – Wenn es Liebe ist, dann ganz gewiß in einem vollkommen anderen Sinne, als wir sie bisher begriffen. Liebe in einem völlig unromantischen, sogar unerotischen Sinn. Liebe nicht im Sinne der heißen romantischen Vertiefung der Persönlichkeit in die Persönlichkeit, und auch nicht im Sinn des platonischen Eros, der durch die Schönheit des erblickten Menschbildes zum metaphysischen Reich der Schönheit überhaupt aufsteigt. Dieser Liebesbegriff hat für eine solche Welt bloßer Unmittelbarkeit des nackten Daseins seinen Sinn verloren.

Und damit steigt die Frage auf: Wen, wohin haben wir bisher geliebt? Und wir erkennen: es war das Trugbild der freien selbstherrlichen Persönlichkeit. Wir hatten das Individuum, den Einzelnen überfüllt mit Inhalt und Wert; es hält dem Ansturm des kollektiven Lebens nicht stand. Es schwankt, seine Form zerbricht und flutet hinaus ins allgemeine Leben. Und statt in das Reich der Schönheit und der ewigen Ideen blicken wir in die stummen traurigen Augen der Kreatur.

Nun gilt es vor diesem Anblick des Menschen die Liebe nicht zu verlieren. Und schwerer, düsterer noch ist sein Anblick gefährdet von dem anderen Strom der Auflösung, der aus der Welt des unterbewußten Lebens in seiner ganzen Dunkelheit in uns herauf- und über uns hereinbricht und das Bild der Persönlichkeit, wie wir es kannten und ehrten, in Frage stellt. Ist es möglich, auch dies zerrinnende Bild aus Traum und Trieb noch zu lieben, zu verehren? Ist nicht von dieser Strömung aus dem Eros noch weit gründlicher als durch die Auflösung in der proletarischen Welt in Frage gestellt? Lauert nicht hinter dem Anblick des Menschen das ganze verworrene Dunkel einer unheimlichen Treibwelt, die ihn gegen seine Selbstbestimmung bestimmt und damit zerreißt?

Aber wieder wendet sich, wenn wir in die letzte Tiefe unseres Daseins, in unsere Verantwortung, unsere Entscheidung hinabgreifen, – der auflösende Strom im Wirbel unserer ringenden Existenz gegen sich selbst zurück. Wir begreifen die schwerste Aufgabe unserer Zeit: den Menschen zu lieben nicht in seiner Schönheit und Freiheit, nicht den Helden und Halbgott, dies Idealbild der ganzen europäischen Kultur, sondern diesen zerfließenden Menschen in seiner Auflösung, in seiner Unwirklichkeit, in seiner ihm selbst vielleicht unbewußten Verzweiflung – als deren düsteren Hintergrund Freud das Erlöschen des Menschengeschlechtes angedeutet hat. Es mag nichts Schwereres und fast Unmöglicheres geben, als den Menschen noch in seinem Triebleben zu lieben. Und doch fordert vielleicht kein anderes Bild des Menschen so sehr unsere Liebe. Denn in diesem zerrissenen, schwankenden Menschbild steigt ja durch die dumpfe bindende Welt der Triebe das Weltleid selbst in seiner ganzen Dunkelheit herauf. Nicht mehr nur das Mitleid mit leidenden und verhüllten Göttern – wie es noch Nietzsches heroischer Idealismus lehrte – ist uns heutigen Menschen aufgegeben, sondern tiefer hinab: auch das Mitleiden mit der dumpfen leidenden Kreatur selbst, die schwer und unbegriffen wie eine Art trauernder unterpersönlicher Gottheit aus den hilflosen Menschaugen hervorblickt. Denn hier offenbart sich zuletzt unter aller Hülle und Maske und Schminke, hinter allem Taumel von Tanz und Lust und Ausgelassenheit unserer Zeit die unendliche Hülflosigkeit des Menschen, seine verzweifelte Wundheit.

