Trost

 

In: Der Morgen, Heft 6 (September 1934)

 

Tröstet, tröstet mein Volk! spricht euer Gott (Jes. 49, I)

 

In der Malerei unseres Jahrhunderts finden sich, bevor sei ganz ins Gegenstandslose verläuft, vielfach Gebäude mit schliefen schwankenden Mauern, ganze Straßenzüge, deren Festigkeit wie von einem geheimen Erdbeben erschüttert scheint; nichts in dieser Architektur scheint mehr festzustehen; die gerade Linie ist wie verfemt; sie scheint dem Gesichtsbild dieser Zeit nicht mehr zu entsprechen. und wie mancher mag wirklich in den Jahren seit dem Ausbruch des Weltkrieges mit ihren ungeheuren Verschiebungen und Erschütterungen, wenn er durch die Straßen seines Heimatstadt ging, bis zu visueller Deutlichkeit des Gefühl gehabt haben, als ständen die altvertrauten Häuser und Straßen nicht mehr fest, als löste sich alles um ihn her auf und drohte mit Einsturz.

Wir alle wissen: unsere Zeit steht an der Schwelle neuer geschichtlicher Geburten, im Untergang alter Ordnungen. Alles verschiebt sich und drängt zu neuen fremdartigen Lösungen. Vieles, was noch jüngst unmöglich schien, ist wirklich geworden. Wir stehen unter dem unerbittlichen Zwang der Stunde. Neues und Entscheidendes wird von uns gefordert. Schwere, verwirrende Probleme tauchen herauf und verlangen eine Lösung. Die Perspektiven ändern sich; der Boden scheint unter unseren Füßen zu weichen; das geistige Firmament über unseren Häuptern verschiebt sich; die Gestirne rücken im Wandel der Weltstunde an einen anderen Ort.

So erfahren wir heutigen Menschen in einem Ausmaß, wie es die Zeiten, die hinter uns liegen, nicht kannten, was Geschichte ist. Denn das ist in letzter Tiefe nur zu erfahren um den Preis aller menschgeschaffenen Sicherungen, die immer die Grundwahrheit des geschichtlichen Daseins verhüllen. Wirkliche Geschichte tritt nur über die Schwelle unseres Lebens in den Augenblicken, wo alle menschlichen Wahrheiten und Gewißheiten, alle rein gedanklich festgelegten Werte, alle allgemeingültigen, objektiven Systeme des Geistes zerfallen. Denn dann erst offenbart sich, daß die Geschichte zwar von Menschen gemacht wird, aber sich nicht im Menschlichen erschöpft, daß in ihr eine Gesetzlichkeit sich auswirkt, die vom Menschen mit ungeheurer Wucht erfahren wird, aber seinem Erkennen nicht erfaßbar ist. Es ist die Wahrheit dieser Erfahrung, die die Prophetie den Menschen offenbart. Darum kamen die Propheten, die größten Geschichtskünder und Deuter aller Zeiten, zu den Menschen nicht in klaren, sinnerfüllten, religiösen, sondern in irreligiösen, verirrten, abgefallenen Zeiten, die ihre Wahrheit nicht mehr zu finden wußten. Wenn der Sinn und die Wahrheit verloren gegangen sind, dann erscheint der Prophet. Denn die Wahrheit, die er bringt, reiht sich nicht in die Wahrheiten des menschlichen Erkennens ein; sie ist nicht allgemeine, objektive, abgelöste Wahrheit des Geistes, nicht gedankliches System, nicht metaphysische Schau oder Überschau; – sondern sie ist konkrete geschichtliche Wahrheit, die zu dem bestimmten Menschen dieses geschichtlichen Augenblicks gesprochen, auf ihn und seine Situation lebendig bezogen, und dennoch, eben weil sie Wahrheit ist – nicht über ihn hinweg, aber durch ihn hindurch – von Ewigkeit zu Ewigkeit gesprochen ist. Es ist die Wahrheit, von der es im Buch Hiob heißt: „Sie wird nicht gefunden im Land der Lebendigen.“ Denn diese Wahrheit ist nicht da, ist nichts Gegebenes, nichts Vorhandenes, nichts, das vom Menschen gefunden werden könnte; sie kann nicht mit den Augen erblickt, nicht mit dem Geiste erschlossen werden; darum muß jede wie immer geartete Geschichtsphilosophie vor ihr versagen. Sondern, so heißt es weiter: „Tod und Verdammnis haben mit ihren Ohren ihr Gerücht gehört. Gott weiß den Weg dazu und kennet ihre Stätte.“