Die Erforschung und Analyse der Psyche hat ja nicht nur die unterpsychisch und überpsychisch gesetzhafte Struktur des Verschlungenseins alles Lebens aufgedeckt, sondern sie hat ebenso die tiefe heimliche Verwundung in allem persönlichen Dasein sichtbar gemacht, die dadurch entsteht, daß das Menschenleben als einzelnes nie im Leben der Gesamtheit rein aufgeht und darum notwendig von ihm verletzt wird. Wir wissen es jetzt, wir haben es begriffen: daß in allem persönlichen Leben man zuerst nach seiner Wunde suchen muß, nach der ihm früh geschlagenen Wunde, die heilbar ist nur durch ein letztes Verstehen seiner selbst in seinem Zusammentreffen mit der Welt.

Liebe? Wir weichen auch hier vor der Heiligkeit des Wortes noch zurück. Die Analyse fordert zur Heilung der Wunde an Stelle der Liebe kühles Wissen. Aber als Frage nicht des gerufenen und berufenen Arztes, sondern unserer ganzen menschlichen Existenz – der gegenüber die Haltung selbst des Arztes noch eine nachträgliche ist – handelt es sich hier nicht um ein Verstehen durch bloßes Wissen, sondern um ein Verstehen durch Identität – eine Identität des Lebens im Reich des Unterbewußten, die aller Besonderung in Gestalt und Person vorausliegt.

Und damit ist auch von dieser Seite her unser Weltbild verändert. Der Raum verliert auch hier seine kalte trennende Kraft. Auch hier tritt an Stelle der leeren Trennung in Subjekt und Objekt die unmittelbare Verbundenheit in einer ursprünglichen Lebenskontinuität. Das Und wird zum Entscheidenden. Schon Arzt und Patient sind – wie die moderne Psychologie weiß – in der Analyse nicht mehr zwei – sondern eine untrennbare Gestalt des Lebens. Um wieviel mehr müssen Mensch und Mensch im einfach liebenden Besinnen auf ihre ursprüngliche Lebensidentität eins sein.

Aber hier mischt sich die dritte auflösende Macht ein, das reine Und, die Möglichkeit liebenden menschlichen Einsseins beflügelnd zugleich und gewaltsam verstörend: der Mensch des anderen Geschlechts – und mit ihm die Verwirrung und Problematik, die von je – zum mindesten seit der christlichen Weltära – im Eros lauerte und die im Lauf der europäischen Entwicklung das erotische Leben auseinandergetrieben hat in die beiden äußersten Pole der Askese und der restlosen Bejahung des Triebes, wie wir sie heute – in engem Zusammenhang mit der Revolution der Frau – erleben.

So zeigt sich hier deutlich, wie wenig eine dieser Revolutionen ein selbständiges Leben hat, wie tief sie überall ineinander verschlungen, wie sie nicht voneinander zu lösen sind. Wenn z. B. eine Menge von Frauen – auch der sogenannten bürgerlichen Schichten – heute ein proletarisches Dasein führen, so ist es nicht zu sagen, was hier das Erste und Verursachende ist: die Proletarisierung unseres Lebens oder die Befreiung der Frau. Und wiederum ist auf der anderen Seite das Heraufkommen der Frau, ihre Eroberung des männlichen Reiches, gar nicht zu lösen von dem Heraufkommen jener anderen unterirdischen Macht, die gefahrvoller und zerstörerischer noch als die beiden anderen in unser Leben heraufdrängt: von dem Heraufkommen des unterbewußten Reiches: der Nachtwelt der Triebe. Ja, hier scheint die Verflechtung so eng, so durchdringend, daß die Frau selbst die Pandora zu sein scheint, die die Büchse all dieser unendlich zweifelhaften und schwerwiegenden Geschenke über die Menschheit auszuschütten berufen ist. So ist es nicht zufällig, daß der erste von diesen fremden Mächten bis in die Wurzel seines Seins Erschütterte und von ihnen Hinabgerissene ihr Reich auf den Namen Weib getauft hat. Und wirklich ist ja auch die Frau in diesem Strudel losgelassener Mächte mit emporgekommen. Die beiden großen Mächte der proletarischen Welt und der Triebwelt haben sie gleichsam auf ihren Armen mit emporgetragen. Niemals hätte die Frauenbewegung allein trotz aller intensiven Arbeit und trotz des leidenschaftlichen Befreiungswillens einzelner die Macht besessen, so schnell und so gründlich und über ihre Wünsche hinaus die Revolution der Frau in unserem Leben zu Ende zu führen.