Der Inbegriff der geschichtlichen Wahrheit ist das unaufhörlich durch alles menschliche Tun und Gestalten hindurchbrechende Gericht Gottes über alles Menschliche. Der Sturm des göttlichen Weltgerichtes, der in der Prophetie durch Israels Geschichte braust, vor dem Länder und mächtige Reiche vergehen wie Staub, dieses ungeheure Gericht einer rein von Gott bedingten Geschichte, ist die Urordnung alles geschichtlichen Daseins überhaupt. Aber Tod und Verdammnis haben nur das Gerücht dieser Wahrheit gehört; Gott allein weiß den Weg zu ihr; von ihm allein kommt ihre Offenbarung. Es ist dieselbe in der Geschichte dunkel und unfaßlich aufbrechende Wahrheit, die in der Sinaioffenbarung für die Menschen vernehmbar aufgefangen ist im göttlichen Gesetz. Diese Wahrheit ist nicht Erkenntnis, sondern Befehl. Nicht daß wir die Worte verstehen, sondern daß wir sie erfüllen, ist ihr Sinn. Und was es bedeutet, sie in Wahrheit zu erfüllen, das erfahren wir wiederum nur in den Augenblicken, in denen der Grund, den wir uns geschaffen hatten, unter unseren Füßen einbricht. Denn dann stürzen wir hinab in die Tiefe unseres eigenen Grundes, in das dunkle Chaos unseres Menschseins, das mit allen unseren Kräften zu lichten und zum reinen Menschentum zu formen, uns durch das Gesetz Gottes aufgegeben ist. Dann beginnen wir, all unsere Begriffe, unser Sein und Tun, das uns in stilleren Zeiten selbstverständlich geworden war, nachzuprüfen; dann erschrecken wir aufs neue wie die Menschen, die zuerst die Offenbarung vernahmen, vor der Übergröße ihrer nie erfüllten Forderung. Dann erfahren wir die ganze Schwere unserer menschlichen Situation: daß wir, winzige Lebensfünklein, die wir sind, ausgestreut in eine Unendlichkeit des Todes, dennoch vor der Unendlichkeit des Lebens, die über uns hereinbricht, mit allem, was wir sind und tun, uns verantworten müssen. Denn unsere Geschichte wäre nicht Gericht, wenn unser Leben nicht Verantwortung wäre. Aus dieser überschweren Lage des Anspruchs der Unendlichkeit an unser flüchtiges endliches Menschendasein entspringt der Aufschrei Hiobs, millionenmal laut und schweigend von Menschenlippen wiederholt: „Willst Du wider ein fliegendes Blatt so ernstlich sein und einen dürren Halm verfolgen?“

Aber Gott ist ernstlich wider das fliegende Blatt. Und daß er ernstlich ist, das bedeutet seine Erwählung. Der Ernst Gottes ist das Siegel unserer menschlichen Existenz. Durch ihn, und nur durch ihn, sind wir von dem fliegenden Blatt unterschieden. Darum haben die Propheten von der Wahrheit Gottes nicht im Rausch des Geistes, nicht in der Beseligung des Schauenden und Erkennenden, sondern widerstrebend, angstvoll, gezwungen und bezwungen, als von etwas Furchtbarem gezeugt. Es gibt kein schwereres Los, als Zeuge der lebendigen Wahrheit zu sein. Was alles haben die Menschen ersonnen, geschaffen, gestaltet, um sich gegen diese Wahrheit, die der Ernst Gottes für den Menschen ist, zu schützen, zu verrammeln, sich die Ohren zu verstopfen gegen ihr übermächtiges Dröhnen! Darum steht am Anfang des Gesetzes das „Höre Israel!“ – dieser Aufruf, wie er in der ganzen Menschengeschichte nur dies eine Mal erklungen ist. Denn diesem Aufruf zum Einen gegenüber gibt es kein Schauen und Erkennen, kein Schaffen und Bilden, sondern nur Horchen und Gehorchen. Nicht an den Geist und seine Vielfalt ergeht dieser ungeheure Aufruf zum Einen; – er ergeht an das Herz und seine Einfalt. An das Herz nicht im Sinne des welchen fühlenden Organes, sondern an das gewaltige pochende Mysterium des Menschendaseins, das mit jedem seiner Schläge in seinem winzigen Raum alle Lebensströme sammelt, keinen Tropfen über seinen Rand rinne läßt und sie alle verwandelt und erneuert wieder aus sich entläßt. An diese ungeheure zentrale Kraft zur Einigung und Erneuerung des gesamten Lebens wendet sich die Wahrheit der Prophetie.