Die Frau steht heute neben dem Manne im Licht des Tages. Ein uraltes Gesetz scheint damit durchbrochen: jenes geheimnisvolle Gesetz, das Hegel auf dem Höhepunkt der bürgerlichen wie der geistigen Entwicklung Europas unter dem Namen des göttlichen Gesetzes dem menschlichen Gesetze, das das des Mannes ist, gegenübergestellt hat. Das menschliche Gesetz ist nur ein ordnendes, verwaltendes; das göttliche ist das ursprünglich gegebene: das dunkle, unterirdische, das vorbewußte und unterbewußte Gesetz, das der bewußte Geist durch sein Gesetz nicht aufhebt, sondern in dem er selbst als in seinem mütterlichen Grunde wurzelt, dem er sich aber, sobald es selbständig gegen ihn aufsteht, feindlich kämpfend gegenüberstellt. Wir sehen: dieser Begriff des göttlichen Gesetzes reicht weit über die bürgerliche Welt hinaus, obwohl der reine Geist sich an ihm selbst in grandiose Weise seiner Freiheit und Andersheit vergewissert hat. Aber im Grunde bezeichnet dies Gesetz dieselbe Sphäre, die in der Schöpfungsgeschichte Adam der Frau unter dem Namen Heva – das ist Leben – angewiesen hat. Und keine andere ist es auch, die in der griechischen Antike die Pythia aus dem verschlossenen Abgrund des Seins die Wahrheit künden läßt und die in der unerschütterlichen ursprünglichen Lebensgewißheit der Antigone sich dem losgelösten Wissen des männlichen Geistes entgegenstellt.

Es ist das außergeschichtliche, physisch-metaphysische Gesetz, nach dem die Gestirne sich bewegen, die Blumen aufblühen, die Früchte reifen: das Gesetz des Entstehens und Vergehens, des Lebens und Todes selbst, in dem das Wesen der Frau wurzelt und dem es verbunden bleibt bis ins Menschlichste empor. Dies nächtige, vorbewußte Gesetz ist nicht wie das menschlich-männliche Gesetz des Geistes ein zeitbestimmtes, wechselndes, der geschichtlichen Entwicklung unterworfenes, dem die Wahrheit von heute nicht die von morgen ist, sondern es ist ein unverrückbar Gesetzes, ein Ewiges.

Im Namen dieses unverrückbaren göttlichen Gesetzes, in dem noch keine Auseinandersetzung zwischen Mensch und Welt stattgefunden hat, das darum ein vorethisches ist, wurde die Frau bis zum heutigen Tage der geschichtlichen Welt verborgen gehalten. Die Gegenseite der Verehrung des göttlichen Gesetzes, in der sie lebte, war ihre geschichtliche Verborgenheit und ihr stummer Dienst am Manne und seinem Werk. Das Wort: „Dienen lerne bei Zeiten das Weib nach seiner Bestimmung“ ist das genaue Korrelat jenes anderen Wortes: „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan“. Hierin empfand der europäische Mann keinen Widerspruch – und innerhalb der der Frau angewiesenen Sphäre war es keiner. Sobald aber die Begriffe der männlichen Ordnung als Maßstab auch an das Bild der Frau angelegt wurden, wurde der Widerspruch offenbar.

Die Frau, die in das Leben der Geschichte durchgebrochen ist, hat an männlicher Arbeit, an männlichen Problemen, am männlichen Leben als eine Gleichberechtigte teil. Sie verwaltet die Ordnungen und Gesetze des Mannes mit, sie hilft an ihnen bauen und sie – wo er selbst dahin drängt – zerstören. Sie ist eine andere geworden. Sie hat die Idee ihres Wesens, wie sie in der europäischen Welt lebt, preisgegeben. Sie ist aus dem göttlichen Gesetz ausgebrochen. Um diesen Preis hat sie das Leben im Licht des Tages neben dem des Mannes erkauft. Und es stellt sich die Frage: War dieser Preis nicht zu hoch?