Darum entsprechen den übergroßen prophetischen Visionen von der Endzeit – diesen überschwenglichen Bildern von der Einen im Frieden geeinten, gottebenbildlichen Menschheit – als Taten, die zu ihrer Verwirklichung von den Menschen verlangt werden, nicht heroische Kämpfe, gewaltsame Eingriffe, machtvolle schöpferische Umgestaltungen der Welt, sondern ihnen entspricht das Allerschlichteste: die Forderung der Gerechtigkeit, der einfachen menschlichen Güte. Und alle Drohungen göttlicher Strafgerichte, grausamster Verwüstungen und Zerstörungen gelten allein dem Unterlassen der Erfüllung dieser Forderungen an das menschliche Herz, dem die Einigung alles Lebens anvertraut ist. Denn wohl wissen die Propheten, daß diese schlichten, nichts als menschlichen Forderungen die schwersten aller Forderungen sind. Einfalt ist das Allerschwerste. „Einfältig wandeln mit deinem Gott“, ist das größte überschwenglichste Gebot. Die dunkle rätselvolle Geschichte des jüdischen Volkes hat ihre Wurzel in der überschwenglichen Schlichtheit dieser Forderung.

Um ihretwillen ist Israel in das Leid gestellt. Die Propheten verkünden dem Volk, daß es auserwählt ist zum Leid. Gott hat es geprüft und immer wieder geprüft, ob die Kraft seines Herzens seiner Sendung gewachsen sei. Darum ist seine Stellung zum Leid anders als die der anderen Völker. Alle Menschen leben im Leid; aber alle haben sie sich Auswege, Waffen, Gestaltungen, Verklärungen dieser Lege geschaffen. Israel allein bleibt wehrlos, gebunden, bis ins Innerste verpflichtet in seinem Leide stehen. Niemals hat es eine Verklärung dieser Lage, einen Ausweg aus ihr angenommen. Es hat sie als die Wahrheit seines Lebens ganz, ohne Abzug und Verwandlung auf sich genommen bis zum Letzten.

Denn wohl leiden alle Menschen; Israel aber ist auserwählt zum Leiden. Das bedeutet eine einzigartige Bejahung des Leides. Eine Bejahung: nicht im Bild, im Gleichnis, im tragischen Spiel, noch auch um der metaphysischen Selbstauflösung willen, sondern eine Bejahung in der gelebten Wirklichkeit des Lebens selbst, ein

Aufsichnehmen des Leides. Der Jude, der leidendste Mensch der Welt, ist kein Pessimist. Er verleumdet das Leben nicht um des Leides willen. Die Schwermut, das Verfallen an das Leid und seine Dämonie, ist ihm als die größte Sünde verwehrt. Niemals hätte das schwermütige griechische Wort: „Das Beste wäre, nie geboren zu sein“, über eines jüdischen Menschen Lippen kommen können. Denn das Geborenwerden ist die Vorbedingung zur Erlösbarkeit. Durch die Geburt eines Menschen, sein Wandeln durch Leben und Tod, durch Schuld und Leid soll ein Stück der Schöpfung mehr der Verantwortung, des Gerichts und damit der Erlösung teilhaftig werden.

Und damit bricht im jüdischen Dasein eine Quelle auf, die in dieser überschwenglichen Fülle und Süßigkeit kein anderes Volk der Welt kennt: Trost. Was Trost ist, was er sein kann, erfahren wir nirgends in so reine Vollendung wie in der Prophetie und in den Psalmen. Auch der Trost wendet sich nicht an den Geist und seine schöpferische Fülle; auch er wendet sich allein an das Herz. Er weiß das Herz im Mittelpunkt zu treffen, obwohl er ihm keine Hülfe bringt. Trost ist nicht Hülfe. Das Leid wird durch ihn nicht gehoben. Trost ist auch nicht Katharsis, nicht Verzückung, nicht Entrückung, nicht Ekstase, nicht Rausch, nicht Betäubung, nicht mystische Verwandlung; er ist keine der Formen, in denen der Mensch dem Unerträglichen entflieht. Der Trost beläßt den Menschen in seiner Situation. Er ist nicht einmal Verheißung einer Änderung für die Dauer des persönlichen Lebens. Trost ist auch keine Verhüllung, keine Verkleinerung des Leides. Er ist seine Bestätigung, – Bestätigung, Wertung seiner Größe. Aber es ist eben damit Bezeugung einer Gegenwart, durch die es aufgenommen ist.