Der Sieg der Frau ist ein ungeheurer, in seinen Wirkungen auf sie selbst und auf die Struktur und den Sinn unseres Lebens kaum abzumessender. Aber war es nicht dennoch ein Pyrrhussieg? Hatte nicht die Frau, indem sie etwas, indem sie viel wurde, zugleich alles zu verlieren? Nichts war sie nur in der Welt der männlichen Ordnung, des menschlichen Gesetzes gewesen – in der ursprünglichen Ordnung des göttlichen Gesetzes aber war sie nicht Nichts und nicht Etwas, sondern Alles. Dies All ist ihr verloren. Sie ist der Nacht untreu geworden. Sie ist die Hüterin der dunkel brennenden Flamme des göttlichen Gesetzes weder als Vestalin noch als Liebende geblieben. Der Begriff der Reinheit wie der der Liebe in jenem tiefsten Sinne, in dem beide voneinander unabtrennbar sind, ist unserer Welt verloren.

Nun aber erhebt sich wieder von den beiden anderen Revolutionen aus die Frage: Hatte die Frau in der heutigen Welt ein Recht, Hüterin dieser Flamme zu bleiben? War diese Haltung noch geschichtlich wahr? Die eine, die proletarische Revolution fragt: War die Liebe, die Reinheit in diesem Sinne nicht allein auf dem Grunde der Lebensbedingungen einer sich für das Ganze setzenden Klasse möglich? Hatte sie über die bürgerliche Welt hinaus Geltung? Hier kann die Antwort keinem Zweifel unterliegen: In unserer Welt war nur auf Grund des Besitzes, der Ruhe, der Mittel und der Zeit zur Bildung eine solche Haltung möglich. – Und die andere, die Revolution des Trieblebens, fragt: War eine solche vestalische reine und ausschließende Liebe nicht erkauft um den Preis der Verdrängung und Verleugnung des Lebens in seiner lebendigen Ganzheit, der fraglosen Hingabe an einen Eros, der Katastrophe und Katharsis und Erlösung zugleich bedeutet und damit erst die ganze Tiefe und Wahrheit des menschlichen Lebens zum Ausdruck und zur Entfaltung bringt?

Gewiß: man wußte früher nichts von den schweren Schädigungen, die aus abgedrängten Liebeswünschen entstehen – aber von dem Augenblick an, wo der Blick in diesen Abgrund entschleiert war, war jene strenge Reinheit und Abschließung der Frau nicht nur zu einem brennenden psychologischen, sondern als Frage der Lebenswahrheit zu einem ethischen Problem geworden.

Die heutige Generation hat es einfach genug gelöst, indem sie es als Problem überhaupt über Bord geworfen hat. Aber darin liegt keine Lösung. Denn bloße Auflösung ist niemals Lösung – sie kann höchstens deren Vorbote sein. Das Problem der Frau muß in seiner ganzen Tiefe aufgenommen, die Problematik der zu Ende geführten Frauenbewegung in ihrer ganzen Paradoxie gesehen werden. Die Frau erlebte ihre Befreiung in dem Augenblick, wo jeder feste Standort des Menschlichen verlassen war, wo die Wirklichkeit sich aus dem Individuum wieder zurückzuziehen begann ins allgemeine Leben. In diesem Augenblick des Zerfließens des klaren Menschenbildes trat sie in das Leben des Mannes ein. Und indem sie sich vorbehaltlos in seine Welt hineinstellte, ist ihr Bild mit dem seinen zerflossen. Der ganze ursprüngliche Bestand ihres Wesens scheint damit aufgelöst. Die Ungeschichtlichkeit ihres Seins selbst ist in Gefahr; jener Punkt ihres Daseins, an dem sie über die Geschichte hinaus, unter sie hinabreicht und eben dadurch für die Welt des Mannes eine fremde und geheimnisvolle Erschließung, Sicherung zugleich und Bedrohung bedeutet. Darum dokumentiert sich vor allem im Erotischen die ungeheure Wandlung des Typus Frau in ihrer ganzen Macht. Die Frau als Ehefrau, als Mutter durchaus im eigentlichen Sinn ist nicht mehr die Frau unserer Zeit. Wie keine andere Gestalt hat sie damit ihr Wesen aus ihrer metaphysischen Wurzel ausgerissen. Und gerade von dieser tiefsten Zerstörung aus müssen wir die Frage stellen, was in diesem Augenblick, wo das männlich-menschliche Gesetz seine Kraft, unsere Welt zu gliedern verloren hat, der Einsatz der Frau, der doch letzthin zu jeder Zeit der des göttlichen Gesetzes sein muß, an wirklich Entscheidendem für unser Leben bedeutet. So kann diese Frage heute nur negativ lauten: Wo bleibt der Bestand einer Welt, den vor allem und am reisten die Frau zu wahren hatte, wenn sie ihn verrät? Wo sollen Mann wie Frau die Kraft zum Leben finden, wenn die Frau sich als Frau, als Mutter selbst aufgibt und ihre Ewigkeit sich in der Zeit auflösen läßt? Wenn sie die Wege des Mannes geht statt die ihr eigenen, wenn sie die Ehe lockert und zerbricht, die Mutterschaft verneint oder verringert, den Eros verrät, indem die das Sexuelle in seinem Selbstwert bejaht?