„Ich haben mein Angesicht im Augenblick des Zorns ein wenig vor dir verborgen; aber mit ewiger Liebe will ich mich deiner erbarmen, spricht der Herr, den Erlöser.“ Ohne diesen Trost wäre Israel nicht mehr. Trost ist Leiden im Angesichte Gottes, Gewißheit der göttlichen Gegenwart in dem Augenblick, wo das Leiden in seiner Hochblüte steht. „Ich will euch trösten, wie einen Mann seine Mutter tröstet“, – in diesem Wort voll schmerzlicher Süßigkeit gibt Gott seinem Volke die Gewißheit, daß sein Leid aufgenommen ist, daß er nah, ganz nah bei ihm ist und das er um sein Leiden weis wie es selbst. Von Menschen weiß niemand in so naher schmerzlicher Tiefe wie die Mutter um das Leiden ihres Kindes, das nicht wäre, wenn sie das Leiden des anderen in das eigene Leben aufzunehmen. Das aber ist Trost. Darin die mütterliche Leibe Gleichnis der göttlichen.

Aber nur Gleichnis. Der göttliche Trost bedeutet noch etwas anderes als jeder menschliche. „Du Elende, über die alle Wetter gehen, und du Trostlose“, spricht Gott durch den Propheten zu seinem Volk, „Siehe, ich will deine Steine wie einen Schmuck legen, und will deinen Grund mit Saphiren legen ... Du sollst durch Gerechtigkeit bereitet werden, du wirst ferne sein von Gewalt und Unrecht.“ Gott gibt seinem Volk kein irdisches Versprechen; aber er gibt ihm den überschwenglichen Trost, daß dies sein großes Leid vor Gott sein Schmuck und seine Krone sein soll, weil es um des Rechts und um der Gerechtigkeit willen gelitten ist.

Darin liegt die Übergröße des göttlichen Trostes; er ist die Verheißung, daß das Herz, das Werkzeug aller einigenden Liebe, Sinnbild und Vollstrecker der göttlichen Gerechtigkeit, siegen soll über seine von Kämpfen der Geister und Leiber zerrissene Welt. In diesem Trost nimmt Gott sein Volk selbst an sein Herz, damit das arme gequälte Menschenherz in sich den Schlag des göttlichen Herzens spüre, der die Gewalt der Liebe und Gerechtigkeit selbst ist.

Und so geschieht das Wunderbare: das Leid selbst wird zum Trost. Und damit braust aus den untersten Tiefen des jüdischen Lebens ein Strom herauf, wie ihn wiederum in solcher Gewalt und Fülle kein anderes Volk der Welt kennt: die Freude. Der Jude kennt als solcher nicht das Glück, die volle Erfüllung des persönlichen Daseins; aber er kennt die Freude, das brausende Überströmen des Herzens in das Ganze des Lebens. Freude, die die reine Realisierung des göttlichen Trostes, die der Überschwang des Herzens selbst ist, wenn es sich im Lebensganzen findet, aufgenommen in das göttliche Gesetz der Welt, dem es sich mit jedem seiner Schläge öffnet und das es in sich selbst lebendig vollzieht. Freude, Gesetzesfreude, wie sie in Davids Tanz vor der Bundeslade überwältigte und überwältigende Gestalt gewinnt, wie sie in Worten nirgends gewaltiger aufbraust als im achtundneunzigsten Psalm: „Jauchzet dem Herrn alle Welt, singet, rühmet und lobet! – Lobet den Herrn mit Harfen, mit Harfen und Psalmen; – Mit Trompeten und Posaunen jauchzet vor dem Herrn, dem Könige! – Das Meer brause und was darinnen ist; der Erdboden und die darauf wohnen. – Die Wasserströme frohlocken, und alle Berge seien fröhlich – Vor dem Herrn; denn er kommt, das Erdreich zu richten. Er wird den Erdboden richten mit Gerechtigkeit und die Völker mit Recht.“

Dieser Jubel übersteigt alles irdisch Faßbare. Der Gerechtigkeit, dem Gericht selbst, das alles irdische Dasein richtet, jauchzt die Welt entgegen. Weil es gerechtes Gericht, rechtschaffendes Gericht des gerechten Richters ist, darum wirft sich die Welt jubelnd in seine Arme. Diese Worte bedeuten: „Richte mich, vernichte mich, und ich jauchze Dir entgegen.“ Aber sie bedeuten nicht das kahle „Fiat justitia, pereat mundus“; die Welt soll nicht vergehen vor dieser Gerechtigkeit, sie soll durch sie erlöst werden. Denn sie ist göttliche Schöpfung. Das Gesetz ist ihre Grundlage, wie es ihre Erlösung ist. Darum soll das Meer brausen und der Erdboden, die Wasserströme frohlocken und alle Berge fröhlich sein, weil auch in ihnen der Schlag des göttlichen Herzens zittert, weil Gott auch ihnen das Gesetz unterlegt hat, durch das er alles der Gerechtigkeit, des Gerichts und damit der Erlösung fähig und teilhaft werden lassen will.

Das ist die reine Gesetzesfreude des jüdischen Herzens: Jubel, brausender Jubel über das eigene dunkle Schicksal hinweg in das Licht der göttlichen Wahrheit. Das ist Trost, wie er dem leidendsten Volke, wie er dem leidendsten Menschen, Hiob, geschieht, als auf sein brennendes Ringen um die göttliche Gerechtigkeit Gott selbst im Donner seiner Schöpfung an ihm vorüberzieht. Das Leiden ist zu dieser Stunde nicht gehoben; aber es ist aufgenommen in den Sinn der göttlichen Schöpfung.

Die Gewalt dieses göttlichen Trostes ist Wahrheit des Alten Testaments, übergroße, überferne, für uns tausendfach verdeckte Wahrheit. Wir heutigen Menschen leben in einer anderen Welt. Kann dieser Trost auch für uns durch die ganze Wahrheits- und Gesetzeszerstörung der europäischen Welt gegangene Menschen, deren Weltbild schwankt und zu zerrinnen droht, noch Wahrheit sein? Trennt uns nicht von ihm ein Verlorensein an das Viele, ein Zweifeln und Verzweifeln am Einen, das eins ist mit dem Vertrauen und auf gott- und menschenfremde Gesetze, das uns Dämonen ausliefert, die das Göttliche verzehren und über das Menschliche hinweggehen? –

Nichts ist verändert, nichts an der großen Gesetzlichkeit der Schöpfung, nichts an dem lebendigen Schlag des menschlichen Herzens, das, ob wir es vernehmen oder nicht, im selben ursprünglichen Gleichtakt mit dem göttlichen schlägt. Zu blinden und schwerhörigen Menschen sprachen auch die Propheten, wenn auch die Ausmaße der Blendung und des Getöses in unserer Zeit weit gewaltiger geworden sind. Aber unerreichbar, überschwenglich war die Wahrheit Gottes zu allen Zeiten. Niemals war sie da, niemals wurde sie gefunden im Lande der Lebendigen. Niemals war sie zu ergreifen ohne die Entscheidung des Menschen; immer mußte sie mit allen Kräften des Seins und Tuns aus dem ungeheuren Wirrwarr der Stimmen und Kräfte um uns her herausgerissen werden. Tod und Verdammnis haben von je ihr Gerücht gehört; aber Gott, der allein den Weg zu ihr weiß, hat sie auch für alle Zeiten den Menschen offenbart. Tod und Leben drücken zu allen Zeiten eine gleiche göttliche Gesetzlichkeit aus. Der Anruf Gottes an den Menschen ergeht von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Schwer und dunkel ist das Geschehen. Nah ist uns allen der Abgrund. Aber ist uns dadurch nicht auch die Wahrheit wieder näher? Verstehen wir heutige Menschen nicht wieder in einem neuen Sinne, was Leben, was Leiden, was Geschichte, was Abgrund, Tod und Verdammnis sind? Niemals war einer Zeit der Sinn alles geschichtlichen Daseins gewaltiger offenbar als der unseren. Glücklichere und dumpfere Zeiten, in denen der Abgrund überdeckt, das Chaos gestaltet, verhüllt, bezwungen ist, rühren nicht so gewaltig an das Geheimnis der Geschichte, haben nicht so deutlich wie wir das Gerücht der lebendigen Wahrheit gehört. Aber damit ist uns auch wieder neu das Herz geöffnet für den göttlichen Trost: „Ich, ich bin euer Tröster. Wer bist du denn, daß du dich vor Menschen fürchtest, die doch sterben.“

Im vergangenen Frühling, als alles noch neu und unbegreiflich war, fand die Beerdigung einer Frau statt, die sich in der Verzweiflung das Leben genommen hatte. Der Geistliche sprach über dem Sarge einige kurze warme persönliche Worte. Dann las er Dankpsalmen, Jubelpsalmen, lauter Lobpreisungen Gottes. Damals wurde alles still. Die Häuser, die Bäume hörten auf zu schwanken. Die Gegenstände kehrten in ihr Sein zurück. Die reinen Schöpfungsreihen, die klare Gestalt der Dinge trat ans Licht. Die Ewigkeit hielt alles mit starken Armen fest. Damals war uns der Trost Gottes so nahe, daß sein Gewand uns streifte.