Denn dies alles sind keine Akzidentien, sondern Ausdruck ihrer Lage selbst. Auf keinen Fall kann die Frau ihr Problem lösen, indem sie die Auflösung unserer Welt zu verhindern oder aufzuhalten strebt; sie hat sich bereits entschieden, sie durch ihren Eintritt in das geschichtliche Leben selbst bejaht. Ihr Lösungsversuch kann nicht in der Rettung des Vergangenen, kann nur darin bestehen, daß sie ein neues Bild ihres Seins aus dem Chaos des sie bedrängenden und auflösenden Lebens emporzuheben strebt.

Und ein Weg steht ihr hier offen wie nie zuvor einer Generation von Frauen. Die heutige Frauengeneration hat das Eine, Unermeßliche vor allen vergangenen voraus, daß ihr Leben befreit ist nicht nur von allen äußeren Vorurteilen, sondern auch von denen, die sich in ihr selbst als Gefühl und Glauben gaben, daß sie darum wissender, hellsichtiger ist, unendlich reicher an Möglichkeiten eines echten und neuen Lebens, – weil ihr nicht erlaubt, sondern geboten ist, aus ihrer eigenen Wahrheit zu leben.

Wie dunkel und problematisch diese Wahrheit ihres eigenen Lebens sich in einer vom Sinn losgerissenen Welt ihr geben mag: es ist ihre Wahrheit, die Wahrheit ihres Lebens – und damit springt dennoch ein Tor zu einem neuen Dasein auf. Das Gewissen der Frau, befreit von Jahrtausende altem Druck, ist aus einem ihr fremden zu ihrem eigenen Gewissen geworden. Der Anruf ergeht an sie unmittelbar; nicht an sie als Mutter, als Frau – sondern an sie als Mensch mit seiner ganzen Daseinsfülle, in die sie ihr Schicksal als Frau, als Mutter: die gesamte, dem wachen Gewissen ursprünglich entrückte Sphäre unbewußten Lebens in immer wachsender Durchdringung mit hineinnehmen muß. Hier ist ihr Weg, die ihr eigene Aufgabe: aus ihrem im göttlichen Gesetz verankerten Gewissen dennoch dem zerfließenden Leben eine neue Gestalt zu geben.

Und dies aus dem Mittelpunkt ihres Gewissens erwachsende neue Bild der Frau ist kein bloßer Traum; seine Verwirklichung ist durch die Verschränkung mit den beiden anderen Revolutionen, in ihnen selbst, in greifbare Nähe gerückt. Wie in der Richtung auf die Totalität menschlicher Gemeinschaft, in der fraglosen Verbundenheit alles Menschlichen uralte Fesselungen und Hemmungen gerade des Frauenlebens sich lösen, so trägt das geheimnisvolle Unterreich ihr als eine neue ungeheure Erschließung die Quellen ihres eigenen Daseins entgegen. Denn dies zeitlose Reich mit sich selbst identischen Lebens ist ja vor allem das ihre, wie es von je in unentschleierter Gewalt unter ihrem Dasein ruhte. Wenn es sich heute zu entschleiern beginnt, wenn der Frau der Blick in ihr eigenstes Reich frei wird, so muß gerade dadurch ihr Bild sich in entscheidender Weise verändern. Sie wird ihrer selbst inne: ihre Ewigkeit strömt in ihre Zeitlichkeit ein. Die Ewigkeit bleibt nicht mehr schweigend und bewußtlos unter ihrem Leben ausgebreitet, sondern sie wird aufgenommen in die lebendige Existenz.

Dies ist das Wunder, das sich heute für die Frau begibt: daß sie im Augenblick, wo sie ihre eigenste Sphäre preiszugeben scheint, aus ihr die letzte Möglichkeit zur Gestaltung ihres neuen Bildes empfängt. Die Frau ist heute stärker als der Mann; denn sie ist nicht ganz so tief wie er zerstört, weil sie nicht ganz so tief zerstörbar ist. Ihre Zerstörung hat eine Grenze an eben der zeitlosen, von der Geschichte unberührbaren Unmittelbarkeit, aus der sie lebt und der sie nun die ganze Kraft ihrer Verantwortung in einem neuen Wissen zuwenden muß. Indem sie sich selbst bewußt aus dem dunklen flutenden Reich des unbewußten Lebens emporschöpft, muß sich in ihrer Hand das zerstörende eigengesetzliche Element, wie in der Hand der frommen Brahmanin das Wasser des heiligen Stromes, zur kristallenen Kugel ballen: zum Bilde ihres neuen Menschentums.

So macht die Revolution der Frau nur klarer, unmittelbarer des Gesetz sichtbar, das in jeder der drei heutigen Revolutionen lebt: daß sie alle ein Aufruf zur Gestaltung eines neuen Menschentums in der gegebenen konkreten Form, d. h. ein Aufruf zum Verständnis der eigenen geschichtlichen Aufgabe sind. Nur im Verständnis seiner selbst in diesem geschichtlichen Augenblick kann der heutige Mensch auf den Weg zu sich und damit über sich hinaus gelangen. Die Grundkraft unseres kosmisch zerfallenen Lebens ist das Verstehen: Verstehen als Grundfunktion einer weltlosen Welt: als Zugang der isolierten Individuen zu einander und zu dem Urphänomen des Daseins überhaupt. Es ist der Ersatz für die verlorene Identität im Religiösen, der Weg zu einer neuen Lebensidentität, ist das Suchen eines neuen Zugangs zu im Sein und Denken verrammelten Welten durch tiefste Einkehr in die eigene Existenz. Denn verstehen kann nur der sich selbst verstehende Mensch. Alles Verständnis ist im Grunde Selbstverständnis. Nur im sich selbst verstehenden Dasein erschließt sich auch das fremde.

Und damit wird es klar: nur der sich selbst wandelnde Mensch kann das sich wandelnde Dasein, die geschichtliche Wandlung des Daseins verstehen. Alles andere bleibt außerhalb des im eigentlichen Sinne Geschichtlichen. Wahres Verstehen geschichtlichen Daseins bedeutet Wandlung unserer selbst. 

Damit ist freilich auch gesagt, daß das Verstehen selbst zeitlich, geschichtlich ist, daß die Einheit, die es schafft, nicht mehr ist als das Leben eines vergänglichen Augenblicks. Und doch ruht in diesem Augenblick all unsere Wahrheit und die ganze Beziehung unserer Zeit auf unsere Ewigkeit. Auch die vergängliche Einheit des Verstehens ist ja nichts anderes, als Überwindung letzter Gefahr: der Gefahr des völligen Auseinanderstürzens unserer Welt. – Aber damit erkennen wir auch, daß alle die auflösenden Mächte der Zeit in der Zerstörung unseres Wesens, wie die Kräfte des sprengenden Erdreichs dem Saatkorn, uns den in unserem innersten Leben selbst schlafenden Keim der Erlösung entgegentragen. In all diesen Strömungen lebt gemeinsam das Eine: die Richtung auf die Wahrheit: – die Wahrheit dieses geschichtlichen Augenblicks: diese Wahrheit, die einzig uns selbst zu verwirklichen aufgegeben ist. Denn unsere Aufgaben schenkt uns einzig die Geschichte; aber nur wir sind es, die sie ergreifen können. Darum ist die Wahrheit des Heute immer streng und fordernd, weil sie niemals etwas Geringeres von uns fordert als uns selbst.

Und damit taucht in dem angstvollen Ringen um das Jetzt auch der Tod als das letzte Mysterium des persönlichen Daseins wieder herauf: der Tod, der uns nicht mehr wie im Kosmos Buße für die Schuld der Vereinzelung des Daseins, noch wie in der Schöpfung Strafe Gottes für den menschlichen Sündenfall, – der uns aber ebenso wenig in einer Welt, die in ihr eigenes Verständnis zurückzukehren drängt, mehr eine bloße Naturtatsache und ein für das Leben des Geistes irrelevantes Geschehen sein kann.[ii]  Auch er ist in unserem Leben zur reinen Frage geworden. Was kann der Tod, die absolute Grenze unseres Daseins, uns bedeuten in einer nicht mehr im Glauben verbundenen, nicht mehr heilsfähigen Welt?

Wir wissen dies und nichts als dies: wir sind gefordert. Wir wissen kein Woher und kein Wohin: wir wissen einzig um die Forderung des Jetzt und Hier. Dies ist für uns der Sinn unseres Todes: daß allein das Jetzt und Hier, allein dieser kurze verlöschende Augenblick über den ewigen Sinn unserer Existenz entscheidet. Tod bedeutet für uns die Konzentrierung auf unsere eigenste Zeit: auf diesen einen, unseren geschichtlichen Augenblick. Wir wissen nichts mehr von Ewigkeit im Sinne eines Einst, von Verwerfung und Gnade eines außerweltlichen Gottes. Wir wissen von Ewigkeit nur als von unserer Grenze – von Verwerfung und Gnade nur als von dem jähen Stoß an unsere Grenze und als von dem Ruck, den unsere Existenz in diesem Stoß empfängt.

 Aber damit ist der Tod wieder zu unserem Tod geworden: zur Selbstverantwortung unseres Daseins, zum Einsatz unserer Zeit in eine unbegreifliche Ewigkeit, zum Einsatz unseres Lebens in ein Unverstandenes, um dessen Verständnis wir als um unser eigens ringen.

Kein Rätsel ist damit gelöst – keine Verbundenheit neu begründet. Die Einsamkeit sich selbst verantwortenden Daseins ist damit nur vertieft. Denn die Verbundenheit im rein Geschichtlichen bedeutet für den letzten Punkt der vor sich selbst verhüllten Existenz, der nichts gegeben ist als der Anstoß, absolute Einsamkeit. Gemeinsam ist allem Dasein nur das Allereinsamste, dessen radikale persönliche Einsamkeit kein Bild des Lebens mehr verschleiert: der Tod. In ihm wissen die Einsamkeiten um einander; in ihm verstehen sie sich; in ihm sind sie eins. Aus dem Tode leben, aus ihm sein persönliches Dasein gestalten – und welche andere Gestaltung des Lebens umschlösse die volle menschliche Verantwortung? – heißt in der letzten persönlichen Einsamkeit die tiefste Identität alles Daseins ergreifen.

Es ist dies uralte Wissen, das in unserer Zeit auf neuen Wegen sich selbst wieder zu erfassen strebt. Die große Welle des geschichtlichen Lebens strömt in uns gegen sich selbst zurück. Die Fragen nach Leben und Tod schäumen im Herzen der Zeit neu empor, und der geschichtliche Augenblick, in den wir hineingestellt sind, gibt uns allein die Antwort, die wir selber sind.

 



              i.        Bernhard Groethuysen hat in dem ersten Band seines Werkes „Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich“ das Todeserlebnis des christlichmittelalterlichen im Gegensatz zu dem des modernen Menschen mit bezwingender Kraft dargestellt.

            ii.        Franz Rosenzweig hat in seinem „Stern der Erlösung“ den persönlichen Tod als Ausgangspunkt aller Philosophie – Martin Heidegger hat in seinem Buch „Sein und Zeit“ den Tod und „das Vorlaufen zum Tode“ als den Quell aller existenziellen Selbstbesinnung erschlossen.